1868, vor 150 Jahren also, wird Cuno Amiet in Solothurn geboren. Der für die Entwicklung der Moderne in der Schweiz im beginnenden 20. Jahrhundert prägende Maler erreicht das patriarchalische Alter von 93 Jahren und hinterlässt ein riesiges Werk: Rund 4000 Gemälde sollen es gemäss SIK (Schweizerisches Institut für Kunstwissenschaft) sein. Dazu kommen viele Arbeiten auf Papier und viel Druckgrafik. Cuno Amiet ist seit Jahren regelmässig Thema von Ausstellungen, so auch kürzlich in Mendrisio (2017) und dieses Jahr in Roggwil.
Das Kunstmuseum Solothurn, in dessen Sammlung sich zahlreiche wichtige Werke Amiets befinden und das sich in den vergangenen Jahren immer wieder Teilaspekten von Amiets Werk widmete, veranstaltet aus Anlass des runden Geburtstages keine Gesamtübersicht über das Schaffen des grossen Solothurner Künstlers, sondern bearbeitet mit eigenen Beständen und Leihgaben das Thema „Freundschaft und Verwurzelung. Cuno Amiet zwischen Solothurn und der Oschwand“. Patricia Bieder, Anna Bürkli, Robin Byland und Christoph Vögele bilden das Kuratoren-Team.
Viele Beziehungen zu Freunden
Die Ausstellung mit zahlreichen Porträts (immer wieder Amiets Frau Anna), Landschaften und Gartenansichten ist ein konzentrierter biographischer Essay über des Künstlers Beziehungen zu seiner Heimat Solothurn und zu seiner Wahlheimat, der Oschwand südlich von Herzogenbuchsee. Thematisiert werden, mit gezeichneten Postkarten, Briefen, Fotodokumenten sowie Malereien von Freunden, auch die Beziehungen Amiets zu Menschen hier und dort: In Solothurn ist es vor allem die Sammlerin Gertrud Dübi-Müller, auf der Oschwand sind es Ernst Morgenthaler, Alice Bailly, Werner Miller, Bruno Hesse. Präsent sind aber auch der Göttibub Alberto Giacometti und dessen Vater Giovanni, der mit Amiet eng befreundet war. (Diese Freundschaft ist Thema einer Ausstellung in Stampa im Bergell.) Ein kleiner der Teil der Ausstellung ist dem Ort Hellsau südöstlich von Herzogenbuchsee gewidmet: Hier hielt sich Amiet zwischen 1886 und 1896 oft auf. Hier lernte er seine Frau Anna Luder kennen, und hier führte ihn Frank Buchser ins Malerhandwerk ein.
Persönliches und Intimes
Die Ausstellung setzt mit Frühwerken ein: Eine kleine, lebenslustige und von hellen Sonnenflecken belebte Malerei von 1891 zeigt ein tanzendes Mädchenpaar im Bad. 1897 malt Amiet seine Frau mit grossem grünem Hut, eines seiner bekannten Werke. 1902 entsteht aus traurigem Anlass – seine Frau erlitt eine Totgeburt – das anrührende Triptychon „Hoffnung“. Ein Jahr darauf gelingt Amiet ein befreiender Geniestreich, „Der gelbe Hügel“, ein Werk in leuchtendem Gelb und von grossartiger Präsenz, das auch in internationalem Rahmen neuer Expressivität bestens Bestand hat. 1907 folgt das Porträt seiner Freundin und Mäzenin, der 19-jährigen Gertrud Müller, mit einem opulenten violetten Hut. Die Ausstellung ist, die Beispiele zeigen es, voller persönlicher und, wie „Die Hoffnung“, auch intim familiärer Bezüge. Sie belegt ein malerisches Werk voller optimistischer und farbenfreudiger Frische. Paradebeispiel für ist „Oschwand im Winter“ von 1921, gestisch, beinahe wild und ungestüm gemalt.
Dass Amiet diese Qualitäten nicht immer aufrechterhalten kann, erstaunt angesichts der enormen Fülle seiner Produktion nicht. (In den Wohnungen der Solothurner Gesellschaft waren Blumenbilder Amiets lange Jahrzehnte geradezu ein Muss, was ihn zeitweise auch zum Vielmaler werden liess.) Umso positiver überrascht eines seiner letzten Bilder, in dem der 91-jährige Maler sich selber zeigt – malend vor der Staffelei in einem Feld voller leuchtender Blumen.
Bernard Voïtas Täuschungen
Die Amiet-Ausstellung im Obergeschoss des Museums bietet ein weitgehend ungetrübtes, farblich üppiges Schauvergnügen. Im Erdgeschoss ist der 1960 in Cully geborene, heute in Brüssel lebende Bernard Voïta zu Gast mit einer auf den ersten Blick kargen und zurückhaltenden Retrospektive.
