Eigene Betroffenheit ist nie ein Qualitätsmerkmal für Filmemacher. Und selbstverständlich hält sich jemand wie Markus Imhoof (*1941) an diesen Grundsatz. Auch in „Eldorado“, wo er viel von sich preisgibt und so begründet, worum es ihm geht. „Die persönliche Motivation ist für mich immer die Basis für meine Arbeit als Filmautor und Regisseur. Das war auch bei ‚More Than Honey‘ so, der nicht entstanden wäre ohne meinen Grossvater, der mich die geheimnisvolle Welt der Bienen entdecken liess. In beiden Filmen, ‚More Than Honey‘ und ‚Eldorado‘, geht es um das Verhältnis des Einzelnen zu den andern, allen andern, dem Ganzen.“
Imhoof lässt die Gedanken zurückschweifen in seine Kindheit am Ende des 2. Weltkriegs 1945, die von der Begegnung mit einem Flüchtlingsmädchen geprägt ist. Dieses Erlebnis verbindet er mit dem Resultat jahrelanger Recherchen über die Zusammenhänge und Auswirkungen der hochkomplexen Migrationsthematik in Europa.
Das Mädchen Giovanna
Markus war vier, als er neben seiner leiblichen älteren Schwester temporär zu einer zweiten kam – Giovanna aus Mailand. Die Familie Imhoof nahm im Rahmen einer Aktion der Schweizerischen Arbeitsgemeinschaft für kriegsgeschädigte Kinder (SAK) das Mädchen bei sich auf. Giovannas Vater galt in den Kriegswirren als verschollen, die Mutter war zu krank, um sich um die Tochter kümmern zu können.
1946 musste die Zehnjährige nach Mailand zurückkehren, weil man auf Weisung des Roten Kreuzes die Bindungen von Kindern zu Pflegefamilien nicht zu stark werden lassen wollte. 1949 bemühten sich die Imhoofs, Giovanna wieder zu sich zu holen, doch schon nach kurzer Zeit musste sie zurück nach Italien und verstarb 1950 krankheitsbedingt.
Das Boot ist voll
Das Reflektieren von Kriegselend, Hass und Ausgrenzung beschäftigt den Filmautor Markus Imhoof seit langem. In „Das Boot ist voll“ (1981) erzählt er von jüdischen Flüchtlingen in der Schweiz in der Zeit des Holocaust 1942. Sie werden, wie viele Tausende andere auch, ins nationalsozialistische Deutschland zurückgeschickt, was für die allermeisten den Tod bedeutete. Imhoof behandelt das düsterste Kapitel der neueren Schweizer Geschichte subtil, sein Drama wurde mit dem Silbernen Bären am Filmfestival von Berlin sowie einer Oscar-Nominierung als bester nicht-englischsprachiger Film bedacht.
Mehr als drei Jahrzehnte später greift Markus Imhoof nun den gesellschaftspolitischen Aspekt des Umgangs mit Migranten wieder auf: Im Dokumentarfilm „Eldorado“, der von der derselben Umsicht, Ernsthaftigkeit und Passion beseelt ist, die sein ganzes Werk durchzieht.
Flüchtlingskrise als Zustand
Worum geht es? Imhoof im Sender „Deutschlandfunk Kultur“: „Das Wort ‚Flüchtlingskrise‘ ist die grösste Täuschung. Es ist keine Krise, es ist ein Zustand, der andauert und zunehmen wird. Denn bald kommen noch die Klimaflüchtlinge und diese Verwerfungen werden auch zu kriegerischen Auseinandersetzungen führen. Und die Verantwortung für die Veränderung des Klimas liegt eindeutig bei uns.“
Fakt ist, dass bis dato mehrere hunderttausend Flüchtlinge über das Mittelmeer nach Italien geflohen und Zehntausende beim Versuch, es zu tun, umgekommen sind. Als Reaktion auf ein Unglück vom 3. Oktober 2013, als fast 400 Flüchtlinge aus Somalia und Eritrea vor Lampedusa ertranken, rief Italien die militärische Operation Mare Nostrum ins Leben. Sie lief bis zum Herbst 2014 und dabei sollen mehr als 100’000 Menschen an die italienische Küste gebracht worden sein.
Operation Mare Nostrum
Zehn Tage wurde an Bord des Flaggschiffs San Giusto gedreht, bei dessen vorletztem Mare-Nostrum-Einsatz, bei dem vor der libyschen Küste 1800 Bootsflüchtlinge an Bord geholt wurden. Imhoof, wieder bei „Deutschlandfunk Kultur“: „Das Schwierigste war, den Flüchtlingen auf dem Boot in die Augen zu schauen. Weil jeder Blick natürlich eine Einladung war, eine Bitte zu stellen. Ich konnte und durfte aber keine Einzelhilfe leisten. Es waren 1800 Menschen auf dem Schiff und weil ich der älteste war, dachten sie vielleicht, ich hätte eine gewisse Macht. Ich teilte meine Kabine mit einem Offizier und wir haben jeweils nachts auch über diese Dinge gesprochen.“
Anmerkung: Kurz nach den Dreharbeiten wurde die Operation Mare Nostrum eingestellt, weil die EU – sie war 2012 für ihren Einsatz für Frieden, Versöhnung, Demokratie und Menschenrechte in Europa mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet worden – die Kosten für diese Form der Rettungsaktionen nicht mittragen wollte.
