Mit dem sich abzeichnenden Sieg Asads stellt sich die Frage, was mit den über 5 Millionen Syrern geschehen soll, die sich gezwungen sahen, ihr Land wegen der Kriegsereignisse zu verlassen. Dazu kommen die Flüchtlinge innerhalb Syriens: beinahe zehn Millionen. Im offziellen Sprachgebrauch der Uno werden diese Leute nicht „Flüchtlinge“ genannt (obgleich sie es sind), sondern „displaced persons“.
Erste Schritte in Libanon
Erste Rückwanderungen aus Libanon haben begonnen, und die Art, in der das Asad-Regime mit ihnen verfährt, wirft ein Schlaglicht darauf, wie die syrische Rückwanderungspolitik mindestens in den Anfangsstadien gehandhabt werden wird: Es gibt keine Amnestie und keine freie Rückkehr. Im Gegenteil, in jedem Einzelfall muss ein Gesuch gestellt werden. Dieses wird nach Damaskus übermittelt, von der Staatssicherheit untersucht und dann akzeptiert oder zumindest zurückgestellt.
In dem Grenzflecken Arsal, an der Nordostecke der libanesischen Bekaa-Ebene, die selbst etwa 35’000 Bewohner hat, haben gegen 70’000 syrische Flüchtlinge Zuflucht gefunden. Viele sind schon seit drei Jahren in Notunterkünften und Lagern in Arsal selbst und in der Umgebung untergebracht. Die meisten der Flüchtlinge stammen aus Dörfern und Ortschaften der Umgegend von jenseits der Grenze.
Unsägliche Lebensbedingungen
Die Lebensbedingungen sind schlimmer als bloss hart. Von den 70’000 haben zunächst gegen 3’000 ein Gesuch auf Rückkehr in ihre alten Wohnorte gestellt. In den Gesuchen mussten sie ihre Loyalität gegenüber dem Asad-Regime erklären und ihre Bereitschaft, männliche Familienmitglieder zwischen 18 und 42 Jahren, die ihren obligatorischen Militärdienst noch nicht geleistet haben, für diesen zur Verfügung zu stellen. Die libanesischen Behörden tun alles, was sie können, um die Rückkehr zu beschleunigen. Die internationalen Flüchtlingsbehörden sagen, es sei noch zu früh, um die Sicherheit der Rückkehrer zu garantieren. Sie begnügen sich zur Zeit damit, Rückwanderungen zu registrieren.
Die Bewilligungen aus Syrien treffen langsam ein, Person um Person. Genehmigungen für Frauen sind häufiger als für Männer. Doch Frauen alleine, ohne den männlichen Teil ihrer Familie, haben selten die Möglichkeit, heimzukehren, und viele warten auf die ausstehenden Entscheide für ihre Gatten und anderen männlichen Verwandten. Von gut 300 Personen wird berichtet, dass sie die Rückfahrt bisher angetreten haben. An der Grenze wurde jeder von ihnen von syrischen Soldaten oder Sicherheitsbeamten kontrolliert.
Das „Gesetz Nr. 10“
Alle syrischen Flüchtlinge – im Ausland und im Inland – stehen unter dem Druck des „Gesetzes Nr. 10“, das in Damaskus im vergangenen Frühling erlassen wurde. Dieses schreibt vor, dass alle Grund- und Hausbesitzer, die ihre Besitztümer verlassen haben, diese neu als solche registrieren müssen. Unregistrierter Besitz werde dem Staat anheimfallen. Der anfänglich viel zu kurz angesetzte Zeitraum für die Registrierung oder Re-Registrierung wurde inzwischen auf ein Jahr verlängert. Ob solche Registrierungen vom Ausland aus durch Bevollmächtigte durchgeführt werden können, ist unklar. Jedenfalls wäre es kostspielig.
Syrische Beobachter sagen, die einzigen wirklichen Sachwerte, die es in dem zerstörten Lande noch gibt, sind Hausbesitz und Grundbesitz. Viele fürchten, dass das „Gesetz Nr.10“ dermassen gehandhabt werden könnte, dass es diese Realwerte Regierungsfreunden und -stützen zuschanzen wird.
Furcht vor den Geheimdiensten
Ein grosser Teil der aus ihren Wohnorten Vertriebenen muss befürchten, von den syrischen Sicherheitsdiensten als Regimegegner klassifiziert zu werden, entweder weil sie es wirklich waren oder weil sie in Stadtteilen oder Ortschaften lebten, die sich – oftmals Jahre lang – in Händen der Widerstandskämpfer befanden. Es gab und es gibt viele Berichte, nach denen Teile dieser Sicherheitskräfte in kleinen und in grossen Belangen bestechlich sind – und natürlich Gewissheit, dass sie ihre Gefangenen nach Belieben foltern. Gründe genug, um bedeutende Teile der Flüchtlinge und der Vertriebenen vom Gedanken an eine Rückkehr unter den gegenwärtigen und zu erwartenden Umständen abzuhalten.
