Der Ausblick der Baltischen Staaten hat sich mit der Finanz- und Wirtschaftskrise rasant verändert. In der Aufbruchsphase nach der Rückgewinnung der Unabhängigkeit setzte man voll auf westliche Investitionen, und die Medien konzentrierten sich mit Inbrunst auf die demokratischen Mängel beim Nachbarn Russland. Während der Finanzkrise wurde man sich dann bewusst, dass die westlichen Investitionen nicht selbstverständlich waren. Sogar das im Westen als Musterschüler bevorzugte Estland stellte fest, dass die konsumfreudigen Touristen aus dem Raum von Petersburg auch nicht zu verachten waren. Und in der mehrheitlich russischsprachigen Grenzstadt Narva ist man dabei, in den Räumen der wegen steigenden Löhnen nicht mehr konkurrenzfähigen Textilfirma Kreenholm Zweitwohnungen für vermögende Russen einzurichten.
Riga ist nicht Athen
Prominentester Beobachter Europas ist zweifellos der lettische Regierungschef Valdis Dombrovskis. Er steht als erster Ministerpräsident seit 1991 drei Regierungen vor und konnte zu Beginn des Jahres stolz mitteilen, dass sein Land nach dreijähriger Durststrecke alle Auflagen der westlichen Geldgeber (EU, IWF und Europäische Entwicklungsbank) erfüllt habe und dabei zugleich seine langfristigen Aussichten erheblich verbessert habe. Dombrovskis überlässt es den Medien, Lettlands Reformen mit dem griechischen Drama zu vergleichen. Er begnügt sich mit dem Urteil der Weltbank, die Lettland in der Studie „Doing Business“ für 2012 auf Rang 21 befördert hat.
Das vor 3 Jahren in Finanznot geratene Lettland schneidet jetzt auch besser ab als seine baltischen Nachbarn Estland und Litauen. Dombrovskis strebt aber nach weiterer Verbesserung und fordert, dass sein Land künftig weltweit zu den 20 wirtschaftsfreundlichsten Ländern gehören soll. In Europa, so Dombrovskis, werden Lettland, Litauen und Estland zusammen mit den nordischen Staaten künftig den stabilsten und dynamischsten Teil Europas bilden.
Litauen verkauft Russland Lebensmittel
Ich erinnere mich an ein Bild nach der Ankündigung des Baus einer deutsch-russischen Pipeline für Erdgas durch die Ostsee. Litauens Verteidigungsminister stellt sich damals in Vilnius neben den amerikanischen Vizepräsidenten und verurteilte das Unternehmen als neuen Stalin-Hitler-Pakt. Inzwischen blickt auch Litauen wieder mehr nach Osten. Ein führender Wirtschaftsvertreter ermahnte in diesen Tagen die litauischen Medien zu mehr Zurückhaltung gegenüber Russland. Putin sei zwar kein Musterdemokrat, aber sein Regime bedeute zumindest Stabilität. Er verwies auf das Vorbild Finnland, das gewisse Themen in Russland einfach übersehe und auf problemlosen Handel und gute Nachbarschaft setze.
Auch Politiker gehen jetzt davon aus, dass Litauen zu klein sei, um von Moskau als Gegner empfunden zu werden. Es gelte daher, die Kritik etwas zu dämpfen und an die lettischen Lastwagenkolonnen mit Lebensmitteln zu denken. Russland sei auf die Agrarlieferungen angewiesen und sei ein zahlungsfähiger Energielieferant. Die litauische Aussenpolitik setzt heute nicht mehr einseitig auf den Schutz der USA und die NATO. Man macht sich Sorgen über die europäische Boykottpolitik gegenüber Weissrussland, dessen wohlhabende Bürger im litauischen Grenzgebiet einkaufen. Boykott treffe im Nachbarland die Falschen, heisst es in den Medien. Man ist auch nicht begeistert über die Drohungen der EU gegenüber der Ukraine, die man im Westen und offenbar auch in Russland zur Freilassung der früheren Ministerpräsidentin Timoschenko bewegen möchte.