Als Historiker habe ich viel Zeit in Bibliotheken im In- und Ausland verbracht. Bibliotheken sind Schatzkammern des Geistes, und wenn ich eine Forschungsarbeit abgeschlossen hatte, pflegte ich beim Direktor der Bibliothek nachzufragen, ob ich vielleicht ein besonders schönes und kostbares Buch näher betrachten dürfe.
So geschah es auch, als ich vor Jahren an der John Carter Brown Library in Providence (Rhode Island) arbeitete. Diese Bibliothek, um die Mitte des 19. Jahrhunderts von einem Liebhaber schöner Bücher begründet, beherbergt eine einzigartige Sammlung alter Handschriften, Bücher und Landkarten zur Geschichte Nord- und Südamerikas. Ich wusste, dass zur Sammlung auch ein „Psalm Book“ aus dem Jahre 1640 gehört, der erste in den USA gedruckte biblische Text, das sich nur in wenigen Exemplaren erhalten hat. Ob es wohl möglich sei, fragte ich den Bibliotheksdirektor, das kostbare Werk anzuschauen, und war fast etwas überrascht, als dieser sagte, das sei überhaupt kein Problem.
Ein Assistent holte das Buch aus dem Tresor, und wir zogen uns in ein Büro zurück, um es in aller Ruhe zu betrachten. Es wurde ganz still im Raum, und ich dachte nicht ohne innere Bewegung an die puritanischen Auswanderer, denen solche Bibeltexte zur geistigen Wegzehrung dienten, als sie zu Beginn des 17. Jahrhunderts auszogen, um jenseits des Atlantiks eine neue, bessere Gesellschaft zu begründen.
Dann sagte der Direktor, er möchte mir noch etwas ganz Besonderes zeigen. Er holte ein unscheinbares Heft hervor und ich staunte nicht wenig, als er mir erklärte, es handle sich um ein Notizbuch des ersten amerikanischen Präsidenten George Washington, das sich im Besitz der Bibliothek befinde. Es waren bloss flüchtige Notizen ohne historischen Wert; aber ich war tief beeindruckt von diesem persönlichen Dokument einer herausragenden amerikanischen Politikerpersönlichkeit, die mit ihrer vielfältigen Begabung, ihrem beharrlichen Fleiss und ihrer hohen Integrität Massstäbe gesetzt hatte, an denen sich jeder ihrer Nachfolger im Amt zu messen hatte.
In der Folge entspann sich eine lebhaftes Gespräch mit dem Bibliotheksdirektor über Gemeinsamkeiten und Unterschiede der schweizerischen und amerikanischen Demokratie, das mit einem humorvollen, ja neckischen Streitgespräch zur Frage endete, wer wohl die bedeutendere Persönlichkeit gewesen sei: George Washington oder Wilhelm Tell.
Heute denke ich gern an die John Carter Brown Library und ihre Mitarbeiter zurück, die dem Gast aus Europa in jeder Hinsicht behilflich waren und sich sichtlich darüber freuten, ihm die Schätze ihrer Bibliothek zeigen zu dürfen. Und ich frage mich besorgt, wie in aller Welt es möglich war, dass eine grosse Nation sich so weit vom Geist ihrer Gründerjahre entfernen konnte, um einen Menschen wie Donald Trump zu ihrem Präsidenten zu machen.