Die Situation in Iran erinnert an Osteuropa im Sommer 1989. Eine ideologische Verflechtung mit Russlands Ukraine-Krieg macht das iranische Regime von Putin abhängig. Selbst wenn es die Proteste überstehen würde, hätte es bloss noch einen Status wie die syrische Despotie.
In den letzten Tagen sind die Kontakte zu Gesprächspartnern in Iran deutlich schwieriger geworden, was kein gutes Zeichen ist. Das Regime versucht offensichtlich, die Informationswege zu blockieren und dort, wo dies nicht gelingt, zu kanalisieren. Dabei lässt man es sogar zu, wenn die Medien Stimmen der Opposition zu Gehör bringen wie im Fall von Majidreza Rahnavard, der kurz vor seiner Hinrichtung vor laufender Kamera befragt wird, was seine letzten Worte seien, und Rahnavard dann wünscht, dass an seinem Grab nicht aus dem Koran rezitiert werden solle.
Solche brutalen Szenen dokumentieren den Anspruch des Regimes, selbst die Trauerarbeit und die Empörung der Bevölkerung zu beherrschen. Und doch, der trotzige Widerstand ist allenthalben erfahrbar: Die Proteste, die Wut auf das Regime und seine Protagonisten und die Überzeugung, dass das Regime stürzen wird, da die Bevölkerung aufs Ganze gesehen den längeren Atem habe.
Die ersten Monate des Protests
Es bleibt aber schwer, einen Überblick über die Gesamtheit der Protestbewegung zu wahren. Dies ist vielleicht auch nicht möglich, da es sich eben nicht um eine durch Organisationen gesteuerte Mobilisation einer Proteststimmung handelt. Der Protest ist radikal situativ und spiegelt die Diversität der iranischen Gesellschaft. Bemerkenswert ist, dass die Bewegung der Diversität eine hohe Wertschätzung entgegenbringt und zugleich durch die systemkritische Grundierung der Proteste über eine starke Integrationskraft verfügt.
Natürlich gibt es eine Beziehung zwischen dem Status der Protestbewegung und dem Status des Regimes. In der iranischen Gesellschaft herrscht schon seit 2019 verbreitet eine Proteststimmung, die immer wieder in Revolten umschlägt. Derzeit stellt sich die Protestbewegung auf die wachsende Repression des Regimes ein und versucht, neue Protestforen zu schaffen. Die Proteststimmung ist breit verankert: 84 Prozent der IranerInnen wollen einen Systemwechsel.
Der Status des Regimes ist schwerer zu fassen, da es sich hinter einer intakt erscheinenden Fassade verbirgt und die internen Brüche und Spannungen nur undeutlich zu erkennen sind. Klar ist: Das Regime beginnt sich gegenüber der Gesellschaft abzuschotten und verstärkt zugleich die Repression.
Manches erinnert an die Sommermonate 1989, als sich in Osteuropa die Proteststimmung immer deutlicher zeigte und die betroffenen Regimes die Augen vor dem erwarteten und unvermeidlichen Wandel verschlossen. «Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben», soll Michael Gorbatschow am 6. Oktober 1989 dem damaligen Vorsitzenden des Staatsrats der DDR, Erich Honecker, gesagt haben. Die DDR-Führung hingegen glaubte sich fest im Sattel, da sie das Volk so sehr «liebe». Doch die DDR hatte das Volk schon längst verloren. Dann kamen der Herbst und der Winter 1989, die mit dem Sturz fast aller Ostblockregimes endeten.
Eine feministische Revolution
In den osteuropäischen Transitionsprozessen gab es keine tragende Bevölkerungsgruppe, die die Bedeutung der Proteste verkörpert hätte. Ganz anders in Iran. Hier gaben die Frauen der Protestbewegung ein Gesicht, das viele dazu veranlasst, von einer feministischen Revolution zu sprechen. Und in der Tat: Die Umgestaltung der politischen Macht, die sich in den Protesten abzeichnet, begann mit den Frauen.
