Eine dahinfliessende Stoffbahn in Petrolblau, von einer Männerhand liebkosend befühlt. Das sind die ersten Bildimpressionen des filmischen, emotionalen Dreiecks-Beziehungsdramas «Le Bleu du caftan» der Marokkanerin Maryam Touzani.
Das farbbetörende Intro ist die Initialzündung für das zeitnahe spielende zweite Werk der 1980 geborenen Ex-Journalistin und Filmautorin. Schauplatz ist die Medina, die Altstadt im marokkanischen Salé. Hier betreiben Mina und Halim, ein Ehepaar mittleren Alters, seit langem ein exklusives Schneiderei-Atelier. Vorwiegend entstehen Kaftane, kunstvoll von Hand gefertigte knöchellange Kleidungsstücke von erlesener Stoff- und Fadenqualität wie Wolle und Seide. Es sind Unikate, Festgaben, Sinnbilder für die verbindende Liebe über Generationen hinweg, wie sie zum Beispiel Mütter an Töchter weitergeben.
Qualität kontra Zeitgeist
Kreiert werden Kaftane von sogenannten Maâlems, wie Halim einer ist. Den Beruf hat er vom Vater erlernt, versteht ihn als Berufung. Er arbeitet passioniert, akribisch, mit Demut. Seine Gattin Mina ist eine selbstbewusste, kluge, sinnliche Frau. Sie kümmert sich um das Kaufmännische und verfügt über viel Geschäftssinn. Der ist gefragter denn je: Wie überall auf dem globalisierten Markt verändert sich auch im Maghreb das Kundenverhalten. Viele wollen nicht mehr wochenlang auf bestellte Artikel warten. Obwohl augenfällig sein dürfte, dass gehobenes Herzblut-Handwerk zeitaufwändig ist, raten Ungeduldige – im Film wird die hochnäsige Frau eines Beamten gezeigt – zur speditiveren (und billigeren!) Maschinen-Produktion. Halim, ein Meister seines Fachs, der um seine Person kaum Aufheben macht, empfindet solche Arroganz als persönlichen Affront.
Aber natürlich bleiben derartige Debatten nicht ohne Wirkung. Um wettbewerbsfähig zu bleiben, die Qualität zu halten und ihren guten Ruf zu wahren, beschliessen die kinderlosen Halim und Mina, einen Assistenten zu suchen. Beim Vorstellungstermin gefällt der junge, gepflegte Youssef mit praktischem Talent, Wissensdurst und kreativen Ideen. Professionell gesehen lässt sich die Sache gut an. Und zwischenmenschlich?
Schattenwürfe
Bald zeigt sich, dass die gefestigt anmutende Gemeinschaft der Geschäftsleute von Schattenwürfen getrübt wird: Mina leidet an einer schweren Krankheit, sorgt sich zunehmend um ihre Gesundheit. Halim wiederum hat eine intime Neigung, die er partiell verdrängt: Er fühlt sich zu Männern hingezogen. Seine Frau weiss das, bemüht sich aber aus inniger Zuneigung und hoher Wertschätzung um Toleranz. Mit der vermehrten Präsenz Youssefs im Atelier wird das schwieriger. Youssef macht dem Chef Halim bald Avancen, die ihre Wirkung nicht verfehlen. Mina wird misstrauisch und reagiert schroff.
Ein dergestalt intimer Konflikt würde in unserem Kulturbereich wohl primär im Privaten verhandelt. Ganz anders am nordafrikanischen Schauplatz von «Le Bleu du caftan». Regisseurin Maryam Touzani: «Homosexualität ist in Marokko nicht nur ein Tabu, sondern eine Straftat. Dieses Gesetz ist eine Schande, und ich glaube, dass wir uns für seine Abschaffung einsetzen müssen, in Marokko ebenso wie in anderen Ländern.»
Eine couragierte Haltung, die Maryam Touzani intelligent und sensibel in ihren Film «Le Bleu du caftan» einfliessen lässt. Das Skript dazu hat sie mit ihrem Mann Nabil Ayouch entwickelt, der selber ein erfolgreicher Filmschaffender und zudem Produzent der Werke seiner Gattin ist.
Das Kreativduo ist mit den gesellschaftspolitischen Verhältnissen in Marokko bestens vertraut, vermag einzuschätzen, wie weit man in der Stoffentwicklung gehen darf. Ein Filmpamphlet mit dezidierter Systemkritik wäre da wohl inhaltlich eher kein guter Ansatz gewesen, formaler plakativer Voyeurismus und spekulative Effekthascherei ebenso wenig. Und so haben sich die Filmschaffenden dafür entschieden, ihre Anliegen durch nuancierte, subtile Annäherungen an die kernigen Charaktere zu vermitteln.
Recht auf selbstbestimmtes Zusammenleben
Aufgefächert wird der Plot ausgehend von Mina, der eigentlichen Protagonistin. Sie will ihren Partner nicht verlieren, vor allem im öffentlichen Raum schützen, weil dort das Risiko einer Denunziation am grössten ist. Denn Vorsicht ist angesagt, weil Halim ab und an ein Hammam, ein Dampfbad, besucht, wo er mit Zufallspartnern sexuell verkehrt. Im Film wird darauf diskret doch deutlich eingegangen, in einer von wenigen Szenen, die nicht im Wohn- oder Arbeitsbereich angelegt sind. In einer anderen, mit Schalk gewürzten, schauen sich die eleganten Eheleute demonstrativ in einem Bistro eine Fussball-Übertragung im Fernsehen an. Mit Mina als einzigem mitfiebernden weiblichen Fan in einer Männerrunde.
