Die sexuelle Orientierung eines Kandidaten für das Oberste Gericht ist einer der Stolpersteine, mit denen die indische Regierung versucht, die Unabhängigkeit der Justiz zu Fall zu bringen.
Indien ist eines der wenigen Länder, das zwei Geburtstage feiert. Am 15. August erinnert es an die Unabhängigkeit von 1947, der 26. Januar ist der Tag im Jahr 1950, als die Verfassung in Kraft gesetzt wurde. B. R. Ambedkar, der wichtigste Baumeister des Grundgesetzes, betonte immer wieder, dass die wirkliche Freiheit mit der Befreiung vom kolonialen Joch noch nicht erreicht ist. Sie sei erst dann gewährleistet, wenn nach dem Staat auch jeder einzelne Bürger – und jede gesellschaftliche Gruppe – ihre Freiheitsrechte wahrnehmen können.
Vorrang des Staates
Auch an diesem 26. Januar feierten Inder überall im Land ihre Verfassung – vor öffentlichen Gebäuden, in Parlamentshallen und in allen Schulen des Landes, die sich – mitsamt ihren Schülern und Lehrern – für den Anlass herausgeputzt hatten. Obwohl ein alljährliches Ritual, ist es auch ein Treuebekenntnis zu einem Text, der in den letzten 73 Jahren ihre Grundrechte ebenso wie jene der Regionen, Sprachen und Religionen geschützt hat.
Natürlich gehörte auch Premierminister Modi bei der Abnahme der prächtigen «Republic Day Parade» in der Hauptstadt zu den Gratulanten. Aber es war vielleicht kein Zufall, dass er als Ehrengast ausgerechnet den ägyptischen Präsidenten und Feldmarschall Abdul al-Sisi eingeladen hatte. Beide demonstrieren ein Staatsverständnis, das unter «Freiheit» in erster Linie die Unabhängigkeit des Staats und seiner Machtausübung versteht, und nur bedingt die Freiheit seiner Bürger.
Ägypten ist bekanntlich eines der Länder, in denen demokratische Institutionen vor allem den gesellschaftlichen Druck abfedern und ventilieren sollen, der gerade aus der Verweigerung der demokratischen Freiheitsrechte entsteht. Zudem gehört es nun einmal zum guten Ton, sich der internationalen Gemeinschaft als Demokratie zu präsentieren. Diese drückt aus Eigeninteresse ohnehin gern beide Augen zu.
Zangenangriff
Narendra Modi ist nicht durch einen Militärputsch an die Macht gekommen. Dank (inzwischen zwei) Wahlsiegen ist er ausreichend demokratisch legitimiert. Aber im Gegensatz zu seinen Vorgängern – und den Vorgängern-Parteien der BJP – arbeitet er emsig daran, die Regierungsherrschaft nicht mehr aus der Hand geben zu müssen. Natürlich wird es – wie in anderen gelenkten Demokratien – weiterhin Wahlen geben. Aber diese dienen dazu, so erklärte es einmal Modis engster Vertrauter, Innenminister Amit Shah, schlechte BJP-Politiker durch gute BJP-Politiker auswechseln zu lassen.
Um dies zu bewerkstelligen, bedarf es der Kontrolle des Staatsapparats, der Kontrolle der Finanzquellen – Demokratien sind teuer – und der Folgsamkeit der Medien. Nun ist aber die Verfassung auch deshalb geschaffen worden, um autoritären Versuchungen einen Riegel zu schieben. Daher müssen Autokraten den gesellschaftlichen Gesellschaftsvertag aushebeln und die Verfassungshüter, nämlich das Oberste Gericht, auf die eigene Seite bringen.
Es entbehrt nicht der Ironie, dass ausgerechnet in den Wochen vor dem 54. Geburtstag der Verfassung Minister und hohe Repräsentanten des Staats einen Streit mit dem Supreme Court vom Zaun gebrochen haben, der wie der Startschuss zum Angriff auf einen der wichtigsten Eckpfeiler der Verfassung gehört, nämlich der Gewaltentrennung.
Es ist eine Art Zangenangriff, den der Justizminister Kiren Rijiju («Ridschidschu») und Vizepräsident Jagdeep Dhankhar lanciert haben. Dhankhar nutzt seine Funktion als – angeblich überparteilicher – Vorsitzender der zweiten Parlamentskammer, um die Gerichte daran zu erinnern, dass die demokratische «Souveränität» beim Volk (und dessen gewählten Vertretern) liegt.
Zentrale Werte
Implizit zielen seine Pfeile auf ein Urteil des Obersten Gerichts vor genau fünfzig Jahren. Dieses hatte damals festgehalten, das Parlament sei zwar befugt, Verfassungsänderungen vorzunehmen; die «Basic Structure» des Grundrechts sei jedoch unantastbar. Es handelt sich dabei um eine Reihe von Prinzipien und Paragraphen, die sakrosankt sind. Dazu gehören neben der Gewaltentrennung der Vorrang der Verfassung, «Rule of Law», rechtliches Gehör; zudem zentrale Werte wie Föderalismus, Säkularismus und die Freiheit und Würde des Individuums.
