Die Hintergründe des Messerattentats auf den britisch-amerikanischen Schriftsteller Salman Rushdie am 12. August 2022 in Chautauqua, einer Ortschaft in der Nähe des Erie-Sees im US-amerikanischen Bundesstaat New York, treten erst langsam hervor. Doch schon jetzt zeigt sich, dass das Attentat in einem anderen Kontext steht als noch 1989, als Khomeini seine Verfügung, mit der er den Schriftsteller zur vogelfreien Person erklärt hat. Heute hingegen ist der Fall Rushdie in den iranischen Konflikt mit den USA eingebettet.
Der Attentäter
Der Attentäter Hadi Matar ist amerikanischer Staatsbürger; seine Eltern stammen aus der schiitischen Gemeinde des Dorfes Yaroun in Südlibanon in unmittelbarer Nachbarschaft zur Grenze zu Israel gelegen. Er wurde 1998 wahrscheinlich in Kalifornien geboren und wohnte zuletzt in der Gemeinde Fairview im Bergen County, New Jersey, gerade gegenüber von Manhattan am Hudson River gelegen. Matter benutzte als Identitätsausweis einen gefälschten Führerschein aus New Jersey, der auf den Namen Hassan Mughniyya ausgestellt ist.
Bislang sind die Motive seines Attentates unklar. Allerdings zeigt eine erste Durchsicht der von ihm benutzten sozialen Medien, dass er grosse Sympathien für die islamischen Revolutionsgarden in Iran, dessen ehemaligen Kommandanten Qassem Soleimani sowie Revolutionsführer Khamenei hegte. Wie er an eine Zutrittsberechtigung für die Lesung von Salman Rushdie an der Chautauqua Institution in Chautauqua, New York, gekommen ist, ist unklar. In jedem Fall kleidete er sich schwarz und nutzte die erste Gelegenheit, Salman Rushdie von hinten zu attackieren. Rushdie ist offensichtlich schwerer verletzt als zuerst angenommen. Es besteht die Gefahr, dass er ein Auge verlieren könnte, ausserdem ist durch einen Einstich seine Leber verletzt worden. Matar wurde von einem New Yorker Polizisten festgenommen.
Khomeinis Fatwa heute
Iranische Stellen befassten sich in den letzten 20 Jahren kaum noch mit der Causa Salman Rushdie. 1998 hatte der damalige iranische Präsident Khatami die Angelegenheit für «beendet» erklärt. Allerdings wurde von Seiten der Regierung betont, dass die Fatwa dem Ayatollah «gehöre» und dass sie vom Staat aufgehoben werden könne. So wurde der Revolutionsführer Khamenei immer wieder darauf angesprochen, ob er die von Khomeini am 14. Februar 1989 erlassene Verfügung, die er als Fatwa bezeichnet hatte, aufrechterhielte und ob er ihr weiterhin Gültigkeit zuspräche. Das letzte Mal wurde er am 13. Februar 2017 in dieser Hinsicht befragt:
«Wie Sie wissen, versuchen die Feinde des Islams, den Namen des verfluchten Lügners Salman Rushdie wieder ins Gespräch zu bringen, insbesondere auf der Frankfurter Buchmesse, um die historische Fatwa und die Persönlichkeit des verstorbenen Imam zu demütigen. In der Zwischenzeit haben die unislamischen und ungültigen gewalttätigen Aktionen der Takfiri-Gruppen (ultraislamischen Gruppen), die ihre satanischen Handlungen fälschlicherweise als islamische Dekrete ausgeben, dazu geführt, dass ein verzerrtes und gewalttätiges Bild des Islam entstand. Daher möchten wir unseren Wali al-Faqih (obersten Rechtsgelehrten) und unsere Mardscha῾ (Oberste Autorität) angesichts der oben genannten Fakten fragen: Ist die Fatwa über die 'irtidad' [Abtrünnigkeit vom Islam] des verfluchten Lügners Salman Rushdie noch in Kraft? Was ist die Pflicht eines Muslims in dieser Hinsicht?»
Khamenei, der in früheren Stellungnahmen davon gesprochen hatte, dass das Dekret «wie eine abgefeuerte Kugel» sei, «die nicht ruht, bis sie ihr Ziel trifft», antwortete kurz und bündig: «Das Dekret hat wie von Imam Khomeini erlassen Bestand.»
