Ein Drittel des Teils von Aleppo, der sich in der Hand der Rebellen befand, ist nun von der syrischen Armee und deren Hilfstruppen aus Iran, Libanon, dem Irak sowie mit russischer Unterstützung erobert worden. Die Kämpfe und Bombardierungen waren so schwer – und sie gehen weiter –, dass die eroberten Stadtteile nur noch Ruinen sind. Die Menschen, die dort überlebten, rund 80'000 Personen, befinden sich auf der Flucht.
Flucht in drei Richtungen
Die fliehenden Zivilisten haben drei Fluchtziele, zwei über die Frontlinien hinweg, entweder in das von der Regierung beherrschte Gebiet oder in die Stadtteile weiter im Süden, die noch in Händen des Widerstands verblieben sind.
Ein dritter Weg führt nach Norden in das von den Kurden der YPG und deren arabischen Verbündeten des SDF (Syrische Demokratische Front) gehaltene Viertel von Scheich Masoud. Die Kurden haben ihre aleppinische Enklave am Nordrand der Stadt ausgedehnt. Sie umfasst nun Bezirke, die zuvor von den Rebellengruppen beherrscht waren. Dies scheint das Resultat eines Abkommens zwischen den Kurden und den Rebellen gewesen zu sein, die gezwungen waren, diese Viertel aufzugeben und sich nach Süden zurückzuziehen.
Die Kurdenenklave in Nordaleppo
Die YPG vermeiden es wo immer möglich, mit den Regierungstruppen zusammenzustossen. Als ihre Hauptfeinde sehen sie den IS und die türkische Armee an. Dazu kommen die syrischen Hilfskräfte, von der FSA (Freie Syrische Armee), die mit Ankara zusammenarbeiten. In Aleppo gibt es diese Kräfte nicht, weder den IS noch pro-türkische Einheiten. Die Zukunft der kurdischen Enklave mit ihren zusätzlichen Flüchtlingen, die nun dort anlangen, ist völlig offen. Früher oder später müssen die dortigen Kurden ihr Verhältnis zur syrischen Armee und dem Staat Asads, der sie nun von allen Seiten umfasst, regeln. Ob das ohne Kämpfe abgeht, oder weitere Kämpfe bedeutet, ist gegenwärtig ungewiss.
Widerstand in den südlichen Vierteln
Ähnliches gilt auf der südlichen Seite der westlichen Stadthälfte, wo nun der Widerstand neue Verteidigungspositionen einnehmen will. Auch sie ist völlig von der syrischen Armee und deren Hilfskräften eingekreist, und dort gehen die Bombardierungen weiter. Die Kämpfe dauern an. Doch wie lange noch, ist ungewiss.
Man kann annehmen, dass die syrische Armee versuchen wird, ihre Aleppo-Offensive noch während der Übergangspause der amerikanischen Präsidentschaft bis zum 20. Januar oder kurz danach erfolgreich zu Ende zu bringen. Dies ist genügend Zeit, um die Bevölkerung in den verbliebenen Stadtteilen durch die Taktik des Aushungerns zu zermürben. Die syrische Armee hat diese Taktik mehrfach angewendet und verfolgt sie gegenwärtig in Daraya, dem letzten der Widerstandsnester nahe bei Damaskus.
Hoffnungslose Zukunft
In Homs hat es Monate und zum Teil Jahre gedauert, bis die letzten Widerstandsviertel mittels dieser Taktik eingenommen werden konnten. Für die syrische Armee hat sie den Vorteil, dass sie Mannschaften schont und es erlaubt, die schweren Waffen aus der Distanz einzusetzen: Artillerie, Luftwaffe, Kampfhelikopter mit Fassbomben. Verlustreiche Strassenkämpfe, in denen der Widerstand seine vorbereiteten Stellungen und seine Kenntnisse der lokalen Lage ausnützen kann, werden vermieden.
Für die Flüchtlingsmassen bedeutet dies, dass sie sowohl im Norden bei den Kurden wie auch im Süden in den umkämpften Stadtteilen einer hoffnungslosen Zukunft entgegensehen. Denn dass die Belagerten sich auf Dauer militärisch behaupten werden, glaubt inzwischen kaum noch jemand.
In der Hand der Geheimdienste
Der dritte Weg nach Westen in das Gebiet, das von der syrischen Armee beherrscht wird, ist ebenfalls ungewiss. Er wird bedeuten, dass die Flüchtlinge in die Hände der gefürchteten syrischen Geheimdienste geraten. Die Männer als erste, weil die Geheimdienstler versuchen werden, als Zivilisten getarnte Widerstandskämpfer aufzuspüren. Das geht nach den berüchtigten Methoden: Festnahme aller und Einsatz der Folter, bis die Opfer Namen preisgeben.
