15. März 1921: Mehmed Talât verlässt um 10.45 Uhr seine Wohnung an der Hardenbergstrasse 4 in Berlin. Er ist auf dem Weg, um sich Handschuhe zu kaufen. Ein junger Armenier nähert sich ihm und erschiesst ihn von hinten. Talât, der für den Tod von bis zu einer Million Armenier verantwortlich ist, bleibt zugedeckt auf dem Gehsteig liegen – über zwei Stunden lang.
Sein Schatten liegt noch heute über der Türkei: nicht nur wegen des Armenier-Genozids. Er, der machtbesessene, rechtsgerichtete Revolutionär, ist der Gründer der nationalistisch-muslimischen Türkei. Er trieb auch Hunderttausende Christen und Kurden in den Tod.
Moscheen und Schulen sind nach ihm benannt
Andere Religionen als den Islam duldete er in seinem Staat nicht – andere Ethnien auch nicht.
Talâts Ziel war es, das zerfallene, glorreiche Osmanische Reich wieder zu alter Grösse zu bringen. Dazu waren ihm alle Mittel recht. Er, der Gründer des ersten europäischen Einparteien-Regimes, beeinflusst die türkische Politik bis heute. Obwohl er Hunderttausende Menschen auf dem Gewissen hat, wird er noch heute in der Türkei verehrt. Schulen und Moscheen sind nach ihm benannt.
Eine erste umfassende Biografie
In westlichen Geschichts- und Schulbüchern werden vor allem die Verdienste von Kemal Atatürk, dem „Vater der modernen Türkei", gelobt. Doch der Ziehvater von Atatürk war Mehmed Talât. Atatürk kann zwar einige Verdienste für sich buchen, doch die grosse Linie seiner Politik hat Talât vorgezeichnet. Eine umfassende, distanzierte historische Aufarbeitung von Talâts Leben und seiner Philosophie fand bisher nicht statt.
Der Schweizer Historiker Hans-Lukas Kieser, der an der Universität Zürich und im australischen Newcastle lehrt, hat nun als Erster eine wuchtige, grandiose, 440 Seiten dicke politische Biografie dieses Mannes vorgelegt. *) Kieser stützt sich dabei auf viele unveröffentlichte Dokumente aus osmanischen, armenischen, deutschen, österreichischen, britischen und israelischen Archiven. Wer die Türkei von heute wirklich verstehen will, kommt um dieses Buch nicht herum.
Verletzter Nationalstolz
Das Osmanische Reich, das über Ägypten bis nach Libyen reichte, schrumpft immer mehr. Im Ersten Balkankrieg (1912/13) verliert das Reich alle europäischen Provinzen. Österreich besetzt Bosnien-Herzegowina, Bulgarien ruft die Unabhängigkeit aus, Italien besetzt Libyen. Auch Serbien und Montenegro gehen verloren.
Dieser verletzte Nationalstolz ist die Triebfeder für die Jungtürken, die sich am 23. Januar 1913 an die Macht putschen. Die anfänglich demokratisch gesinnte jungtürkische Bewegung verwandelt sich in eine Diktatur. Der unbestritten starke Mann ist Talât, der die Schule ohne Abschluss verlassen hatte.
Abschied von multinationaler Koexistenz
Kieser beschreibt ihn so: „Sein Wesen war eher von Schläue und Gerissenheit gekennzeichnet als von Intelligenz und Weitsicht, aber er besass unbestritten die notwendigen Qualitäten eines Netzwerkers, einen starken Machtinstinkt und ein sehr gutes Erinnerungsvermögen, damit verbunden allerdings auch eine Neigung zu Rachgier.“ Vor allem auch trat er stets charmant, zuvorkommend, freundlich und humorvoll auf. Er konnte die Leute in seinen Bann ziehen. Und: „Er war der letzte mächtige Führer des Osmanischen Reichs.“
Der Verlust von fast allen europäischen Gebieten „machten ihn und seine Freunde zu radikalen Anhängern eines neuen türkischen Nationalismus. Damit verabschiedete er sich auch vom letzten Rest des Glaubens an eine multinationale osmanische Koexistenz auf Verfassungsbasis“, schreibt Kieser.
