Die jüngste Abstimmung über das Covid-19-Gesetz beunruhigt. Sie bringt eine immer deutlicher werdende Verwerfung in unserer Gesellschaft zum Vorschein. Ein Drittel der Schweizer Bevölkerung zweifelt die staatlichen Interventionen an, widersetzt sich ihnen, ein Teil dieses Drittels will sogar eine «Parallelgesellschaft» einrichten. Man beginnt – wie dies ein Leitartikel in der jüngsten NZZ-Ausgabe dokumentiert – an der Urteilskraft gewählter Politikerinnen, aber auch an helvetischen Grundfesten zu zweifeln. Wie die amerikanische Rock-Band «Buffalo Springfield» 1967 so schön sang: «There is something happening here. What it is ain’t exactly clear.»
Eine Form von gesellschaftlicher Unbehaustheit greift Platz. Libertäre Protestler erklären, dass ihnen die Staatsordnung zu fremd, fern und undurchsichtig geworden sei und dass sie deshalb die «warme» Gemeinschaft der «kalten» Gesellschaft vorzögen. Man hört von Politikern, sie fühlten sich in keiner etablierten Partei mehr heimisch. Ein Vordenker des Konservatismus, der amerikanische Soziologe Robert Nisbet, prägte dafür den Begriff der «Entfremdung»: «Unter Entfremdung verstehe ich eine Gemütsverfassung, die eine Gesellschaftsordnung als fern, unverständlich oder betrügerisch empfindet: jenseits realer Hoffnungen und Wünsche, ein Anlass zu Apathie, Langeweile und sogar Feindschaft. Das Individuum fühlt sich nicht als Teil der sozialen Ordnung, mehr noch, es hat das Interesse verloren, ein Teil davon zu sein.» Das könnte eine gegenwärtige Situationsschilderung sein: Soziale Distanz anstelle von Nähe, Masken anstelle von Gesichtern, Bildschirme anstelle von Räumen. Die Pandemie zwang und zwingt viele Leute zum Rückzug aus der physischen Welt in die antisoziale Ersatz-Sphäre des Virtuellen, zum Dasein des Paria im Heimischen.
Molekulartheorie der Gesellschaft
«Ich mag Individuen sehr», bemerkte Nisbet einmal, «Leute kann ich nicht ausstehen.» Das sollte später zu einem geflügelten Wort werden, im Mund von Margaret Thatcher: So etwas wie Gesellschaft gibt es nicht. Die britische Premierministerin brachte damit ein soziologisches Modell auf eine Kurzformel, das man Molekulartheorie der Gesellschaft nennen könnte. So wie für den Chemiker Wasser ein Aggregat von Molekülen ist, so betrachtete Thatcher die Gesellschaft als ein Aggregat von sozialen «Molekülen», die sich dann und wann assoziieren, dann und wann dissoziieren – dies nach eigenen Gesetzen, jenen des ökonomischen Laissez-faire. Thatchers Satz, es gebe kein Ding wie Gesellschaft, könnte in die Chemie des Wassers übersetzt lauten: Es gibt nur Wassermoleküle und ihre Wechselwirkungen, aber es gibt kein Ding wie Wasser.
Für wie absurd man diese Gesellschaftstheorie halten mag, sie schuf die Welt, in der wir heute leben. Und in ihr stimmt die Chemie nicht mehr. Sie befeuert gleichzeitig das Misstrauen in den Staat und das Vertrauen in die «echten» sozialen Bindungskräfte. Was zu einer sozialen «Agglutination» führen kann, also zu einer fortgesetzten Bildung gesellschaftlicher Klumpen mit total heterogenen Interessen und Weltanschauungen: Online-Communities.
Konvergenz von Technologie und Gesellschaft
Diesen Prozess befördert natürlich die Netzkultur, das heisst, die Konvergenz von Technologie und Gesellschaft. Internet und Alltagsleben, virtuelle und reelle Räume verschmelzen zunehmend. Das neue soziale Molekül heisst Person-plus-Smartphone. Twitter und Facebook sind soziale Maschinen, die das alte Bindegewebe tendenziell ersetzen. Es lässt sich durch Technologie verbessern. Zumindest ist das die Vision der Sozialingenieure und Techno-Oligarchen. Zuckerberg saftet ja nur so von solchen Verheissungen. Das Internet befreit uns von allen physischen Beschränkungen und Belastungen, auch vom Staat. Diese Vision erreichte ihre Klimax schon 1996, in der bizarr-beschwipsten «Unabhängigkeitserklärung des Cyberspace» von John Perry Barlow: «Regierungen der industriellen Welt, ihr müden Riesen aus Fleisch und Stahl, ich komme aus dem Cyberspace, dem neuen Zuhause des Geistes. Als Vertreter der Zukunft bitte ich euch aus der Vergangenheit, uns in Ruhe zu lassen. Ihr seid nicht willkommen unter uns. Ihr habt keine Souveränität, wo wir uns versammeln.» Klingt bekannt.
