Er ist ein Bandit, ein Mörder, ein Brandstifter, ein Plünderer. Hier, hoch oben, zwischen Himmel und Erde, thront er. Noch heute wird er verehrt.
Er stammt aus einem adligen Patrizierhaus und ist einer der gefürchtetsten Räuber seiner Zeit. Alle, die in «seine Umgebung kamen, liess er ausplündern» (Boccaccio). Nur arme Leute verschont er und lädt sie zu einem Festmahl ein. Seinem Hauptfeind schlägt er den Kopf ab, spiesst ihn auf und stellt ihn in seinem Räubernest zur Schau.
Das war vor über 800 Jahren.
Geboren wurde Ghino di Tacco im Weiler «La Fratta» bei Torrita di Siena in der Toscana, dort, wo heute weisse Chianina-Rinder gezüchtet werden.
«Banda dei Quattro»
Zusammen mit seinem Vater, seinem Onkel und seinem jüngeren Bruder bildet Ghino ein legendär gewordenes Verbrecher-Quartett: die «Banda dei Quattro».
An einem sonnigen Juli-Tag im Jahr 1279 besetzt die Bande die Burg von Torrita, setzt sie in Brand, plündert sie und verletzt einen Adligen schwer.
Sechs Jahre später wird die Räuberbande festgenommen. Doch Ghino und sein Bruder entkommen. Der Vater und der Onkel werden gefoltert und auf der Piazza del Campo von Siena geköpft. Ein berühmter Richter, Benincasa da Laterina, hatte das Todesurteil gefällt. Was der Richter nicht ahnt: Dieses Urteil bedeutet sein eigenes Todesurteil.
Bollwerk auf dem Vulkan
Nach der Enthauptung seines Vaters flüchtet Ghino ins fünfzig Kilometer entfernte «Radicofani». Diese Bergfestung gilt als eines der faszinierendsten Gebilde der italienischen Landschaft. Das Bollwerk steht auf einem erloschenen, fast 800 Meter hohen Vulkankegel. Der von weitem sichtbare Basaltklotz ragt wie ein schwarzer, schroff abfallender Altar aus der flachen Landschaft, so, als würden hier oben den Göttern Opfer gebracht.
Bei gutem Wetter sieht man im Westen das Tyrrhenische Meer und im Osten die Abruzzen. Und wer hier im Kastell, zwischen Himmel und Hölle, eines dieser hier üblichen schaurigen Gewitter erlebt, der fühlt sich der Hölle näher als dem Himmel.
Radicofani (Betonung auf o) gilt damals als unbezwingbare Burg. Doch Ghino schart gewaltbereite Getreue um sich und erobert das Kastell. Von hier aus dirigiert er seine Raubzüge.
Die Pilgerstrasse
Radicofani liegt an der damals stark begangenen «Via Francigena», der Pilgerstrasse, die von Norden über Siena nach Rom führt. (Sprich: Fransch-I--schena, Betonung auf dem I).
Tausende und Abertausende Gläubige pilgern hier seit Jahrhunderten zum Papst, um auf Vergebung ihrer Sünden zu hoffen.
Erzbischof Sigerich von Canterbury beschreibt im Jahr 990 als Erster die Via Francigena. Sie führt von Canterbury in 80 Etappen nach Rom: über Calais, Reims, Besançon, Lausanne, Martigny, Grosser Sankt Bernhard, Aosta, Piacenza, Lucca, San Gimignano, Siena, Radicofani, Viterbo.
Ghino di Tacco lässt sich diesen Pilgerstrom nicht entgehen. Viele der Gläubigen überfällt er und raubt sie aus.
Der gerächte Vater
Inzwischen macht Richter Benincasa, der das Todesurteil gegen Ghinos Vater gefällt hatte, in Rom Karriere. Er wird Senator und Auditor am Hof des Kirchenstaates. Ghino hatte sich geschworen, sich an ihm zu rächen. Mit vierhundert Mann und einer Pike bewaffnet dringt er in den päpstlichen Hof auf dem Römer Kapitol ein, enthauptet den Richter, spiesst seinen Kopf auf die Pike und bringt ihn triumphierend nach Radicofani. Dort hängt er den Skalp am Turm seiner Festung auf.
Dante erwähnt den Mord in seiner «Divina Commedia». Im sechsten Gesang des Fegefeuers heisst es: «Da war der Aretiner, der durch die ungezähmten Arme des Ghino di Tacco den Tod fand.» (Der Richter stammte aus Arezzo; die Einwohner Arezzos heissen «Aretiner».)
