Von Andy Aguirre Eglin
Gute Filme lassen sich durch aufsitzenden Kommerz nicht kleinkriegen. So überrascht das 8. Zürcher Film Festival mit einer ganzen Reihe intensiver Wettbewerbsbeiträge mit starken Bildern und berührenden Inhalten.
Teflon-Design, Flaggen wie vom apokalyptischen Reiter, metallisch gülden, ohne Herz. So präsentiert sich das Zürcher Film Festival ästhetisch. Nichts Fröhliches, keine wirkliche Farbe. No Emotion. Eine Veranstaltung vom Reisbrett. Auch das durchaus freundliche Personal gewandet sich in Schwarz wie auf zweitklassigen Werbebüroetagen, wo uniformer Gestus fehlende Inspiration mimt. So ist man überrascht, wenn die Moderatoren vor der Leinwand richtige Menschen sind, Kompetenz und Wärme, ja Herzblut ausstrahlen. Als würden sie entgegen der Order für Augenblicke das Visier lüften, als blickte man hinter die schwarzen Masken.
So ist es schwierig, am Zürcher Film Festival warm und fündig zu werden. Doch nicht nur eitle Kritikaster, die eh’ immer etwas zu meckern haben, die sich als ‚Weisse Ritter’ gegen ‚Schwarze’ in Pose werfen, können so empfinden. Auch Frau S. vom Kiosk in Hottingen ereifert sich: „Haben Sie die Fahnen gesehen, ich dachte, die sind vom ‚Schwarzen Block’. Ich geh doch nicht an eine Beerdigung!“ – Die herbstliche Filmmeile ums Zürcher Bellevue scheint auch bei der produktiv arbeitenden Bevölkerung nicht auf viel Begeisterung zu stossen – als Ambiente für lebendigen Geschichten, für Filme im Dienste menschlicher Wahrheitssuche.
Lechzen nach Gut und Böse – nach Erlösung
Doch gute Filme lassen sich durch aufsitzenden Kommerz nicht kleinkriegen. Sie zäumen das Trojanische Pferd von hinten auf, bringen fast natürliches Licht ins Saaldunkel, sprengen Korsett und Sattel von denen, die sie zureiten wollen. So überrascht das 8. Zürcher Film Festival mit einer ganzen Reihe intensiver Wettbewerbsbeiträge mit starken Bildern und berührenden Inhalten. Es dringt gar Poesie durch die lackierte Rüstung und schillernde Kulisse für die Massen. Worin besteht denn ihre Disziplinierung? – Es ist die (nicht nur) in Hollywood seriell produzierte Mythologie einer Scheinwelt von Helden und Stars, wonach die Zuschauer, wenn auch nur kurzzeitig, würdevoll und breitbeiniger aus dem Kino schreiten. Doch hilft die Mimikry einer fremden Identität im Alltag weiter?
Im Grunde spiegelt die heroisierende kapitalistische Kulturindustrie nur den Sozialistischen ‚Realismus’ wider, der auch keiner war, sondern pure Ideologie zum Zwecke politischer Ruhigstellung. Der Mann von der Strasse soll sich als Zuschauer nach erhöhten Fantasy-Figuren richten. Popcorn et circenses. Wobei in den Arenen des Massenkinos nur der Gladiatoren Siege über andere zählen, umso mehr, als das eigene Leben eher eine Kette von Niederlagen ist, eine kaum definierbare Grauzone an Kompromissen. So dass man geradezu nach Schwarz und Weiss lechzt. Nach Gut und Böse – nach Erlösung.
