Der Abzug der letzten amerikanischen Truppen aus dem Irak hat stattgefunden, und er ist in Amerika gefeiert worden. Allerdings mit sehr unterschiedlichen Kommentaren und in kontroversen Rückblicken. Wie die amerikanische Aktion zu beurteilen sei, ist in den USA ein Politikum geworden. Dabei geht es darum, politische Gegner für die Fehler, die geschehen sind, verantwortlich zu machen. Anderseits werden die Erfolge, die man zu erkennen glaubt, den politischen Freunden zugeschrieben. Ausserdem möchten viele Kommentatoren auch die Ehre der amerikanischen Truppen retten, aufpolieren oder schlicht feiern.
Was erreichte der Krieg für den Irak?
Doch die Massstäbe dafür, was wirklich geschehen ist und wie man es zu beurteilen hat, sollte man nicht im fernen Amerika suchen, sondern im Irak selbst. Man kann versuchen, es statistisch zu erfassen, etwa in Zahlen wie den Folgenden:
Gewaltsame Todesfälle im Irak im November 2011: 187. Verglichen mit den gewaltsam Gestorbenen in Afghanistan, Monatsdurchschnitt 2011: 243.
Iraker, die in Elendsquartieren leben: im Jahr 2000: 17 %, gegenwärtig 50 %
Iraker unterhalb der Armutsgrenze: 7 Millionen von total 30 Millionen = 43 %
Todesopfer durch Gewaltakte 2003-2011: 150‘000 bis 400‘000, je nach Rechungsmethode
Alleinstehende Frauen, meist Witwen, die ihre eigenen Familien erhalten müssen: 2 Millionen
Geflohene Iraker nach Syrien: 1 Million
Geflohene Iraker innerhalb des Landes: ca. 1,3 Millionen
Ein Achtel der Geflohenen sind bis heute in ihre Häuser zurückgekehrt.
Korruptionsindex: Von 182 Ländern liegt der Irak auf dem 175. Platz.
(Die Statistik stammt von Juan Cole, Informed Comment - so im Internet zu finden - vom 14.12. 2001, dort findet man auch die jeweiligen Quellen).
Der Diktator wurde entfernt
Die amerikanische Invasion hat erreicht, dass das Regime Saddam Husseins gestürzt wurde. Das Gleiche hätten die Amerikaner allerdings zu einem Bruchteil der Kosten, der Zerstörungen und der Todesopfer zehn Jahre zuvor erreichen können, wenn sie im Februar 1992 nach der Befreiung Kuwaits von den Truppen Saddam Husseins, die damals ausgebrochene Volkserhebung der irakischen Kurden und irakischen Schiiten unterstützt hätten.
Doch damals - unter Bush Vater - beschlossen die Amerikaner, die irakischen Erhebungen nicht zu unterstützen. Damit setzten sie die Betroffenen - Schiiten und Kurden, zusammen drei Viertel aller Iraker - einem Massenmord durch den rachsüchtigen Diktator aus. Die wahrscheinlichen Gründe: Bush Vater wollte 1992 wiedergewählt werden. Deshalb wollte er zuvor die Irak-Episode zu einem Abschluss bringen. Er wurde dann allerdings doch nicht wiedergewählt...
Die gegenwärtigen Demokratieansätze
Das ist Geschichte. Für die Gegenwart zählt die Frage: Gibt es nun im Irak eine Demokratie und ist sie, falls es sie gibt, überlebensfähig?
Die irakische Demokratie wird vom schiitischen Politiker Nuri Maleki beherrscht. Er hat zwar stimmenmässig nur eine knappe Hälfte der Iraker hinter sich. Es gelang ihm aber, in überaus zähen, neunmonatigen Koalitionsverhandlungen Ende 2010 eine Regierungskoalition zu bilden. Darauf wurde eine Regierung gebildet, in der er als Ministerpräsident fungiert. Neben dem Amt des Regierungschefs ist er „interimistisch“ auch Innenminister, Verteidigungsminister und Sicherheitsminister. Er besetzt also alle Positionen, um bewaffneten Kräften im Land die Stirn zu bieten.
Die Kluft zwischen Schiiten und Sunniten
Allerdings gibt es immer noch mehrere nicht-staatliche Gruppen, die über Waffen verfügen. Sie sind darauf aus, mit Gewaltaktionen den Staat zu erschüttern. Die meisten dieser Gruppen bestehen aus Sunniten. Sie sind darüber empört sind, dass heute Schiiten den irakischen Staat beherrschen, was in der Zeit vor dem amerikanischen Eingriff weitgehend ihr Monopol gewesen war.
Der Umstand, dass die entscheidenden Ministerien der Staatsgewalt alle vom schiitischen Ministerpräsidenten dirigiert werden und dass er sie weitgehend mit eigenen Parteigängern besetzt, trägt dazu bei, dass eine Versöhnung zwischen den beiden Religionsgruppen bis heute nicht wirklich zustande gekommen ist.