Der lange Weg ins vermeintliche Paradies
Markus Imhoofs gefühlstiefe Reflexionen über die Begegnung mit Giovanna anhand von Briefen, Fotografien und Oral-History-Zeugnissen werden in „Eldorado“ zusammengeführt mit Bildmaterial und Interviews von Drehorten im Mittelmeerraum, im Libanon, in Italien, Deutschland und der Schweiz. Man spürt, wie Imhoof darum gerungen haben muss, diese Quellen auszuwerten, um sein Anliegen – die Fürsprache für gelebte Mitmenschlichkeit – im Rahmen des überhaupt Machbaren ersichtlich, plausibel, verständlich in eine überschaubare filmische Form zu bringen.
Dass das vermeintliche Paradies auch nach der Überfahrt und Ankunft auf europäischem Boden für die verunsicherten Menschen noch weit entfernt ist, zeigt Imhoof symbolhaft in einer Szene mit an Deck zusammengepfercht sitzenden, von Angst, Skepsis und Misstrauen gezeichneten Passagieren. Zwar ist ihnen auf dem nach allen seemännischen Regeln korrekt geführten Militärschiff eine Verschnaufpause vergönnt, doch die Nerven der Hilfesuchenden liegen blank.
Dass es beim Satz eines Helfers „Wir versprechen ihnen nicht das Paradies, aber es wird jeden Tag besser“ darum ging, die gereizte Stimmung zu entschärfen, ist klar. Denn auch für gut ausgebildete Militärpersonen ist eine derartige Lage eine extreme Herausforderung und ein anwesendes Filmteam mehr irritierend als unterstützend.
Im Schweizer Bunker
Umso beindruckender, wie es Markus Imhoof mittels Zusatzkommentaren und ohne effekthascherische filmsprachliche Tricks schafft, eine Ahnung von diesen Ausnahmesituationen zu vermitteln; auch dort, wo es um die sicherheitsdienstliche Abnahme von Fingerabdrücken oder um medizinische Untersuchungen geht. Und sehr bewegend bei den Kontrollen von Flüchtlingen durch Schweizer Grenzbeamte am Bahnhof Chiasso im Tessin.
In der Schweiz führte Imhoof Gespräche mit Beamten und Politikern und nahm einen Augenschein in der bernischen Gemeinde Riggisberg, wo Migranten untergebracht waren. „Es ist alles ein bisschen netter“, sagt Imhoof dazu, „die Berge sind wunderbar, aber die Flüchtlinge wohnen im Keller, im Bunker. Jeder Schweizer hat ein Anrecht auf einen Bunkerplatz, aber weil ja keine Not ist, schlafen dort unten jetzt die Fremden. Es kommt mir so vor, wie wenn (…) eigentlich Abschreckung das Ziel ist. Man will, dass möglichst wenige da sind und man sie bald wieder los wird.“
Sklaverei und kriminelle Energie
Anfangs illustriert Imhoof „Eldorado“ weitgehend mit Archivmaterial, wie man es aus der News-Berichterstattung kennt und fast schon als redundant wahrnimmt. Doch in Kombination mit Imhoofs Aufnahmen entsteht etwas hautnah Eigenes. Beispielhaft zu sehen in einem italienischen Übergangszentrum, wo bemühte, aber sichtlich überforderte Mitarbeiter genauso zu Wort kommen wie aufgebrachte Flüchtlinge.
Beklemmend sind die Szenen im „Gran Ghetto di Rignano“ bei Foggia, Italien. Zur Drehzeit wurde dort unter dem Diktat der Mafia rund ein Drittel der global gehandelten Tomaten geerntet und verarbeitet, um dann auch in Afrika verkauft zu werden – auch in Ländern, aus denen viele Flüchtlinge herkommen. Illegale männliche Einwanderer wurden als Arbeiter schamlos ausgebeutet, die Frauen zur Prostitution gezwungen; von Sklaverei zu sprechen ist in diesem Zusammenhang keine Übertreibung. Und die geheim gedrehten Bilder spiegeln die kriminelle Energie und das Gewaltpotenzial in diesem Umfeld. 2017, nach den Dreharbeiten, brannte ein Teil des Areals ab, wobei zwei Menschen starben.
Mit Fingerspitzengefühl und Haltung
Für die Kamera ist der Schweizer Peter Indergand verantwortlich. Er arbeitet auch mit dem Dokumentarfilmer Christian Frei zusammen, so beim Oscar-nominierten Porträtfilm „War Photographer“ oder bei „Genesis 2.0“, für den er am US-Sundance Film Festival 2018 mit dem Special Cinema Award geehrt wurde. Mit Indergand und Imhoof haben sich erfahrene Filmschaffende mit Fingerspitzengefühl zusammengetan, die derselben klaren ethischen Haltung verpflichtet sind; ihr Film kommt ohne Stimmungsmache und Schuldzuweisungen aus und bietet keine Scheinlösungen an. Das ist auch einer Ratlosigkeit geschuldet im Wissen darum, dass das sich die Lage in der Flüchtlingsdebatte tagtäglich ändern kann.
Auch wenn viele Fragen offenbleiben, wird man als Zuschauer nicht in die Resignation oder Mutlosigkeit entlassen. Weil Markus Imhoof seinem eingangs zitierten Credo „es geht um das Verhältnis des Einzelnen zu den andern, allen andern, dem Ganzen“ gerecht wird: Ausgehend von der biografischen Aufarbeitung seiner Kindheitsbeziehung zu Giovanna, der Trauer über ihren frühen Tod, vielleicht im Nachsinnen über eine erste Liebe, setzt sich Markus Imhoof mit „Eldorado“ für Nächstenliebe ein.
Ab 8. März in den Deutschschweizer Kinos
Trailer: https://youtu.be/m6NZoSfFYOk