Turm zu Babel auf Ground Zero
Als am 11. September 2001 in New York zwei Passagierflugzeuge in die Twin Towers rasten, und diese nach Stunden der Agonie mit Suiziden aus höchst gelegenen Fenstern barsten, war das nur die Spitze des Eisbergs. Wie Sichtbares meist das Ende einer langen Entwicklung ist. Doch gilt öffentliche Wahrnehmung nur den symbolischen Ereignissen, nicht den Prozessen, welche vorausgehen, nicht den Ursachen. Das liegt auch am zeitlichen und intellektuellen Aufwand, was die kontinuierliche Wahrnehmung und Analyse der Verhältnisse voraussetzte. Sowie am eingeschränkten öffentlichen Zugriff auf Information. Macht findet in Hinterzimmern und Wolkenkratzern statt. So galt der Frontalangriff islamistischer Fanatiker aufs World Trade Center denn auch einem Bollwerk westlichen Wohlstands in unmittelbarer Nähe zur Wallstreet.
In der ersten Zeit nach dem terroristischen Anschlag stand die Bevölkerung von Manhattan wie eine Familie zusammen. Geeint in der Trauer um 3000 Tote. Es kam zu beispielhafter Solidarität über alle ethnischen und Klassenunterschiede hinweg. Auch 100'000 Arbeitsplätze waren verloren. Man half sich grosszügig.
Nach einer angemessenen Totenruhe für die Opfer in den Trümmern der Türme, die mit über 400 m Höhe und mehr als 100 Etagen ein Wahrzeichen New Yorks, auch die höchste Aussichtsterrasse in USA gewesen waren, wollte man ein neues Zeichen setzen. „Das Anlitz einer Stadt ist wie ein menschliches Gesicht. Wir hatten einen Teil unseres Gesichts verloren. Da war ein riesiges Loch. Wir kämpfen dafür, unsere Stadt zurück zu erhalten!“ sagt Christine von Gratstein, seit Generationen New Yorkerin, im Dokumentarfilm „16 Acres“ (Richard Hankin, USA, 2012).
Aus einer Katastrophe „biblischen“ Ausmasses entstand eine „biblische“ Vision von einem noch höheren Turm. Diesmal nicht nur als kapitalistische Selbstfeier, sondern wie die Freiheitsstatue im New Yorker Hafen als Symbol, dass sich die freie Welt vom Terror gegen ihre offene Gesellschaft nicht einschüchtern lässt. Zugleich sollte das neue Gebäude auch noch in 1000 Jahren als Gedenkstätte von den Opfern von „9/11“ erzählen.
Reportage spannend wie ein Thriller
Doch je pathetischer die Parolen der Politiker und Wirtschaftsführer wurden, je mehr sie den „Ground Zero“ auch zum Steigbügel für ihren Wahlkampf nutzten, desto mehr Sachzwänge stellen sich der Realisierung neuer Türme in den Weg, desto unterschiedlicher zeigen sich die ökonomischen Interessen. Der Boden gehört der Hafenbehörde, 23 weitere Institutionen haben Einspruchsrecht. Dazu müssen die Bürger von New York angehört werden. Pächter ist der Baulöwe Larry Silverstein – für 10 Millionen Dollar Miete im Monat, somit 12 Milliarden über 99 Jahre. Daniel Libeskind, Sieger des internationalen Architekturwettbewerbs, ist längst unfreiwillig vom Baugerüst. Auch die Baukosten liefen schon bald aus dem Ruder und verdoppelten sich auf 7 Milliarden...
In seiner Reportage, spannend wie ein Thriller, zeigt Hankin fast lehrbuchmässig das Wortgewirr beim kapitalistischen „Turmbau zu Babel“. Dass die Entstehung eines solchen Symbols, auch auf dem Hintergrund einer Jahrhunderttragödie, packender ist als dessen Symbolkraft. Mit dem komödiantischen Schluss, dass die teuersten „16 Acres“ der Welt auch 11 Jahre nach „9/11“ noch nicht fertig überbaut sind, und der einmal so feierlich gesetzte Findling als Grundstein des geplanten 500-Meter-Turms bei Nacht und Nebel, damit niemand davon erfährt, entfernt wurde, nun wieder beim Graveur der Inschrift im Garten steht und Moos ansetzt.