Medienreaktion
Iranische Medien, die wie Kayhān dem Revolutionsführer Khamenei und den Revolutionsgarden nahestehen, priesen den Angriff auf Rushdie. Reformorientierte Medien wie E’temad hingegen distanzierten sich von dem Attentat. Keyhan-Zeitung lobte das Ereignis und wünschte dem Angreifer «100 Segnungen Gottes». Der Kommentator fügte hinzu: «Herzlichen Glückwunsch an diesen mutigen und pflichtbewussten Mann, der den abtrünnigen und verdorbenen Salman Rushdie in New York angegriffen hat. Lasst uns die Hände desjenigen küssen, der dem Feind Gottes mit einem Messer den Hals durchgeschnitten hat.» Die nicht minder nationalreligiös eingestellte Zeitung Khorasan machte mit der Schlagzeile auf: «Satan ist auf dem Weg in die Hölle.»
Rückbindungen
Es gibt bislang keine Hinweise auf direkte Verbindungen zwischen dem jungen Mann und iranischen Stellen oder gar den Revolutionsgarden. Offensichtlich hat Matar allein gehandelt. Aus seinen Sympathien für den libanesischen Hisbollah hat er keinen Hehl gemacht. Der gefälschte Führerschein lautete auf den Namen Hassan Mughniyya: dabei kombinierte er den Namen des derzeitigen Generalsekretärs von Hisbollah, Hassan Nasrallah, mit dem Namen des Mitbegründers und ehemaligen Militärchefs von Hisbullah, dem 2008 bei einem Bombenanschlag in Damaskus getöteten Imad Mughniyya. Auf seinen heute nicht mehr zugänglichen Accounts bei Sozialen Medien bebilderte er seine Idealwelt mit Fotos von Khamenei, von nahestehenden Klerikern, Soleimani und anderen Kommandanten der islamischen Revolutionsgarden. Offenbar hat sich Matar als Agent dieser imaginierten Welt in ihrem Kampf gegen die USA und ihre Verbündeten gesehen. Die Tatsache, dass er sich zu seinem Attentat schwarz kleidete, mag belanglos gewesen sein. Vielleicht aber spielt sie auch das Bedürfnis des Attentäters, fünf Tage nach dem schiitischen Buss- und Trauertag «Aschura» selbst eine Buss- und Vergeltungstat durchzuführen, also das Drama von Kerbela 680 aufzugreifen, bei dem der Enkel des Propheten Muhammad, Husain, von umayyadischen Kriegern getötet worden war.
Doch weder Hisbollah noch das offizielle Teheran haben sich zum Attentat geäussert. Ein Hisbollah-Vertreter in Beirut stellte klar, dass die Organisation «nichts in dieser Sache wisse und sie auch nicht weiter kommentieren werde». Auch iranische Stellen haben bislang noch keine offizielle Stellungnahme abgegeben. Mag sein, dass das iranische Regime nachträglich versuchen wird, aus dem Attentat für eigene Zwecke Kapital zu schlagen. Ein Anzeichen hierfür ist die Warnung in iranischen Medien, dass auch die Rache für Soleimani nie vergessen werde und dass es den für den Tod Soleimanis Verantwortlichen in den USA genauso ergehen könnte wie Rushdie, der 33 Jahre nach seiner «Verurteilung» zur Rechenschaft gezogen sei.
Ein neuer Kontext
Damals am 14. Februar 1989, als Imam Khomeini seinen Fatwa genannten Freibrief publizierte, ging es dem iranischen Regime darum, sich nach den achtjährigen Verheerungen des iranisch-irakischen Kriegs die Initiative zurückzugewinnen und eine neue Legitimität aufzubauen. Die Klage zweier indischer Parlamentarier gegen eine Verbreitung des Romans «Die Satanischen Verse» in Indien fünf Monate vor Khomeinis Fatwa hatte vor allem in pakistanischen und indischen Gemeinden den Protest befeuert. Khomeinis verspätete Reaktion zeigte, dass damals Iran versuchte, eine Führungsrolle in schon bestehenden Protesten zu gewinnen. Schon damals hatte die arabische Öffentlichkeit eher zurückhaltend reagiert. Entsprechend distanziert berichten heute arabische Medien. Sie reduzieren die Hintergründe des Attentats auf eine Auseinandersetzung zwischen Iran und dem Westen und tendieren gleichzeitig dazu, die Motive des Attentats zu entislamisieren. Damit wird klar: Propagandistisch wird das Attentat in die Auseinandersetzungen zwischen Iran und seinen Verbündeten auf der einen und den USA und der neuen arabischen Allianz gegen Iran auf der anderen Seite eingebettet werden. Und damit ist klar: Das Attentat wird noch gravierende Folgen haben.