Voïta ist seit den 1980er Jahren mit fotografischen Arbeiten ganz eigener Ausprägung präsent: Er baut aus Atelier- und anderen Abfällen an Städte, Landschaften oder Innenräume gemahnende Installationen auf und bildet sie, sich in diesen Installationen mit der Kamera bewegend, fotografisch ab. Die meist grossformatigen schwarzweissen Arbeiten stellen uns Fragen zu komplexen Wahrnehmungs-, aber auch Verschleierungsvorgängen: Wo stehe ich? Was sehe ich? Was bildet sich in meinem Kopf aus dem Gesehenen? Was ist Trug, was Realität, was Wahrheit?
Ironische Spiegelungen
In „recto verso“, so der Ausstellungstitel, spannt Voïta über das ganze Erdgeschoss eine einzige grossräumige Installation mit zahlreichen Querbezügen und, dem Titel entsprechend, Umkehrungen, die sich beim Durchschreiten der Räume mit früheren Fotos und neuen skulpturalen Arbeiten allmählich erschliessen. Bei aller Reduktion der Ausdrucksmittel auf einfachste Raumkonzepte und Formen blitzt immer wieder ironisches Augenzwinkern auf. Ein Beispiel für Verschränkung, aber auch für ironische Spiegelungen ist das Pissoir-Motiv, das Voïta von in Belgien und Frankreich gebräuchlichen Bedürfnisanstalten übernimmt.
Das Objekt aus gebogenem dunklem Blech auf Stelzen, das eine Intim-Zone aus dem öffentlichen Bereich ausscheidet und schützt, zugleich aber ausstellt, wird einmal als „Balkon“ gewissermassen heroisiert, einmal wird es als Kleinformat auf dem Boden zum Spielzeug, einmal wird das Motiv zur langen Geraden gestreckt und so vor die Wand gestellt, dass wir uns auf die Frage, was sich denn hinter dem glänzenden Schwarz verberge, keine Antwort geben können. Immer aber geht es um Innen und Aussen, Verbergen und Entschleiern, Privates und Öffentliches.
Rollentausch
Ein weiteres Beispiel für Voïtas Strategie der Umkehrung: Das Licht im ersten Raum ist düster und grau; die Neonleuchten der Decke sind auf dem Boden angeordnet, sodass man, um den Raum zu durchqueren, über die Lichtröhren steigen muss. Der letzte Raum der Installation ist von grellem Licht erfüllt; zwei Faltobjekte aus lackiertem Aluminiumblech stehen auf dem Boden – eins mit einer Grau-Skala, das andere mit einer leuchtenden Rot-Skala, die, wie dies auch andern Räumen mit roten „Jalousie“-Skulpturen geschieht, einen starken Kontrapunkt zum dominierenden Grau bildet.
Voïta zwingt die Besucherinnen und Besucher, sich in jedem Raum auf die sich ändernden Bedingungen einzulassen, sich im Raum zu bewegen und nach jenen Standorten zu suchen, die eine ideale Wahrnehmung erst ermöglichen. Er übergibt damit dem Betrachter jene Rolle der Standort-Suche, die er in seinen früheren Foto-Arbeiten als Künstler hinter der Kamera selber spielte. Was anfänglich karg erscheint, entwickelt sich, will man sich darauf einlassen, zum abenteuerlichen Erfahrungsfeld der Fremd- und Selbstwahrnehmung.
Hochkarätige Sammlung
Heiteres Schauvergnügen in der Amiet-Schau, komplexe Wahrnehmungsproblematik bei Voïta. Das Kunstmuseum Solothurn beherbergt überdies – während der Amiet-Ausstellung allerdings in sehr konzentrierter Auswahl – eine hochkarätige Sammlung, die auch in dieser reduzierten Präsentation hohen Kunstgenuss bietet. Ein paar Stichworte sind die „Madonna in den Erdbeeren“ des Paradiesgärtchen-Meisters (um 1425), Hans Holbeins Solothurner Madonna (1522), Van Goghs „Irrenwärter von Saint Rémy“ (1889), Hodlers „Blick in die Unendlichkeit“ (1913–17), Vallottons Akt (1908), das Peperoni-Stillleben (1915) des gleichen Künstlers und überdies Werke von Klimt, Matisse oder Daniel Spoerri.
Kunstmuseum Solothurn. Amiet bis 6. Januar, Bernard Voïta bis 21. Oktober.
www.kunstmuseum-so.ch