Ungelöste politische Grundfragen
Die parlamentarische Basis, auf der das Maleki-Regime ruht, ist so dünn, dass die Regierung nicht in der Lage ist, die konstitutionellen Grundprobleme anzupacken. Diese wurden seit dem Beginn des von den Amerikanern herbeigeführten demokratischen Regimes immer wieder zurückgestellt, weil sie schwierig zu lösen waren.
Die Kurdenfrage zeigt dies sehr deutlich. Die Kurden bilden heute einen Staat im Staate mit ihren eigenen Truppen, den Peshmerga. Sie sind aus dem Widerstand gegen Saddam Hussein gross geworden, doch entstanden sind sie schon viel früher.
Den eigenen autonomen Staat wollen sich die Kurden auf jeden Fall und um jedem Preis erhalten. Doch wo genau liegen die Grenzen Kurdistans? Darüber streiten Kurden und das zentrale Parlament in Bagdad. Ebenso ist unklar, welche Kompetenzen die kurdische Regierung in Erdölfragen besitzt, wenn die Erdölvorkommen auf kurdischem Gebiet liegen. Ist die Zentralregierung von Bagdad oder die lokale kurdische zuständig?
Eine unvollendete Verfassung
Diese Fragen wurden in der ursprünglichen Verfassung von 2005 offengelassen. Sie hätten nach den Verfassungsbestimmungen längst gelöst werden müssen. Doch ihre Lösung wurde immer vertagt, weil die regierenden Koalitionen die kurdischen Abgeordneten als Koalitionsmitglieder benötigten. Diese aber drohen, die jeweilige Koalition zu verlassen und die Regierung zu Fall zu bringen, wenn die Anliegen der Kurden abgelehnt würden. Die Zentralregierungen und Parlamente, die bisher gewählt worden sind, wollten den Anliegen der Kurden jedoch nicht ausdrücklich zustimmen. So blieben diese Grundfragen ungelöst, obwohl sie seit Jahren hätten gelöst werden müssen.
Dies ist auch unter Maleki der Fall. Seine Koalition braucht die Kurden, doch seine Politik geht darauf aus, den Kurden enge Grenzen zu setzen, besonders in der umstrittenen Stadt Kirkuk, die auf einem wichtigen Erdölfeld liegt, aber auch in anderen umstrittenen Regionen, die teilweise von Kurden und teilweise von sunnitischen Arabern bewohnt werden.
Improvisationen ohne legale Basis
Dies hat bisher dazu geführt, dass die Kurdenfrage nicht legal, sondern nur provisorisch gelöst wurde. Solange die Amerikaner im Land standen, sorgten sie durch gemeinsame Patrouillen von amerikanischen, kurdischen und arabischen Soldaten (in Kirkuk kommt noch eine turkmenische Bevölkerung dazu) dafür, dass die Spannungen nicht in Kämpfe ausarteten. Die De facto-Linien, die die Kurden mit ihren Peshmerga besetzt halten, die jedoch die Zentralregierung nicht als Grenze Kurdistans anerkennen will, werden im Volksmund "the trigger line" genannt. Die Linie, wo man die Finger am Gewehrabzug hält.
Wer fördert das kurdische Erdöl?
Die ungelösten Erdölkompetenzen haben dazu geführt, dass die kurdischen Behörden Suchkonzessionen an verschiedene internationale Erdölgesellschaften vergeben haben. Dazu gehört die grosse Exxon. Doch Bagdad warnt diese Gesellschaften. Solche Konzessionen seien illegal, da es Bagdad und nicht den Kurden zustehe, sie zu vergeben. Auch in diesem Bereich ist jeder Entscheid politisch blockiert. Die Kurden gehören zur Koalition, und Kurden sind auch Mitglieder der Regierung. Ohne sie käme die Maleki-Regierung zu Fall.
Weil die Regierung sich intern uneinig ist, wie die Frage der Erdölkonzessionen in Kurdistan zu lösen sei, sind im Verlauf der Debatten drei verschiedene Kommissionen gebildet worden. Eine hängt vom Erdölministerium in Bagdad ab, eine andere vom Parlament und eine dritte untersteht als Fachgruppe der Regierung. Alle drei sind der Meinung, dass sie über Erdölbelange zu bestimmen hätten.
Zentraler oder föderaler Staat?
Weniger akut als die kurdische Frage, jedoch ebenfalls ungelöst, ist das Problem einer zentralisierten oder einer aus verschiedenen Landesteilen föderierten Staatsstruktur. Offiziell ist der Irak ein föderaler Staat. Doch Bagdad und die dortige Regierung neigen zum Zentralismus. Es gibt aber auch Kräfte, die schiitische und sunnitische Teilstaaten gründen möchten. Diese Fragen wurden offen gelassen wurde, weil keine Einigung zu erzielen war.
