Zum Repertoire jedes begabten Demagogen gehört die Nummer mit der verfolgenden Unschuld. Einen ausgezeichneten Anlass dazu bieten juristische Vorgänge. Jeder Stammtisch ist sich schon vor dem ersten Bier einig, dass die Justiz auf einem Auge blind ist, Straftäter zu milde behandelt. Statt Kopf ab für Schwerverbrecher und Kastration für Sexualstraftäter und Timbuktu einfach für kriminelle Asylanten wird da gekuschelt, psychologisiert und resozialisiert. Auf der anderen Seite werden Straforgane natürlich für politische Machenschaften missbraucht, verfolgen sie in gehässigem Übereifer völlig Unschuldige, die nur aufrecht ihrer Amtspflicht nachgekommen sind.
Aufgeschäumtes und Hergezetertes
Ein Paradebeispiel dafür liefert mal wieder der grosse Kanton im Norden. Da werden doch von einem rachsüchtigen Schweizer Bundesanwalt drei aufrechte deutsche Steuerbeamte angeklagt, sie hätten «nachrichtliche Wirtschaftsspionage» betrieben und auch gegen das Schweizer Bankgeheimnis verstossen. «Ungeheuerlicher Vorgang, Skandal, illegal» schäumt im Wahlkampffieber die deutsche Opposition. Die Staatsdiener hätten nur ihre Pflicht getan, im Luftkampf um die Oberhoheit an den Stammtischen entblödet sich der Parlamentarische Geschäftsführer der SPD-Bundestagsfraktion tatsächlich nicht, die Verleihung des Bundesverdienstkreuzes zu verlangen. Und im Gegenzug sollen doch gleich mal die Schweizer Banken eingeklagt werden, denn die laden doch «vorsätzlich deutsche Steuerbürger zum Steuerbetrug ein», wie es der Krawallerie-Rhetoriker Peer Steinbrück formuliert. Und überhaupt sei das ein Einschüchterungsversuch, dem man massiv entgegentreten müsse.
Zurückgekeiftes und Gemaultes
Dagegen verwahren sich natürlich in erster Linie die Bewahrer guteidgenössischer Werte und Traditionen. Thomas Müller von der SVP dröhnt zurück: «Deutschland hat offenbar die Rechtskultur einer Bananenrepublik», und Kollege Luzi Stamm findet die Haftbefehle «super». Auch FDP-Nationalrätin Doris Fiala, die nie der Verlockung eines Fettnäpfchens widerstehen kann, sieht gleich die ganze Schweiz als Opfer «eines feindlichen Akts» von Deutschland. Etwas mehr Mühe haben die Schweizer Genossen der sich im höchsten Erregungszustand befindlichen deutschen SPD. Sie retten sich mit einem kleinen Salto aus der Gemengelage und behaupten, dass nur eine Aufgabe des Bankgeheimnisses und der informationelle Datenaustausch solche Verwicklungen zukünftig verhindern können.
Reines Kalkül
Nun hat populistisch-demagogisches Geschäume den kleinen Nachteil, dass die Erregungsbewirtschaftung nur aus politischem Kalkül und völlig losgelöst von banalen Tatsachen betrieben wird. Wenn es um ihr Herrgöttli aus Herrliberg geht, überbieten sich SVP-Vertreter in Klagegesängen über eine ausser Kontrolle geratene Justiz. Sein Mann fürs Grobe verlangt gleich drakonische Massnahmen gegen einen mit der Sache nicht befassten Staatsanwalt, der in einer Beiz räsonierte und dabei belauscht wurde. Politisches Komplott, illegale Handlungen, Hetzjagd, Behinderung eines Parlamentariers bei seiner Tätigkeit, dunkle Machenschaften, wenn nicht auf Befehl höchster Regierungskreise, dann doch von ihnen initiiert, so geht das vielstimmige Klagelied. In einem Wort: Skandal. Also genau die Nummer, die die deutsche Opposition gegen den Schweizer Bundesanwalt Lauber abzieht.
Reine Heuchelei
In Wirklichkeit besteht in beiden Fällen der Anfangsverdacht auf Beihilfe zur Verletzung des immerhin (noch) existierenden Bankgeheimnisses und mögliche weitere Straftaten. Daher wurde in beiden Fällen eine Strafuntersuchung eingeleitet, beim nicht unbekannten Sammler von Anker-Bildern eine Hausdurchsuchung durchgeführt und im Fall der drei deutschen Steuerfahnder Haftbefehl erlassen. Ansonsten gilt hüben wie drüben die Unschuldsvermutung. Wie man aber im Fall von deutschen Reaktionen von Skandal sprechen kann, da hier ja die Justiz nur ihres Amtes walte, während man im Schweizer Fall ebenfalls von Skandal spricht, weil die Justiz ihres Amtes waltet, ist mit Logik oder gesundem Menschenverstand nicht erklärlich. Wie man sich in einem Fall gegen eine Verpolitisierung eines Strafverfahrens auf den Zehenspitzen krähend wehrt, während man es im anderen Fall so lauthals unterstellt, dass man das Halszäpfchen sieht, ist nicht nur Unfug. Es ist reine, dumme Heuchelei. Es ist das Blocher-Prinzip.
Verfolgende Unschuld
Karl Kraus prägte dafür den passenden Begriff der verfolgenden Unschuld. Hier wird die Tat zum Alibi, der Angeschuldigte zum Verfolgten und Verfolger, wird eine letztlich überschaubare strafrechtliche Untersuchung zu einer Krise des Rechtsstaats umgebogen, walten angeblich finstere Mächte, tun sich vermeintlich Abgründe auf. Mit pawlowschem Reflex reagieren die politischen Gegner der sich so ausserjuristisch verteidigenden Objekte einer völlig normalen Untersuchung und merken nicht mal, dass sie damit den Demagogen auf den Leim gekrochen sind. Dass aber niemand konstatiert, dass die SVP-Apologeten gleichzeitig hü in der Schweiz und hott gegenüber Deutschland rufen, ist ein seltenes Armutszeugnis.