Dialektik des Fortschritts
Das Techno-Magazin «Wired» sagte 2000 voraus, das Internet würde alle Zerrissenheiten der USA im Besonderen, der Welt im Allgemeinen heilen: «Wir sind, als Nation, gebildeter, toleranter, miteinander verbundener, wegen – und nicht trotz – der Konvergenz von Internet und öffentlichem Leben. Partei, Religion, Geographie, Rasse, Gender und andere traditionellen politischen Trennungen geben einem neuen Standard nach: dem Verschaltetsein («wiredness») als organisierendem Prinzip sozialer und politischer Haltungen.» Selten war eine Prognose verpeilter.
Denn es gibt eine Dialektik des Fortschritts. Meines Erachtens ist das Erschlaffen des gesellschaftlichen Gewebes ein Aspekt dieser Dialektik. Die Pandemie führt sie uns brutal vor Augen. Wir durchleben eine soziale Krise. Einsamkeit, Distanzierung, Polarisierung, Misstrauen, Ungewissheit, Verdacht, Verunglimpfung, Unterstellung sind Symptome. Und in dieser Situation gewinnt Thatchers Satz auf unheimliche Weise an neuer Aktualität. Es zählen nur die Bindungskräfte des «Stammes»: der Stammtischpokulierer, Partywölfe, Konspirationisten, Urschweizer, wissenschaftlichen Analphabeten, Naturfrömmler. Man verbittet sich staatliche Einmischungen «von aussen». Man kündigt, wie ein Leserbriefschreiber bemerkte, den Gesellschaftsvertrag. Trotzköpfigkeit als neue Bürgertugend führt zu seltsamen unheiligen Allianzen. Auf der Strasse sieht man Esoteriker und Friedensaktivisten in «ungeschützter» libertärer Eintracht mit Reaktionären und Querdenkern gegen die drohende Diktatur des Staates protestieren.
Etatismus als Drohkulisse und als Realität
Im Aufbau der Drohkulisse sekundiert ein Schreckgespenst von anderer Seite. Ein scharfzüngiger und scharfdenkender Doyen der liberalen Publizistik warnt vor «schleichendem Etatismus», der eine stetig wachsende Klasse von unproduktiven Staatsangestellten, Sozialwissenschaftlern und Medienschaffenden hervorbringe, alle am Tropf der Steuergelder von braven produktiven Bürgern hängend. Der Chef von Avenir Suisse greift – wie zeitsensibel! – zur toxikologischen Metapher: «das süsse Gift des Etatismus». Hat er sich einmal überlegt, wo wirkliche etatistische Gefahr droht? Top-Ideologen der kommunistischen Partei Chinas feiern den Staat als «wahren» Ort der Souveränität, der Selbstlegitimierung und Quelle des höchsten Guts. Sprich: Zusammenhalt und Stabilität durch das totalitäre staatliche Stützkorsett. Kaum verwunderlich, dass das Regime auf perfektionierte Sozialtechnologie setzt. Aber künstliche Intelligenz schützt nicht vor sozialer Fäulnis oder Nekrose.
Weg vom «Körper» der Gesellschaft
Der Biochemiker und Essayist Erwin Chargaff umschrieb die Dialektik des Fortschritts einmal bündig so: «Der Fortschritt ist immer auch ein Wegschritt.» Man muss deshalb fragen: Wovon bewegen wir uns weg? Ich wage eine hypothetische Antwort. In Kurzfassung lautet sie: Wir bewegen uns weg vom «Körper» der Gesellschaft. In der längeren Fassung: Die Gesellschaft ist ein lebender Körper. Soziale Interaktion braucht die Basis physischer Interaktion. Das Bedürfnis danach zeigen die Einschränkungen des Lockdowns dramatisch. Die Menschen wollen «hinaus», weg vom Bildschirm; sie wollen in die Bar, in den Club, ins Museum, ins Theater, ans Fussballspiel, an die Versammlung, sie wollen neben der elektronischen die kutane Nähe des anderen, neben der Textbotschaft die mündliche. Sie wollen nicht Bewohner eines immateriellen Phantomreichs sein, sondern hinaustreten in die Alltäglichkeit des «materiellen» sozialen Lebens. Und dieses Leben müssen wir jetzt, im epidemiologischen Krisenmodus, erst wieder trainieren. Es beruht auf dem Bindegewebe der Solidarität – einer je persönlichen Mixtur aus individueller Freiheit, sozialer Verantwortung und Verständnis passagerer nötiger Handlungseinschränkungen. Ein solches Verständnis hat übrigens nichts zu tun mit Unterwerfung unter ein Diktat.
«Something’s happening here.» Ich sage nicht: Wir bewegen uns weg von der modernen Gesellschaft. Ich sage: Der Lebensstandard einer wissenschaftlich-technisch avancierten Gesellschaft ist keine Garantie für sozialen Fortschritt. Für diese Lektion sollten wir dem Virus danken.