Uneingelöste Versprechen gegenüber der Opposition
Weiterer Sprengstoff liegt in der Frage der Behandlung der Opposition. Die heutige Oppositionspartei hat bei den Wahlen von 2009 einen Sitz mehr erhalten als die Regierungspartei Malekis. Doch Maleki gelang es, in überaus zähen Verhandlungen, Koalitionspartner zu finden und auch Politiker der Oppositionspartei in die Regierung aufzunehmen. Der Oppositionsführer, Iyad Allawi, ein früherer Ministerpräsident des Landes während der amerikanischen Besetzung, stimmte nach Monaten zähen Verhandelns der Beteiligung seiner Partei an der Regierung zu. Im Gegenzug erhielt er das Versprechen, ein Sicherheitsrat werde gebildet, den er, Allawi, leiten dürfe. Doch nach der Bildung der Maleki-Regierung kam es nicht dazu. Die Politiker der Opposition, zu denen viele Sunniten gehören (andere Sunniten lehnen es ab, sich überhaupt an den demokratischen Institutionen zu beteiligen), sind dementsprechend verärgert.
Machtkonzentration statt Übereinkünfte
Solche Grundfragen, die zur Zeit der amerikanischen Präsenz ungelöst blieben, werden wahrscheinlich ungelöst bleiben. Maleki kompensiert die Ungewissheit der legalen Ordnung dadurch, dass er de facto möglichst viel Macht auf sich konzentriert, gewiss in der Hoffnung, einmal werde er über so viel Macht verfügen, dass er die konstitutionellen und legalen Lösungen in seinem Sinne herbeiführen kann. Doch solange dies nicht gelingt, dürfte er versuchen, alles in der Schwebe zu halten und einfach wie bisher ohne vollständige Regeln nach seinem Ermessen zu herrschen.
Machtspiele statt Aufbauarbeit
Die grundlegenden, aber nicht gelösten politischen Fragen und der Dauerstreit, der sich um sie dreht, führen dazu, dass die praktischen Aufgaben der Regierung trotz der Vielzahl von Ministern nicht gelöst werden.
Noch immer gibt es nicht genügend Elektrizität, um den Bedarf aller Haushaltungen zu decken. Immer noch fehlt es an Benzin, weil die lokalen Raffinerien nicht genügend Brennstoff herzustellen vermögen. Immer noch ist die Trinkwasserversorgung für grosse Teile der Bevölkerung nicht sichergestellt. Die Sicherheitsprobleme sind nicht bewältigt, wie die vielen tödlichen Anschläge zeigen. Der Reichtum des Landes an Erdöl wird zu grossen Teilen dazu verwendet, mit Importen aus dem Ausland Versorgungslücken zu stopfen. Die staatlichen Einkäufe bei ausländischen Firmen sind eine der Quellen der Korruption, die auch aus anderen Gründen grassiert.
Kehren die starken Männer zurück?
Dies alles hat grosse Ähnlichkeit mit dem, was im Irak geschah, als der Staat 1932 aus der britischen Kolonisierung entlassen wurde. Stets haben sich starke Männer soweit der Macht bemächtigt, dass sie das Parlament beherrschten - nicht umgekehrt. Daraus ergab sich, dass das Parlament die Gesetze erliess, die der starke Mann haben wollte, um zu regieren. Wenn es das nicht tat, wurde es eben kaltgestellt, und der starke Mann erliess selbst die Gesetze. Dies dauerte solange, bis ein anderer starker Mann - meistens kam er aus der Armee, seltener wie Saddam Hussein aus Parteimilizen - den Vorausgehenden zu Fall brachte.
Besteht eine iranische Gefahr?
Der Iran besitzt einigen Einfluss in seinem ebenfalls von Schiiten regierten, aber heute viel schwächeren Nachbarland. Doch dieser Einfluss dürfte sich nicht entscheidend auf die Zukunft des Irak auswirken. Die irakischen Schiiten sind keine Perser, sondern Araber. Das Religionsverständnis der irakischen Schiiten stimmt nicht mit dem grundlegenden Dogma überein, auf dem der iranische Staat beruht: der Lehrmeinung Ayatoolah Khomeinis vom "herrschenden Gottesgelehrten".
Ihr Verhältnis zu Teheran dürfte daher ein diplomatisches bleiben. Gewiss muss Bagdad darauf bedacht sein, den grossen Bruder im Osten nicht zu verärgern. Vor allem nicht, solange Bagdad keinerlei militärische Mittel besitzt, um seine eigenen Grenzen zu verteidigen. Dass diese fehlen - in erster Linie weil es noch überhaupt keine Luftwaffe gibt -, räumen heute die irakischen Offiziere wie auch ihre amerikanischen Mentoren offen ein.
Entsteht noch eine transparente Demokratie?
Doch dass der Iran sich sein Nachbarland als Einflussgebiet unterzuordnen vermöchte, ist nicht wahrscheinlich. Viel mehr hängt die Zukunft des Irak davon ab, ob er sein bisher mehr improvisiertes als endgültig festgelegtes politisches System im Sinne einer Demokratie für alle Iraker wird festigen können. Oder ob das Land als unvollendete Teildemokratie in den Händen eines Machthabers gefangen bleibt und dann, wie seit jeher, darauf angewiesen sein wird, dass dieser von einem anderen abgelöst werde, von dem man hoffen, aber nie voraussagen kann, dass er besser sein wird als der bisherige.