Beseitigung „unguter Elemente“
Beeinflusst werden Talât und die Jungtürken immer mehr von Ziya Gökalp, einem reaktionären, rechtsrevolutionären Spiritus Rector. Er träumt von „Turan“, einem islamischen Phantasiestaat weit im Osten – einem Gebilde, das von den Türken dominiert würde.
„Die Aufgabe der Führer Turans sollte es sein, die Gesellschaft zurechtzustutzen, sie von ihren unguten Elementen zu reinigen und neue Elemente einzupfropfen“, schreibt Kieser. Gökalps Einfluss sei bis heute in der AKP zu spüren.
Pakt mit Deutschland
Nach Beginn des Ersten Weltkrieges geht Talât einen Pakt mit den Deutschen ein und erklärt, an der Seite Deutschlands, den Entente-Mächten (Frankreich, Grossbritannien, Russland) den Krieg. In Deutschland herrscht damals eine fanatische protürkische Stimmung.
Der Krieg verläuft im Winter 14/15 für die Türken an allen Fronten deprimierend: überall Niederlagen. Dann endlich ein Erfolg: Am 19. Februar 1915 beginnt die Schlacht auf der türkischen Halbinsel Gallipoli gegen die Engländer und Franzosen. Die Türken gewinnen überraschend. Der Sieg löst im Land ein Hochgefühl aus. Talât entschliesst sich nun, die Armenien-Frage „endgültig zu lösen“.
„Fanatischer Hass“
Nach dem Ersten Balkankrieg wandelt sich Talâts einst freundschaftliche Haltung gegenüber den Armeniern in „fanatischen Hass“. Er betrachtete sie als Haupthindernis auf dem Weg zu einer türkischen Zukunft.
Gerechtfertigt wird das Morden mit der Behauptung, dass die Armenier Aufstände gegen den türkischen Staat vorbereiteten – was erwiesenermassen nicht stimmte. Die Muslime würden von fremden Mächten und den Armeniern bedroht, hiess es. Es drohe eine Abspaltung der östlichen Provinzen vom Reich. Die Armenier seien die Speerspitze der Engländer, um das osmanische Reich zu zerstören, sie seien Feinde des Islam. Auch die Russen werden beschuldigt. Sie hätten den Armeniern ein Fürstentum versprochen, welches aus Teilen der osmanischen Ostprovinzen und dem südlichen Kaukasus bestehen soll.
Hass auf Christen
Doch nicht nur die Armenier gelten Talât als Feinde. Im Sommer 1914 werden 200’000 Rûm, griechische Christen, die an der anatolischen Küste lebten, vertrieben. Bewaffnete Banden sorgen für Terror. Plünderungen und Morde finden statt. Immer mehr entwickeln die türkischen Nationalisten einen glühenden Hass auf die Christen.
Der Sieg an der äusseren Front bleibt aus. Den Nationalisten gelingt es nicht, das verlorene Land, oder zumindest einen Teil davon, zurückzugewinnen. So sucht man einen Erfolg an der inneren Front.
„Vernichtungsradikalismus“
Der Genozid an den Armeniern verläuft in zwei Phasen. Talât war es, der 1915 „den Plan für eine beinahe vollständige Entfernung der armenischen Mitbürger aus Kleinasien und den europäischen Gebieten der Türkei entwarf und umsetzte“, schreibt Kieser. Und zwar mit einer systematischen Massentötung und einem „landesweiten Vernichtungsradikalismus“. Hunderttausende kommen so ums Leben.