Eine Diaspora als Dauerzustand?
Viele von diesen mehr oder weniger durch den bisherigen Widerstand Belasteten sagen: „Wir sind die Palästinenser von morgen!“ Sie meinen damit, dass sie und ihre Nachfahren Gefahr laufen, eine neue und zusätzliche Quelle der Instabilität im Nahen Osten zu werden, wie das die aus ihrer Heimat vertriebenen Palästinenser seit 70 Jahren sind. Die Ähnlichkeiten, die „Gesetz Nr. 10“ mit dem israelischen Gesetz über „Absentee Property“ von 1948 aufweist, begründen diese bedrückende Voraussage.
Die „Alawitisierung“ Syriens
In den fünf Jahrzehnten, in denen die alawitische Asad-Regierung Syrien bisher mit Hilfe einer alawitischen Elite von Sicherheitsleuten und Militärs regiert und beherrscht hat, haben sich in allen grösseren Städten alawitische Regierungsquartiere gebildet, meist angelehnt an die Residenzen der Gouverneure und deren Leibwächter und in den besten Wohnvierteln der syrischen Hauptstädte. Diese Quartiere waren stets ausgenommen von den Belagerungen und Bombardierungen durch die Armee und sind daher gut erhalten.
Fast alle waren jedoch im Verlauf des Bürgerkrieges Ziele von Bombenanschlägen und manchmal Feuerüberfällen vonseiten der sunnitischen radikalen Widerstandsgruppen. So gut wie alle Bewohner haben Verwandte und Familienmitglieder unter den Opfern und Gefallenen des Krieges zu beklagen. Das hat die Feindschaft zwischen beiden Seiten weiter angefacht. Entsprechend haben sich der Rachedurst und der Ruf nach Bestrafung der „Terroristen“ vonseiten der Sicherheitsleute verstärkt. Diese, die alawitisch gesteuerten und kontrollierten Sicherheitsleute und ihre zahlreichen Sicherheitsdienste, müssen als die wahren Sieger des syrischen Krieges eingestuft werden. Wahrscheinlich mehr noch als Asad selbst.
Macht bringt Geld
Dazu kam auch eine mehr wirtschaftlich als politisch bedingte weitere Ausdehnung der sich langsam bereichernden Alawiten aus den Dörfern ihrer alten Zufluchtsgebiete im Jebel Alawi hinab in die fruchtbare Ebene am Mittelmeer zwischen Tartous und Latakiya sowie auch östlich hinüber in Richtung Orontes Tal.
Die Befürchtung unter den Flüchtlingen und Vertriebenen ist, dass ihre eigene Abwesenheit, kombiniert mit „Gesetz Nr. 10“, dazu ausgenützt wird, diese Präsenz von Regierungsanhängern und Verteidigern zu verstärken und auf Kosten der bisherigen sunnitischen und oftmals nicht ohne Grund der Regierungsfeindlichkeit beschuldigten früheren Mehrheit auszudehnen. Sie sprechen von einer geplanten und bereits angebahnten „ethnischen Säuberung“. Schon die Vermutung und Wahrnehmung einer solchen Tendenz dient dazu, die Kluft zwischen den beiden bisherigen Seiten des syrischen Bruderkriegs weiter zu zementieren.
Die Mitsprache der Russen
Es gibt viele Anzeichen dafür, dass die russischen Verbündeten Syriens lieber eine Politik der Versöhnung als eine der „ethnischen Säuberung“ sehen möchten. Ihnen liegt daran, aus Syrien einen Verbündeten von möglichst gefestigter Stabilität und Verlässlichkeit zu machen. Denn sie möchten in die Lage kommen, ihre Truppen und ihre Luftwaffe aus Syrien abzuziehen, ohne die geopolitischen Gewinne, die sie aus ihrer Intervention gezogen haben, zu gefährden.
Doch inwieweit Moskau gewillt ist, Asad und seine Politik zu steuern, ist ungewiss. Am wahrscheinlichsten werden die Russen versuchen, in möglichst kleinen und wenig sichtbaren Schritten eine vorsichtige Lenkung ihres Verbündeten in die Wege zu leiten.
Wer hilft beim Wiederaufbau?
Der gesamte Komplex Rückkehr der Flüchtlinge und Vertriebenen – zwischen einem Drittel und der Hälfte des gesamten syrischen Volkes – zu ihrem Grundbesitz ist natürlich eng verbunden mit der Notwendigkeit des Wiederaufbaus des zerstörten Landes. Wie dieser bewerkstelligt werden soll und wer ihn ganz oder teilweise finanzieren könnte, ist noch völlig ungewiss. Unter Trump werden es die Amerikaner wohl nicht sein, und auch die Europäer werden ihre Gegnerschaft gegen Asad als Grund angeben, sich nicht zu engagieren. Gelder aus der Golfregion kommen nicht in Betracht, solange das Bündnis zwischen Iran und Syrien erhalten bleibt, das seit den ersten Jahren der iranischen Revolution von 1979 unter Chomeini besteht.