Diese Werte sind nicht nur – wie in anderen Verfassungen – schöne Worte. In Indien sind sie einklagbare Rechte – im Prinzip. In den letzten zehn Jahren der Regierung Modi sind sie nämlich beinahe systematisch verletzt worden. Es kam zu ungezählten und gewalttätigen Verstössen gegen die Religions-, Rede- und Versammlungsfreiheit. Mit seinen drakonischen Anti-Terror-Gesetzen hat der Zentralstaat zudem nicht nur Einzelne und Gruppen ohne Anklage in Gefängnisse geworfen; er hat dabei auch in Prärogative der Gliedstaaten eingegriffen und zudem die Garantie rechtlichen Gehörs und der Verhältnismässigkeit verletzt.
Die Gerichte zeigten bei diesem orchestrierten «Volkszorn» kaum Zivilcourage. Ausser einzelnen mutigen Magistraten blieben die meisten stumm, oder sie beliessen es bei frommen Warnungen. Und über das unverständliche Schweigen vieler Verfassungshüter in den Landesgerichten und im Obersten Gericht wird gemunkelt, dass die Nachrichtendienste private «Geschichten» einzelner Richter gesammelt haben, um sie bei Bedarf unter die Medien streuen zu können.
Intransparentes Verfahren
Dies hat die Regierung nun ermutigt, schweres Geschütz aufzufahren, um einen Angriff auf das Oberste Gericht zu wagen und dessen Verteidigung des Rechtsstaats auszuhebeln. Nachdem der Vizepräsident – immerhin der dritthöchste staatliche Würdenträger – den Boden vorbereitet hat, kommt nun der Justizminister zum Zug.
Rijiju machte sich gleich an eine zentrale Regel gerichtlicher Eigenständigkeit: die Wahl der Richter für die Landesgerichte und das Oberste Gericht. Diese Amtshandlung wird von einem «Collegium», bestehend aus dem Obersten Richter und den zwei rangnächsten Richtern, vorgenommen. Die Regierung muss lediglich ihre Zustimmung geben, worauf der Staatspräsident die Berufung vornimmt. Nun schlug Rijiju vor, das dreiköpfige Wahlgremium um eine staatliche Vertreterin zu ergänzen
Auch Befürworter eines unabhängigen Justizwesens bemängeln, dass das Collegium-Verfahren völlig intransparent sei und damit Nepotimus unter Richterkollegen fördere. Diese Schwäche machte sich die Regierung zunutze und liess das Parlament 2015 ein Gesetz verabschieden, das eine «Nationale Auswahlkommission» für hohe Richterämter vorsah. Das Gesetz wurde jedoch vom Obersten Richtergremium als Verstoss gegen das Prinzip der Gewaltentrennung gewertet und prompt annulliert.
Verfassungsrechtlichen Einwände
Die Regierung revanchierte sich, indem sie den Personalentscheiden des Obersten Gerichts nicht oder sehr zögerlich ihr Plazet gab, mit dem Effekt, dass die offenen Richterposten in den Landesgerichten und im Obersten Gericht inzwischen eine hohe zweistellige Zahl erreicht haben.
Zu den blockierten Verfahren gehört auch der Wahlvorschlag für fünf Richter, die das Gericht teilweise bereits 2017 unterbreitet hat. Als die Regierung drei der fünf Kandidaten letztes Jahr zurückwies, insistierte das Gericht auf deren Wahl; und wiederum gab die Regierung nicht nach. In seiner erneuten Replik ging das Gericht unter der Leitung des neuernannten Gerichtspräsidenten D. Y. Chandrachud diesmal einen Schritt weiter: Es veröffentlichte die Einwände, die von der Regierung gegen die drei vorgebracht wurden.
Dies ist ein Indiz, dass die höchsten Richter des Landes inzwischen begriffen haben, dass die lange Tradition eines freien Justizwesens zum ersten Mal in seiner Geschichte massiv bedroht ist. Das Richter-Collegium erklärte denn auch, es gehe ihm nicht um Rechthaberei. Mit dem Offenlegen der von der Regierung gemachten Rückweisungsgründe solle gezeigt werden, dass das Gericht nur verfassungsrechtlichen Einwänden Folge leisten darf.
Letzter und wichtigster Eckpfeiler
Die Einwände sprechen für sich: Ein Kandidat, so wandte die Regierung ein, sei homosexuell, ein zweiter sei mit einer ausländischen Person liiert, ein dritter – ein Anwalt – habe in einem Brief Kritik am Premierminister geäussert. Homosexualität wurde im Jahr 2018 entkriminalisiert. Auch wenn homosexuelle Ehen in Indien weiterhin nicht möglich sind, nimmt dies einer homosexuellen Person nicht das Recht auf Freiheit seiner Geschlechterwahl. Dasselbe gilt für das Recht auf private Meinungsfreiheit, ebenso wie die Wahl eines ausländischen Partners.
Besonders der Kandidat für das Landesgericht von Delhi (auch er ist Anwalt) ist interessant. Denn er lebt nicht nur offen in einer homosexuellen Partnerschaft; sein Partner ist zudem ein – Schweizer. So sah sich das Kollegium gezwungen, sich nicht nur zu einer privaten Paarbeziehung zu äussern, sondern auch das Hohelied auf die indisch-schweizerischen Beziehungen anzustimmen.
Beide Länder pflegten eine warme und freundschaftliche Beziehung, und der Schweizer Partner stelle kein nationales Sicherheitsrisiko dar; sogar der Auslandgeheimdienst habe diesbezüglich keine Einwände erhoben. Womit die Richter auch durchblicken lassen, worum es hier geht: nicht um sexuelle Orientierung, sondern die drohende Schleifung des letzten und wichtigsten Eckpfeilers der indischen Demokratie.