Frauen sind nach der herrschenden Ideologie des Regimes symbolische Trägerinnen der islamischen nationaliranischen Revolution. Frauen wurden vom Regime immer wieder in Szene gesetzt, um diesem iranisch-islamischen Nationalismus ein Gesicht zu geben. Dazu gehörte das Tragen des Kopftuchs oder des Tschadors als islamische Symbole der iranischen Nation, wie es Khomeini 1979 ausgedrückt hatte.
Doch damit war eben keine politische, soziale oder kulturelle Souveränität der Frauen über ihr eigenes Leben verbunden. Im Gegenteil: Frauen waren einer Heteronomie ausgeliefert, die ihr ganzes Dasein in der Öffentlichkeit bestimmte. Genau diese Souveränität und Autonomie werden nun breit eingefordert und zur Grundlage einer politischen Freiheit der Gesellschaft gemacht. Da Frauen von dem islamisch gedeuteten radikalen Regime öffentlicher Moral persönlich und alltäglich am stärksten betroffen waren und sind, trägt ihre Emanzipation die Vision für eine ganze Gesellschaft.
Iranisch-russische Familienähnlichkeit
Und auch wenn die Protestbewegung in Iran bislang vor allem als «iranische Angelegenheit» diskutiert wird, so sind die Implikationen der Bewegung für die politische Konstellation nicht nur in Nah- und Mittelost, sondern auch für Europa unübersehbar.
Immer deutlicher bestätigt sich, wie eng das Geschehen in Iran und das Kriegsgeschehen in der Ukraine verflochten sind. Das betrifft nicht nur die politisch-militärische Allianz zwischen Iran und Russland und die Tatsache, dass iranische Raketen und Drohnen für die russische Armee in der Ukraine im Einsatz sind. Massgeblich ist auch die Verflechtung der politischen Visionen in beiden Ländern: die Verteidigung oder Durchsetzung einer demokratisch verfassten Rechtsstaatlichkeit.
Zudem hat sich erwiesen, dass die ideologischen Grundlagen des Regimes der Islamischen Republik, also die «Islamische Revolution», eine Familienähnlichkeit mit der sowjetischen Herrschaftsordnung und ihrem russischen Nachfolgeregime aufweist. Diese Verflechtung aufzuzeigen ist wichtig, weil die Zukunft der Islamischen Republik stark von Russland abhängig ist. So ist zu vermuten, dass Russland einen Sturz des Regimes in Teheran nicht tatenlos hinnehmen würde. Zugleich würde aber auch ein Scheitern Russlands im Krieg gegen die Ukraine der Protestbewegung in Iran neue Handlungsräume eröffnen, weil das Regime dann nicht mehr unter Russlands (atomarem) Schutzschirm Zuflucht suchen könnte.
Regime ohne Staatsvolk
Aber selbst wenn sich das Regime ganz unter den Schutz Russlands stellen würde und sich dadurch eine Atempause verschaffen könnte, hätte es lediglich einen Status, der dem des Despoten Baschar al-Assad in Syrien ähnelte. Es wäre ein Regime ohne Staatsvolk.
Schon jetzt findet das Regime in Teheran kaum noch Zustimmung und Anerkennung unter der iranischen Bevölkerung. Es ist in den Augen der grossen Mehrheit schlicht illegitim. Darauf reagiert die Bevölkerung mit einer aktiven oder passiven Streikhaltung. Bestreikt wird die Kooperation mit dem Regime. Dieser Streik wird über Monate anhalten, trotz der Tatsache, dass immer wieder Streikbrecher auftreten können. Je nach aussen- und innenpolitischen Konstellationen kann dieser Streik wieder zu Massenprotesten eskalieren. Wenn dann zur Protestbewegung zum Beispiel eine Verschärfung der ökonomischen Lage hinzutritt (wie 2019/2020 im Rahmen der Wasserkonflikte in Khuzestan oder der Versorgungskrise), dann entsteht eine Stimmung, die auch den politischen Sturz des Regimes beschleunigen kann. Doch unabhängig davon ist klar, dass das Ende der Islamischen Republik herandämmert, selbst wenn es den Verlust seiner ideologischen Legitimität durch verschärfte Repression auszugleichen versucht.