Kürzlich hat mir meine Bank eine neue Maestro-Karte geschickt. Nebst vielen weiteren Informationen habe ich aus dem Begleitbrief erfahren, dass die neue «Kontaktlos-Bezahl-Funktion» mir ein paar ganz besondere Vorteile bietet: Kleinbeträge unter 40 Franken kann ich jetzt ganz einfach bezahlen (war das denn vorher so schwierig?), indem ich die Karte ans «Bezahl-Terminal» halte. Weder muss ich nach Kleingeld suchen noch aufs Wechselgeld warten.
Drei Stunden Zeitersparnis
Das Beste aber preist man mir zuletzt an: «Keine zeitraubende Eingabe Ihrer Pin!» Momoll, dachte ich, das überzeugt jetzt aber ganz gewaltig. Was wurde mir doch Zeit geraubt, weil ich den sechsstelligen Code meiner Karte bisher eintippen musste! (Ganz zu schweigen von der Zeit, die ich brauchte, bis ich die sechs Zahlen in der richtigen Reihenfolge auswendig kannte.)
Ich habe es ausgerechnet: Wenn ich die Karte täglich dreimal benutze, um Kleinbeträge zu bezahlen – bei grösseren Summen muss ich den Code dennoch eintippen –, spare ich bei einer Eintippgeschwindigkeit von fünf Sekunden pro sechs Zahlen jährlich sage und schreibe rund drei Stunden. Da stelle ich mir natürlich sofort die Frage: Wie reinvestiere ich diesen Zeitgewinn möglichst sinnvoll?
In drei Stunden liesse sich ja doch einiges erledigen oder unternehmen. Zum Beispiel könnte ich im Kino einen langen Spielfilm anschauen. Dumm nur, dass ich die drei gesparten Stunden nicht am Stück einziehen kann, sondern bloss in Tagesrationen à 15 Sekunden. Jeden Tag ins Kino zu gehen und nach 15 Sekunden wieder raus zu rennen, scheint mir wenig attraktiv. Das reicht nicht mal, um die Werbung anzuschauen. Darüber hinaus dauert es schon länger, bis ich das Eintrittsticket gekauft habe, wobei ich andererseits weitere fünf Sekunden Zeitgewinn einstreichen kann, wenn ich mit der magischen Karte bezahle.
Entschleunigung und der Kampf um Sekunden
Kein Kino also. Aber vielleicht eine kurze soziale Aktion gleich am Ort des Geschehens? Ein nettes Lächeln, verbunden mit der Frage «Wie geht es?», an die Kassierin im Laden? Statt der vorangehenden Kundin zielgerichtet «unabsichtlich» in die Beine zu fahren, weil sie mir beim Einpacken ihrer Ware den Weg aus der Kasse versperrt, mit einem freundlichen «Exgüsi, dörf i verbii?» kurz anhalten? Allerdings lade ich mit derlei möglicherweise den Ärger des nachfolgenden Kunden auf mich, der natürlich ebenfalls vom verhinderten Zeitraub profitieren und seinen Einkauf fünf Sekunden schneller abschliessen möchte.
Irgendwie dünkt es mich, wir leben in einer paradoxen Welt. Einerseits überfluten uns Tausende von Ratgeberbüchern, Blogs und Zeitungsartikeln zu Themen wie Entschleunigung und Stressabbau. Hobbyköche und Gastronomie schwärmen von Slow Food, das – im Gegensatz zum Fast Food – langsam hergestellt und ebenso langsam und genussvoll gegessen werden soll. Im Gegenzug dazu preist man mir die Zeitersparnis von wenigen Sekunden beim neuartigen Bezahlen so an, als ob ich vorher einem Verbrechen – denn Raub ist eines – zum Opfer gefallen wäre.
Momo und die aschgrauen Männer
Mir kommt die Geschichte von «Momo», geschrieben von Michael Ende, in den Sinn. Da gab es doch diese grauen Herren von der «Zeitsparkasse», die von Kopf bis Fuss aschgrau angezogen sind und ständig aschgraue Zigarren rauchen. Sie versuchen, die Menschen dazu zu bringen, Zeit zu sparen, um sie angeblich für später sicher und verzinst aufzubewahren. In Wahrheit jedoch werden die Menschen um ihre Zeit betrogen. Während sie versuchen, Zeit zu sparen, vergessen sie, im Jetzt zu leben und das Schöne im Leben zu geniessen.
Jetzt kann man natürlich einwenden, dass das Eintippen eines Zahlencodes weder ein Genuss ist noch zum «Schönen im Leben» gehört. Und dass mir meine Bank je offeriert hätte, ein Zeitsparkonto für mich einzurichten, ist mir auch nicht bekannt. Und doch: Das Bild der aschgrauen Herren (und Frauen) lässt mich nicht mehr los. Ich sehe sie morgens auf dem Weg zur Arbeit mit grauen Gesichtern ins Tram drängen, ohne Rücksicht auf andere Passagiere zu nehmen, Hauptsache, man ist rasch drin. Am Mittag hetzen sie, unterwegs ein Sandwich essend, von einem Termin zum nächsten. Beim Betreten eines Gebäudes hält niemand dem Nachfolgenden die Türe auf – das hiesse ja, zwei, drei Sekunden zu warten, bis dieser sie erreicht hat. Keine Zeit zu haben, scheint ein Synonym für Optimierung, Erfolg, Effizienz, Tüchtigkeit und Wichtigkeit geworden zu sein.
Nun, die Zeit lässt sich nicht aufhalten und damit auch nicht die Pin-lose Bezahlung mit der Bankkarte. Wobei ich mir eine kleine persönliche Rebellion überlege: Was, wenn ich in subversiver Weise den Pin trotzdem eintippen würde? Würde ich dann wegen Zeitraubs verhaftet? Aber vielleicht blüht mir das ja sowieso. Schliesslich habe ich Ihnen mit dieser Kolumne viel mehr als fünf Sekunden gestohlen.