Da alle Syrer wissen, was das bedeutet, ist die Furcht vor dem Geheimdienst der wichtigste Grund, weshalb bisher trotz vieler Angebote von russischer und syrischer Seite nur wenige Flüchtlinge zur Regierungsseite wechselten. Doch nun ist es für viele unausweichlich geworden. Es gibt keinen anderen Ausweg mehr. Die Furcht hält sie nicht mehr zurück. Die Ströme von Zehntausenden von Verzweifelten werden in den nächsten Tagen noch weiter anwachsen. Die Politiker und Vertreter der humanitären Organisationen, die sich in Paris versammeln, um dies zu beklagen, ändern daran de facto nichts.
Noch kein Endsieg
Was der über kurz oder lang bevorstehende Fall von Ostaleppo für den syrischen Bürgerkrieg bedeutet, ist nur teilweise klar. Es wird ein wichtiger Sieg für Asad sein, jedoch schwerlich der Endsieg. Gerade weil seine Geheimdienste mehr zu fürchten sind als ein Tod unter Kugeln und Trümmern, wird der Kampf andauern. Wenn Aleppo nicht mehr umkämpft sein sollte, wird sich der Kampf in der Provinz Idlib westlich von der Provinz Aleppo und östlich bis zur türkischen Grenze fortsetzen.
Idlib ist beherrscht von der ehemaligen al-Nusra Front, die heute Syrisch-Islamische Front heisst und mit der diverse Milizen verbunden sind. Sie sind alle Kämpfer für einen „Islamischen Staat Syrien“ und gelten für die Amerikaner, die Russen und die Syrer als Terroristen. Doch sie arbeiten zusammen mit anderen ebenfalls islamistischen Gruppen, die nicht als Terroristen eingestuft sind – weil sie im Gegensatz zur Syrischen-Islamischen Front nie zu Al-Kaida gehörten. Diese Gruppen sind ebenfalls in Idlib vertreten und erhalten Unterstützung von Seiten Saudi Arabiens, Katars und der anderen Golfstaaten.
Erdogans Schlüsselposition
Diese Hilfe, soweit es sich um Waffen und Munition handelt, kommt via Türkei. Deshalb ist es von grosser Wichtigkeit für den weiteren Verlauf des Bürgerkrieges, ob Ankara seine bisherige Position gegen Asad und sein Regime beibehält oder ob er sie revidiert, wie es zweifellos den Wünschen Moskaus entspräche.
Erdogan ist im Begriff, sich Russland anzunähern. Ob dies zu einer Korrektur seiner bisherigen Haltung gegenüber dem Asad-Regime führen wird, ist noch offen, aber durchaus eine Möglichkeit.
Keine „Gemässigten“ mehr
Viele der zahlreichen kleinen Gruppen, die zur Zeit noch im Südwesten Aleppos durchhalten, gehören zu den letzten, die keine islamistischen Ziele anstreben, also nicht einen „islamischen Staat“ Syrien. Ihre bevorstehende Niederlage beraubt die Amerikaner der letzten Partner für ihre bisherige politische Linie in Syrien, die auf Unterstützung des sogenannten „gemässigten Widerstandes“ hinauslief.
Jene Kämpfer, die in Aleppo überleben, werden sich notgedrungen nach dem benachbarten Idlib zurückziehen. Dort werden sie sich ebenfalls notgedrungen der Syrisch-Islamischen Front anschliessen oder sich mit ihr verständigen, um überhaupt als Widerstandsgruppen weiterkämpfen zu können. Der sogenannte „Islamische Staat“ und die al-Nusra Front, beide als terroristische Organisation eingestuft, werden dann die Kernformationen allen Widerstands gegen Asad sein. Nicht nur Asad und seine Helfer werden sie als ihre verbleibenden Feinde bekämpfen, sondern auch die Amerikaner, falls sie nicht unter Trump auf alle Aktivitäten in Syrien verzichten.
Asads zynischer Schachzug
Dies ist eine Lage, auf die Asad seit langer Zeit hingewirkt hat. Er versuchte, sich so zu positionieren: Die syrische Regierung im Einklang mit den Russen, den Iranern und den Amerikanern gegen den IS und andere „Terroristen“. Deshalb sorgte er im Sommer 2011 dafür, dass die Chefs des syrischen Islamismus durch eine Amnestie, die nur gerade die gewaltbereiten islamistischen Aktivisten betraf, aus den syrischen Gefängnissen entlassen wurden. Zuvor hatten sie dort jahrelang eingesessen. Der Zweck war damals, dem Widerstand gegen Asad eine möglichst islamistische Färbung zu geben und die demokratischen Züge der Erhebung gegen Damaskus im islamistischen Aktivismus zu ertränken. Das erforderte, den ursprünglich gewaltlosen oder zumindest gewaltarmen Widerstand in einen gewaltsamen umzuwandeln.
Asad und seinen Geheimdienstberatern war klar, dass eine pro-demokratische Erhebung Sympathie und Hilfe von Amerika und Europa erwarten könne, ein islamistischer Jihad jedoch nicht. Nun, fünfeinhalb Jahre später, mit dem Ende des Widerstands von Aleppo und der Vertreibung der Hälfte aller Syrer aus ihren Wohnstätten sowie gegen 300'000 Toten, ist Asads zynische Rechnung nahezu aufgegangen.