Was Nomaden wagen
Die Frühgeschichte lehrt, dass Nomaden sesshaft wurden. In der Spätgeschichte juckt es die Sesshaften wieder unter dem Hintern und sie schwärmen aus. Aber nicht nur, weil es ihnen an Nahrung mangelt, wie bei den tragischen Migrations-strömen von Süd nach Nord, vom Land in die Banlieues der Städte, sondern auch aus Sehnsucht nach der Unschuld. Sie wächst gerade im Regime des Wohlstands. Unter der Last des Alphabets sucht man nach der Freiheit der Analphabeten.
So reiste der französische Maler Paul Gauguin (1848–1903) schon am Ende des 19. Jahrhunderts von Paris nach Polynesien. In seiner Vorstellung war Tahiti ein exotisches Paradies, wo er, ohne arbeiten zu müssen, ein ursprüngliches und annähernd kostenfreies Leben würde führen können: „Die glücklichen Bewohner des unbeachteten Paradieses kennen vom Leben nichts anderes als seine Süße. Für sie heißt Leben Singen und Lieben“, schrieb er 1890 an den dänischen Maler Jens-Ferdinand Willumsen.
Auch der Genfer Schriftsteller Nicolas Bouvier (1929–1998) war von solchem Fernweh beseelt und verlor sich beinahe in seinem Fieberdelirium auf Sri Lanka, was vor Jahren der Dokumentarfilm „Nomad's Land. Sur les traces de Nicolas Bouvier” (CH 2008) von Gaël Métroz, einfühlsam, aber auch bis an die Schmerzgrenze der Zuschauer, nachvollzog.
“Meine Heimat ist das Reisen“
Dokumentarfilme, so die Erwartung, wenden sich dem Leben zu, wie es ist. Doch sind auch Träume Realität für die, die ihnen nachgehen. Auch die Auflösung im Licht Marokkos, im Niemandsland der Wüste: „The Sheltering Sky“ heisst das Kultbuch des Amerikaners Paul Bowles (1910–1999), über den ein Schweizer Beitrag am diesjährigen Zürich Film Festival uraufgeführt wurde: „Paul Bowles: The Cage Door is Always Open“ (CH 2012) des US-Schweizers Daniel Young. Darin wird das Leben des illustren Autoren-Paares Paul Bowles und Jane Auer aufgerollt, das vom Village in New York über die Pariser Bohème um Gertrude Stein schliesslich in Tanger an Land ging, ohne je ihre innere Heimat zu finden.
Auf dem Sterbebett, in seinem letzten Interview sagt der Schriftsteller, nebst Hemingway einer der wichtigsten Erzähler der USA und Epoche: „Meine Heimat ist das Reisen, ich möchte nie ankommen.“ Bowles war nicht nur ein hervor-ragender Autor, sondern zunächst ein ebenso beachteter Musiker. Zu dessen melancholischer Tonspur fängt das kurzweilige Potpourri aus Interviews, Fotomaterial und zeitraffenden, ästhetisch sehr verspielten Collagen ein Künstlermekka der Fünfziger und Sechziger Jahre ein als ein Fluchtpunkt für Freiheitssucher: Truman Capote, Tennessee Williams, Gore Vidal, William S. Burroughs, Jack Kerouac, Cy Twombly, die Rolling Stones und weitere Pilger der literarischen Beatnik-, der bildnerischen Popart- und gar musikalischen Rockszene waren da.
Dabei lebten die Gastgeber als verheiratetes Paar libertär ihre Homosexualität. Beide suchten sie in ihren marokkanischen Geliebten genuines Glück und fanden es nicht. So ist „The Cage Door is Always Open“ trotz aller oszillierender Faszination ebenso ein Dokument menschlicher und künstlerischer Einsamkeit, von Paul Bowles’, der sich seines Vaters als Monster erinnert, immer schon Sehnsucht, durch das letzte Tor zu gehen, weil ihm das Leben selbst ein Gefängnis war.