Dem Paar begegnet man ansonsten kammerspielartig im heimischen Mikrokosmos des Alltäglichen. Es sind berührende Momente, in denen zu sehen ist, wie es um Mina und Halim bestellt ist und weshalb sie voneinander nicht lassen wollen. Auch jetzt nicht, wo es darum geht, Youssefs heikle Rolle auszuloten, zu ergründen, ob es in der sich abzeichnenden «Ménage-à-trois» überhaupt realistische Schnittmengen für ein Miteinander geben könnte. Und zu welchem Preis.
Maryam Touzani hat überraschende Antworten parat, die oft umflort sind von melancholischer Zärtlichkeit. Gut zudem, dass die Autorin die Handlung über das Reizthema «Männerliebe» hinausführt. Es geht zunehmend um die generelle Gleichstellung der Geschlechter und vor allem um das zivilcouragierte Ringen für das Recht auf ein selbstbestimmtes Zusammenleben ohne Bevormundung – geschmeidig und verschlüsselt inszeniert.
Inszenatorische Attribute die schon Touzanis Regie-Debüt «Adam» (2019) prägten: Autobiografisch inspiriert wurde von der Betreiberin einer Kleinbäckerei in Casablanca berichtet, die trotz persönlicher und gesellschaftlicher Vorbehalte eine fremde, alleinstehende Schwangere ohne Wohnsitz aufnahm. Die Zufallsgemeinschaft mauserte sich im herb-poetischen Filmessay zum verblüffenden feministischen Solidarpakt in einem patriarchalischen Umfeld.
«Le Bleu du caftan» widerspiegelt noch austarierter die Gefühlsschwingungen der Hauptpersonen, in knappen Dialogen und feiner Gestik. Im Einklang mit der auf natürliche Umgebungsgeräusche setzenden Tonspur und der bestechenden Bildsprache entsteht ein entschleunigter, meditativer Erzählfluss.
Universelle Botschaft
Die Kameraregie hat Touzani für beide ihrer Werke der Belgierin Virginie Surdej übertragen. In «Le Bleu du caftan» gelingen so Tableaux von metaphorischem Tiefgang. Vorab dort, wo der petrolblaue Kaftan als exzellentes Bild vom ersten Filmmoment an zum Leitmotiv wird. Geschneidert wird er für eine Trägerin, die erst nach und nach erkenntlich wird. Ein Kleid, das zunächst schmuckvoll verhüllt, und dann im Verlauf des bewegten Geschehens zum Symbol für tröstende Lebensenergie wird; zu erleben im Finale von «Le Bleu du caftan», dem die wuchtige Kraft eines Fanals innewohnt.
Dass dem so ist, hat auch mit Touzanis Gespür für die Rollenbesetzung zu tun: Den reservierten Halim verkörpert der israelisch-palästinensische Akteur Saleh Bakri mit vornehmer Zurückhaltung. Seine Frau Mina formt Lubna Azabal (sie war schon in «Adam» zu sehen) mit Verve. Und der Marokkaner Ayoub Missioui verleiht dem Charakter Youssefs schillernde Facetten.
«Le Bleu du caftan» steht für die Qualität des zeitgenössischen maghrebinischen Filmschaffens. Und liefert den Nachweis, dass Koproduktionen aus diesen Regionen mit etablierten westeuropäischen Filmnationen (wie hier Frankreich, Belgien und Dänemark) sinnvoll sind. Weil daraus Synergien erwachsen, die ambitioniertem kritischem Arthouse-Kino den Zugang zu massgebenden Filmfestivals und damit Türen zu internationalen Medien sowie Vertriebs- und Verleihmärkten öffnen: «Le Bleu du caftan» hatte 2022 am renommiertesten Festival, in Cannes, Premiere und gewann den Preis der internationalen Filmkritik (Fipresci). Und wurde später – angesichts der erwähnten brisanten Handlungsthematik keine Selbstverständlichkeit – am Festival in der marokkanischen Stadt Marrakesch mit dem Jury-Preis geehrt und als offizieller Beitrag für den Oscar-Wettbewerb eingereicht.
Nun ist «Le Bleu du caftan» im deutschsprachigen Raum zu sehen. Eine filmisch packende Leidens- und Erlösungsgeschichte mit einer universellen Kernbotschaft. Maryam Touzani resümiert sie so: «Die Freiheit zu lieben gehört uns, und nur uns. (…) ‘Le Bleu du caftan’ ist ein Film über die Freiheit, so zu sein, wie man ist, zu lieben, wen man lieben will, egal ob Mann oder Frau. Vor allem aber ist es ein Film über die Liebe, denn die Liebe umfasst all das.» Das von märchenhaft-geheimnisvoller Anmutung durchwirkte Filmbijou «Le Bleu du caftan» ist ein empathisches Plädoyer für beherzte, solidarische Mitmenschlichkeit.
«Le Bleu du caftan» (Frankreich, Marokko, Belgien, Dänemark 2022). Aktuell in Bern und Biel im «Mittags-Kino». Ab 2 März im «Lunchkino Zürich», ab 9. März überall Normalprogramm.