Beim ersten Wahlgang plagten Daniela da Costa nicht die geringsten Zweifel. Sie gab ihre Stimme Plínio de Arruda Sampaio, obwohl sie wusste, dass der Kandidat der Partei für Sozialismus und Freiheit von vorneherein auf absolut verlorenem Posten stand. „Er war der einzige, der ein richtiges Programm vorlegte und nicht bloss mit Schlagworten um sich warf“, begründet die 53-jährige Bildungsexpertin aus Gravatá, einer Kleinstadt in der Grösse Winterthurs, ihre Wahl.
Und jetzt, da nur noch die Kandidatin der Arbeiterpartei Dilma Rousseff und ihr Herausforderer José Serra im Rennen sind? Wenige Tage vor der Stichwahl ist Daniela da Costa wie viele ihrer Landsleute noch unschlüssig. „Ich werde erst im letzten Augenblick entscheiden“, gesteht sie.
In ihrer Heimatstadt, die von sanften Hügeln umgeben ist, in der die Ferienhaussiedlungen Namen wie „Village Saint Moritz“ oder „Chalet Suiço“ tragen und die Restaurants bei 35 Grad am Schatten Käse-Fondue servieren, wird die Mehrheit wohl die ehemalige Kabinettschefin Rousseff wählen.
Denn Gravatá liegt im Bundesstaat Pernambuco, wo Luis Inácio Lula da Silva seine ersten Lebensjahre verbracht hat und seine Arbeiterpartei auf einen starken Rückhalt zählen kann. Daniela da Costa ist weder von Rousseff noch von Serra wirklich überzeugt. „An Dilma stört mich, dass man bei ihr nicht erkennt, wo ihr Übervater Lula aufhört und die eigene Persönlichkeit beginnt“, sagt sie. „Serra wiederum ist mir in der Sozialpolitik zu wenig fortschrittlich. Und im Übrigen versucht er ebenfalls krampfhaft, auf der Lula-Welle zu reiten.“
Das Stiefkind Umweltschutz
Tatsächlich hat der 68-jährige Ex-Gouverneur des Bundesstaates São Paulo im Wahlkampf immer wieder beteuert, er werde alles, was Brasiliens erster Arbeiterpräsident gut machte, noch besser machen. Dass sich Serra genauso zur Kontinuität bekannte wie Rousseff lag auf der Hand, ist Lula am Ende seiner Amtszeit doch das populärste Staatsoberhaupt weit und breit.
Meinungsumfragen zufolge stehen mehr als 80 Prozent der 195 Millionen Brasilianer hinter ihm und hoffen, dass es unter seiner Nachfolgerin oder seinem Nachfolger im gleichen Stil weitergeht, die Wirtschaft auch in Zukunft kräftig wächst und die Armut abnimmt.
Beide Anwärter auf das höchste Staatsamt haben versprochen, dass sie auch in Bereichen, um die sich der ehemalige Gewerkschaftschef Lula zu wenig gekümmert hat, nachhaltige Verbesserungen anstreben werden, im Bildungswesen beispielsweise oder beim Umweltschutz.
Ihre vagen Absichtserklärungen befriedigten aber viele Wähler nicht. Sie gaben deshalb ihre Stimme der Grünen Marina Silva und machten sie mit einem Wähleranteil von 19 Prozent zur heimlichen Siegerin des ersten Wahlgangs. In den letzten Wochen haben sich Rousseff und Serra bemüht, möglichst viele Anhänger der früheren Umweltministerin auf ihre Seite zu bringen.
Der Kandidatin der Arbeiterpartei dürfte dies eher gelingen, obwohl viele Grüne enttäuscht sind über das mangelnde Engagement der Regierung Lula in ökologischen Fragen und wenig Sympathie empfinden für Rousseff, die kühle Technokratin. Letztlich wird ein beträchtlicher Teil von ihnen aber dennoch lieber eine Linke wählen als den Zentrumspolitiker Serra. Marina Silva hat auf eine Empfehlung verzichtet, da sie weder Rousseff noch Serra für willens und fähig hält, überfällige Reformen in die Wege zu leiten.
Der Dauerbrenner Korruption
Beide Präsidentschaftskandidaten haben einander im Wahlkampf lange Zeit nicht gross wehgetan. Erst in der Endphase verschärften sie den Ton und griffen sich einige Mal heftig persönlich an. Serra wurde darüber hinaus bei einem Auftritt von einem Papierknäuel getroffen, den ein Rousseff-Sympathisant nach ihm geworfen haben soll.
Seine Wahlstrategen versuchten, hauptsächlich aus einem Korruptionsskandal, der kurz vor dem ersten Wahlgang für Schlagzeilen sorgte, Kapital zu schlagen. Die neue Kabinettschefin Erenice Guerra, die zuvor lange Jahre Rousseffs rechte Hand war, musste zurücktreten, weil sie nahen Verwandten attraktive Posten zugeschanzt hatte und deshalb der Begünstigung beschuldigt wird.
Ob Rousseff wegen dieser Affäre in der ersten Runde das absolute Mehr verpasste, lässt sich schwer sagen. Bestechung und Klientelwesen sind in Brasilien wie in den meisten lateinamerikanischen Ländern ein fester Bestandteil des politischen Systems und werden auch von einem Grossteil der Bevölkerung als nahezu selbstverständlich hingenommen. Zudem blieb auch das Serra-Umfeld nicht von Korruptionsanschuldigungen verschont. So deckten Medien etwa im Bundesdistrikt Brasília einen Skandal um ein ausgeklügeltes Bestechungssystem auf, der schliesslich sogar zur Verhaftung des Gouverneurs führte. Dieser gehörte der Demokratischen Partei an, die als wichtigster Partner von Serras Sozialdemokraten nachhaltig geschwächt wurde.
Thema Abtreibung
Eines der am heftigsten diskutierten Themen in den vier Wochen vor der Stichwahl war überraschenderweise die Abtreibung. Wie fast überall in Lateinamerika darf in Brasilien eine Schwangerschaft nur abgebrochen werden, wenn die werdende Mutter vergewaltigt wurde oder in Lebensgefahr schwebt.
Das restriktive Abtreibungsgesetz führt dazu, dass jährlich mehr als eine Million Abbrüche heimlich vorgenommen werden, nicht selten von Laien und ohne minimalen medizinischen Standard. Rousseff sprach sich im Wahlkampf vorsichtig für eine Liberalisierung der Abtreibung aus und provozierte damit einen Sturm der Empörung. Nicht nur die katholische Kirche, die in Brasilien nach wie vor ein wichtiger Machtfaktor ist, sondern auch die sich immer stärker ausbreitenden Pfingstkirchen starteten massive Anti-Rousseff-Kampagnen. Die Kandidatin der Arbeiterpartei sah sich gezwungen, einen Rückzieher zu machen und zu beteuern, dass sie an der geltenden Regelung festhalten wolle.
Dieses Versprechen dürfte nicht unwesentlich dazu beigetragen haben, dass sie in den Meinungsumfragen ihren Vorsprung wieder vergrössern konnte und wenige Tag vor der Stichwahl 15 Prozentpunkte vor Serra liegt. Letztlich dürfte Sieg oder Niederlage aber hauptsächlich davon abhängen, ob die Liebe der Brasilianer zu Lula gross genug ist, dass sie ungeachtet etlicher Vorbehalte gegenüber Rousseff die von ihm gewünschte Erbnachfolge an der Urne absegnen.