Was die Kuratorin Daniela Hardmeier unter dem Titel „Ich/Nicht Ich. Selbstporträts“ aus den Beständen des Zürcher Kunsthaus ausgewählt und in einen Zusammenhang gebracht hat, mag als Gesamtbilderreigen nicht immer zwingend erscheinen – egal: die einzelnen Bilder faszinieren und sie eröffnen einem Zugänge zu einem Thema, das sich sowohl in der Kunst wie in der Literatur grösster Beliebtheit erfreut und sich um ständige Aufmerksamkeit seitens des Publikums nicht zu sorgen braucht Im Bildbereich ist es der Selfie-Kult, der das Phänomen der Selbstbespiegelung mengenmässig ins Gigantische, qualitätsmässig ins Alltägliche und Triviale treibt; im Textbereich sind es Bestsellerautoren wie der Norweger Karl Ove Knausgard, die ihre Selbstentblössung auf Tausenden von Seiten in einer ganz nah an der Alltagsrealität angesiedelten Sprache manifestieren, die mit Stil oder Literatur kaum mehr etwas zu tun hat.
Da verfolgt die kleine Ausstellung im Kunsthaus schon andere Ziele. Sie richtet sich mehr nach innen als nach aussen; den ausgestellten Künstlern geht es eher um Selbsterforschung denn um Selbstentblössung. Das Ich, dessen sie malend oder fotografierend habhaft werden wollen, droht sich ihnen zu entziehen. Es ist „ein anderer“, wie es Arthur Rimbaud in seinen „lettres du voyant“ formuliert hat, oder es ist ein verunsichertes, ein fremdes Ich, ein „Ich ohne Gewähr“, wie es die Zürcher Literaturwissenschafterin Gerda Zeltner in einer 1980 erschienenen Schrift anhand einiger stilbildender Figuren der modernen Literatur beschrieben hat. Das Ich in der Mehrzahl, in verschiedenen Rollen, ein gesellschaftliches Phänomen, das man an sich und an anderen beobachten kann, hat in der modernen Kunst zunehmend an Gewicht gewonnen und einprägsame Vertreterinnen und Vertreter gefunden – sie sind in der Ausstellung vertreten.
Von Hodler bis Giacometti
Selbstbewusst, aufmerksam, fast ein bisschen kämpferisch schaut uns der 40-jährige Ferdinand Hodler an, im Halbprofil. Da präsentiert sich ein sprungbereites, seiner selbst gewisses Ich. Viel später, als älterer Mann, wendet er sich uns ganz zu. Jetzt sind sein zerfurchtes Gesicht, seine Schultern, sein Oberkörper zu einer Art Landschaft geworden, wie man sie von ihm kennt. Nachdenklichkeit statt Gewissheit, Skepsis vielleicht. Die Augen fixieren den Betrachter. Ein durchdringender Blick trifft uns, illusionär, aus der Leinwand. Setzt man sich ihm eine Weile aus, kommt es einem vor, als ob er gleichermassen nach aussen wie nach innen gerichtet sei.
Ganz anders der 20-jährige Alberto Giacometti. Halb sitzend, halb kniend scheint er im Bildformat kaum Platz zu finden, wirkt mächtig und, mit einem Atelier-Hintergrund, fast ornamental. Als Künstler, als Maler inszeniert er sein Ich, zeigt uns den Malkasten auf dem Knie, führt die Hand zur Staffelei und schaut uns an, aber so, als befände er sich anderswo, in einer fremden Welt. Da deutet sich, in der Spiegelung, das Rollenspiel an. Ich ist ein anderer. Vielleicht viele andere.
Breton und der Automat
Die Fotografie hat das Selbstbildnis revolutioniert. Was in kurzen oder langen Aktionen auf Papier, auf Leinwand gebracht wurde, was dort Form und Farbe, Gestalt annahm, korrigiert werden konnte, wird jetzt mit eine Druckbewegung erledigt. Der Selbstauslöser ermöglicht das Ich-Bild. Es ist aus der Realität geschnitten und kann, paradoxerweise, genau so unwirklich, fremd wirken wie das gemalte Selbstporträt.
1926 wurde der Fotoautomat erfunden. 1929 liess sich der Vater des Surrealismus, André Breton, vom Fotoautomaten abbilden. Die Erfindung passte ins surrealistische Konzept. In der Welt des Bildes entsprach sie dem von Breton und seinen Freunden propagierten automatischen Schreiben. Wie inszeniert Breton sein Ich vor dem Fotoautomaten? Er wendet sich ab, schaut nach unten und schliesst die Augen. Dunkelheit, Leere, Irrationalität, Traum, Unterbewusstsein: Eigenschaften des surrealistischen Systems werden in so einem Selbstbildnis kommuniziert. Das Ich als Es, als Gefäss für Impulse und Inspirationen, die von aussen kommen. Rimbaud und sein anderes Ich hätten sich bestätigt gefühlt, ebenso die vervielfältigten, inszenierten, maskierten Ichs, die im Gefolge des Surrealismus in der Kunst wie in der Fotografie ihre Verwirrspiele spielen.