Wasser und getrocknete Saubohnen
Nicht nur Dante, auch Boccaccio erzählt in seinem Decamerone eine Geschichte von Ghino di Tacco (2. Novelle des 10. Tages). Danach, so berichtet Boccaccio, begibt sich der wohlhabende Abt von Cluny, «einer der reichsten Prälaten der Welt», nach Rom, um Papst Bonifatius VIII. das Geld zu übergeben, das er von seinen Gläubigen eingetrieben hatte. Doch in Rom ist sein Fleisch schwach; er gibt sich allerlei leiblichen Genüssen hin, trinkt zu viel Alkohol und schlemmt von morgen früh bis tief in die Nacht.
Als er sich «mit glanzvollem Geleit» auf die Rückreise nach Cluny begibt, erfährt Ghino von seinem Vorbeikommen, nimmt ihn gefangen und bringt ihn in seinen Turm, wo er ihn in ein «ziemlich dunkles, ungemütliches Kämmerchen» einsperrt. Dem Abt geht es nicht gut. Seine Ausschweifungen am Tiber führten zu schweren Leber- und Magenbeschwerden. Ghino verköstigt ihn nur mit Wasser, etwas Wein und getrockneten Saubohnen.
Dann, nach einer Zeit harten Fastens und leiblicher Entbehrungen, fühlt sich der Gefangene «auf wundersame Weise» wie neugeboren, und Ghino gibt ihm die Freiheit wieder. Der überglückliche Abt fährt nach Rom zurück und überbringt dem Papst die frohe Botschaft. Dieser lacht, und als Dank begnadigt er den Mörder von Richter Benincasa. Mehr noch: Bonifatius VIII. ernennt Ghino zum Ritter des «San Giovanni»-Ordens und verleiht ihm ein grosses Hospitaliter-Priorat.
Vorlage für Robin Hood
Der Gelehrte Benvenuto da Imola, der fast zur gleichen Zeit wie Ghino lebte, beschreibt Ghino als «bewundernswerten, grossen, kräftigen Mann». Auch Boccaccio sieht in ihm nur Positives. Ghino sei «ein Bandit mit einer ehrlichen Seele, ein positiver Held, ja, ein Träger vorbildlicher Werte».
Heute ist Ghino eine Kultfigur. Dass er mordete, brandschatzte und Pilger überfiel, wird ihm verziehen. Denn er kämpfte, so heisst es, gegen die kirchlichen Machthaber, die das Volk mit überhöhten Steuern ausbeuteten. Der Mord am Richter sei eine gerechte Strafe für den Vertreter dieses Systems. Immer wird erwähnt, dass Ghino nur die Reichen plünderte und die Armen laufen liess und sie sogar zum Essen einlud. Deshalb gilt er heute in Italien als «Gentleman-Bandit», als eine Vorlage für Robin Hood.
Viele kennen in der Toscana den Namen des italienischen Staatspräsidenten nicht: Den Namen Ghino di Tacco kennen alle. In Radicofani und in Torrita di Siena sind Strassen nach ihm benannt. Viele nennen ihn zärtlich «Ghinetto». Der frühere italienische Sozialistenführer Bettino Craxi unterschrieb seine Leitartikel in der Zeitung «Avanti» mit dem Pseudonym Ghino di Tacco. In Radicofani und Sinalunga stehen Denkmäler des einstigen Banditen.
Dutzende illegitimer Kinder
Noch immer wandern jährlich Tausende auf der Via Francigena Richtung Rom und machen Halt in Radicofani. Heute zählt das herausgeputzte Städtchen fast tausend Einwohner.
Zum Beweis, dass sie hier vorbeikommen, drücken die Gläubigen einen Stempel in einen Pilger-Pass. Ironie: Die oft streng katholischen Wanderer finden das Kästchen mit dem Stempel ausgerechnet im früheren jüdischen Ghetto.
Unklar ist, wann und wo Ghino gestorben ist. Die einen sagen, er habe bis zu seinem Lebensende in Rom gelebt. Andere glauben, er sei nahe bei seinem Geburtsort in La Fratta ermordet worden, als er versucht habe, einen Streit zwischen Soldaten und Bauern zu schlichten.
Ghino hat offenbar auch einiges zur Bevölkerungsentwicklung in seiner Region beigetragen. Wahrscheinlich hatte er Dutzende illegitimer Kinder. Heute erzählen noch einige Frauen und Männer in Radicofani und Torrita voller Stolz, sie würden von Ghino abstammen.