Dann, zweite Phase: Weitere Hunderttausende Armenier, die in der Türkei noch nicht massakriert worden sind, werden in die syrische Wüste zwischen Aleppo und Der ez-Zor vertrieben. Dort verhungern sie oder werden getötet. Zwischen März und Oktober 1916 „wurden mehr als 200’000 Überlebende massakriert, bei lebendigem Leib verbrannt oder ertränkt“. Die Massentötungen beginnen im März 1916.
800’000 bis eine Million Tote
„Damit“, schreibt Kieser, „war die jahrtausendalte armenische Existenz in der Region weitgehend ausgelöscht, einschliesslich Kultur, Religion und Sprache.“ Über die Zahl der getöteten Armenier gehen die Angaben auseinander: man spricht von 800’000 bis einer Million Toten. „Die Zivilisten wurden ausgeplündert, vergewaltigt, entführt und massenhaft ermordet ..., ohne dass die Täter irgendeine Form von Bestrafung befürchten mussten.“
Schon Ende August 1915 schrieb Talât, es bedürfe keiner weiteren Gräueltaten mehr, denn „die Angelegenheit der Armenier als Problem der Ostprovinzen ist erledigt“.
„Grösstes Verbrechen aller Zeiten“
Das Morden geht selbst einigen Weggenossen von Talât zu weit. Mehmed Cavid, der Finanzminister spricht in seinem Tagebuch von „monstruösem Morden“ und „immensem Ausmass der Brutalität, wie es die osmanische Geschichte zuvor noch nie gesehen hatte, auch in ihren dunkelsten Zeiten nicht“. Der amerikanische Botschafter Morgenthau spricht vom „grössten Verbrechen aller Zeiten“. Es ist nicht so, dass das alles im Geheimen geschieht. Doch die internationale Gemeinschaft, auch viele Konsule, schauen zu und reagieren nicht.
Deutsche Diplomaten und die deutschsprachige Presse (ausgenommen der kritischen Deutschschweizer Presse) übertreffen sich in Lobgesängen auf den „starken“ Talât Pascha. Der deutsche Kaiser Wilhelm II. besucht ihn am 15. Oktober 1917 in Istanbul. Der österreichische Kaiser Karl kommt im Mai 1918 in die türkische Hauptstadt. Kein Wort von einer Verurteilung der Massaker. Im Gegenteil: beide zeichnen Talât mit Medaillen aus.
Freispruch für Talâts Mörder
Mit der deutschen Niederlage im Ersten Weltkrieg bricht der Grundpfeiler von Talâts Türkei weg. Zwischen Berlin und Istanbul kommt es zu ernsthaften Spannungen. In Deutschland werden endlich erste Artikel und Informationen über den Genozid bekannt. Talât hat seinen deutschen Mentor verloren. In der Türkei herrscht Katzenjammer, Armut und Hunger. Talât tritt zurück und flieht nach Berlin.
Am 15. März 1921 wird er von Soghomon Tehlirian erschossen. Neben Ankara trauert ein grosser Teil des offiziellen Deutschland. Sogar Gustav Stresemann, der stets gelobte Aussenminister der Weimarer Republik, schlägt vor, eine Erinnerungsfeier für den Toten abzuhalten. Der Attentäter, der einzige Überlebende einer zwölfköpfigen armenischen Familie, wird von einem Berliner Gericht freigesprochen. Vor Gericht stand primär nicht er, sondern der Genozid.
Atatürk, in den Fussstapfen Talâts
Zu den Stärken dieses Buches gehört auch die Einordnung von Atatürk, dem Nachfolger Talâts. Er hatte in Ankara eine Gegenregierung und ein Gegenparlament installiert. Er wird im Westen als Modernisierer der Türkei gelobt. Und die Schweiz ist besonders stolz auf ihn, weil er das Schweizerische Zivilgesetzbuch ZGB eingeführt hat. Tatsächlich hat er viele Verdienste, vor allem trennte er den Islam vom Staat.
Doch Atatürk tritt in vielem in die Fussstapfen seines Vorgängers. Auch er verfolgt das Ziel einer türkisch-muslimischen Herrschaft. Auch er trägt diktatorische Züge. „Niemand war befugt“, schreibt Kieser, den „Kurs der Jahre zuvor in Frage zu stellen.“ Auch Atatürk schürte Angst vor den zurückkehrenden Armeniern. „So starteten denn auch seine Streitkräfte im Juni 1920 einen ihrer ersten Feldzüge gegen armenische Stellungen.“ „Schon zu Kriegszeiten hatte Kemal (Atatürk) sich in der Frage einer möglichen Rückkehr von armenischen Überlebenden vollumfänglich hinter Talât gestellt und eine Rückkehr a priori abgelehnt.“ Auch Atatürk ist der Ansicht, dass „diese Menschen keinerlei Recht (haben), auf den Boden der Türkei zurückzukehren“.
Vertrag von Lausanne
Scharf geht Kieser mit dem 1923 geschlossenen Vertrag von Lausanne ins Gericht. „Warum loben Generationen von Diplomaten und Politikern noch immer den Vertrag von Lausanne?“, schreibt er. Der Vertrag billige „Talâts Vermächtnis, statt es aufzuarbeiten“.
„So kam es, dass der Friedensvertrag von Lausanne sowohl autoritäre Herrschaftsstrukturen als auch das ‘Entflechten’ der Bevölkerung nach religiösen Kriterien befürworten konnte.“ Im Klartext: Der Vertrag billigt indirekt den Massenmord an den Armeniern, Kurden und Christen.
Exklusive Rechte für Muslime
Talât machte das Osmanische Reich zu einem diktatorischen, ultranationalistischen Parteistaat. Atatürk identifizierte sich mit den Kernanliegen seines Vorgängers und gab damit auch im Nachhinein seine „uneingeschränkte Zustimmung“ (Kieser) zum Völkermord an den Armeniern.
Sowohl Talât als auch Atatürk kämpften für eine autoritär geführte, türkisch-muslimische Nation. Auch Atatürk, der christenfeindliche Reden hielt, glaubte, die Muslime hätten exklusive Rechte und das Türkentum sei der Ursprung menschlicher Zivilisation. Auch in Atatürks Republik wurde die Bevölkerung nach religiösen, ethnischen und ideologischen Kriterien diskriminiert – oder getötet. 1937/38 wurden während des Kurdenaufstandes in Dersim weit über 10’000 alevitische, kurdische Zivilisten umgebracht.
Talâts Geist beherrscht die AKP
Zwar entwickelte die Türkei ein Mehrparteiensystem. „Dennoch erwuchs daraus keine nachhaltige Demokratisierung“, schreibt Kieser. Auch wenn nach wie vor auf dem Papier das schweizerische ZGB gilt: In der Realität schreitet die Islamisierung voran. Die Aufarbeitung des Armenier-Genozids wird nach wie vor erstickt.
Und heute? Staatspräsident Erdoğan hat das Erbe von Talât und Atatürk verinnerlicht. Er rezitierte jüngst ein Gedicht Gökalps: „Die Moscheen sind unsere Kasernen/Die Kuppeln unsere Helme/Die Minarette unsere Bajonette/Und die Gläubigen unsere Soldaten.“ Kieser schreibt: „Der Geist von Talât und Gökalp ist somit aufgelebt und hat sich der regierenden türkischen Partei für Gerechtigkeit und Fortschritt AKP bemächtigt.“ Eine Partei, die in den frühen 2000er Jahren so hoffnungsvoll begonnen hatte.
Hans-Lukas Kieser: Talât Pascha. Gründer der modernen Türkei und Architekt des Völkermords an den Armeniern. Eine politische Biografie
440 Seiten, Übersetzt aus dem Englischen von Beat Rüegger.
Zürich: Chronos Verlag, 2021