Ulf Küster, Kurator der Fondation Beyeler in Riehen bei Basel, präsentiert Courbets Bilder an weissen Wänden. Das fällt erstmal gar nicht auf, weil im Innern des eleganten Baus von Renzo Piano das Weiss ohnehin farblicher Normalfall ist. Das Museum ist auf das seit den 1920er Jahren verbreitete Konzept des White Cube ausgerichtet. Dieses zeigt Kunstgegenstände möglichst ohne Interaktion mit den Räumen. Es versteht sie demnach als kontextlose Objekte, die rein aus sich heraus Bedeutung haben. Eine historisch authentische Präsentation würde Courbet jedoch nicht auf Weiss, sondern vielleicht auf Ocker, Ziegelrot oder einem Blauton ausstellen und die Bildersäle als erhabene Orte der Kultur in Szene setzen.
Ein 200Jähriger als Moderner
Der Entscheid für den White Cube signalisiert, dass man in der Fondation Beyeler den vor bald zweihundert Jahren geborenen Courbet in einer Weise sehen und zeigen möchte, als wäre er ein zeitgenössischer Künstler. Die Schau gibt ihren Besuchern die Suggestion mit, Courbets Werke in erster Linie entgegenzunehmen als gegenwärtige Manifestationen eines künstlerischen Willens und Schaffens. Dessen historische Einbettung muss in der Begegnung mit dem Bild fürs erste nicht interessieren. Wichtig ist zunächst, was zwischen dem real anwesenden Kunstwerk und dem ihm gegenübertretenden Menschen geschieht.
Courbet in dieser unbekümmerten Weise wie einen Heutigen zu betrachten, dürfte historisch gesehen dem Kunstverständnis dieses epochalen Malers paradoxerweise recht gut entsprechen. Courbet sprengte bewusst die Konventionen der damals zeitgemässen Malerei und nahm für sich in Anspruch, eine grundlegende Neuerung der Kunst nicht nur mit seinem Werk zu begründen, sondern auch persönlich zu verkörpern. Wen hat man da vor sich? Und wie wurde Courbet zu Courbet?
Künstlerische Autorität und Souveränität
Der 1819 in Ornans in der Franche-Comté geborene und 1877 im Schweizer Exil gestorbene Gustave Courbet drängte als Zwanzigjähriger nach Paris zur Kunst, eignete sich zielstrebig Fertigkeiten und Kenntnisse an und debütierte nach fünf Jahren und mehreren gescheiterten Anläufen im Salon de Paris mit einem kühnen Selbstporträt: Courbet au chien noir (1842). Der Blick des jungen Mannes, der aus dem an romantische Vorbilder anknüpfenden kleinen Gemälde auf den Betrachter herunterschaut, ist ebenso fordernd wie selbstbewusst. Wer sich selbst so porträtiert, will an seiner künstlerischen Autorität und Souveränität keine Zweifel lassen, auch wenn er erst dreiundzwanzig ist.
Courbet war von seiner künstlerischen Mission überzeugt. An der Pariser Weltausstellung von 1855 wurden elf von vierzehn Gemälden gezeigt, die er eingereicht hatte. Das war dem selbstbewussten Maler nicht genug. Deshalb veranstaltete er parallel zum Kunstpavillon der Weltausstellung nebenan auf eigene Rechnung und mit Unterstützung seines Förderers Alfred Bruyas eine Einzelausstellung, den «Pavillon du Réalisme» mit vierzig weiteren Bildern.
Realismus gegen herrschenden Stil
Realismus war der Kampfbegriff, mit dem Courbet gegen die damals herrschende akademische Malerei antrat – «akademisch», weil sie unter der Autorität der Kunstakademien sich in eng begrenzten Motivwelten, Stilvorgaben und Repräsentationszwecken bewegte. Diese den Kunstbetrieb dominierende Richtung reproduzierte stets ihre eigenen Konventionen. Sie war weder fähig, Themen zu setzen, noch eine eigene Stimme zu erheben oder gar die Realität mit freiem Blick zu erfassen.
Mit genau diesem freien Blick gab Courbet sich schon im Selbstporträt von 1842 zu erkennen. Zwar verwendete er noch die Motivik der traditionellen akademischen Malerei, hier das bukolische Sujet des einsamen Wanderers. Zugleich aber sprengte Courbet das konventionelle Repertoire mit einer Selbstinszenierung, deren rebellischer Impetus nicht zu übersehen ist.
Der Preis der Radikalität
Das ebenfalls frühe Bild Le fou de peur (Portrait de l’artiste) (1844/45) kann vielleicht als Blick in den Abgrund gedeutet werden, an dem entlang sich jede Radikalität bewegt, auch die künstlerische. Der Anspruch des von Courbet postulierten Realismus war nicht einlösbar ohne Konfrontation mit der Wahrheit der eigenen Person. Courbet machte sich mit dem «Fou» klar, worauf er sich einliess. Realistische Malerei, wie er sie propagierte, bedingte den unbestechlichen Blick auf das eigene Sein.
Den zum Programm erhobenen Realismus suchte Courbet nicht in einer naturalistischen Wiedergabe der Bildgegenstände. Diese war in der Kunst seiner Zeit ohnehin ein nicht hinterfragbares Axiom. Imitation der Natur war der klassische ästhetische Grundsatz und die Basis allen bildnerischen Schaffens. Allerdings verlangten das «Imitieren» wie auch die Vorstellung von «Natur» durchaus kein mechanisches oder sklavisches Abbilden vorfindlicher Objekte. Der akademischen Anforderung, «naturgemäss» zu malen, genügten nicht nur die dokumentierenden, also Erscheinung und Wesen von Menschen und Dingen zeigenden Darstellungen. Genauso galten auch poetische, phantastische, mythische, skurrile oder idealisierende Themen und Malweisen als comme il faut, sofern sie sich nur irgendwo ans Wirkliche oder, wie man gern sagte, «Natürliche» hielten.
Für heutige Betrachter ist die revolutionäre realistische Wende, die Courbet immer wieder suchte, gar nicht leicht zu erkennen. In einer Imitation der Natur kann sie nicht liegen, weil Courbet dieses ästhetische Prinzip nach wie vor mit der Kunst teilte, von der er sich zu lösen trachtete. Seine Absage galt vielmehr den sterilen Konventionen, welche die damals herrschende Kunstauffassung regierten: Deren Produktionen repräsentierten die gesellschaftlichen Herrschaftsverhältnisse und Rollenmuster, überhöhten die Selbstbilder der Auftraggeber und reproduzierten den geltenden Kulturkanon mit seinem festen Repertoire an Mythen, Allegorien und Idealen.
Ausbruch aus Konventionen
Aus einem solchen Kunstverständnis brach Courbet mit aller Entschlossenheit aus. So malte er mit Un enterrement à Ornans 1849/50 eine ländliche Begräbnisszene ohne Zugabe jener religiös-metaphysischen Deutungselemente, die damals von Kunstwerken bei solchen Darstellungen zwingend erwartet wurde. Dafür aber stattete er das trauernde Bauernvolk mit einer Würde aus, die im herrschenden visuellen Kanon eindeutig dem Adel und allenfalls gerade noch grossbürgerlichen Milieus vorbehalten war. Die doppelte Provokation der Verweigerung von Jenseitsandeutungen und der Nobilitierung einfacher Bauern wurde von Courbets Zeitgenossen durchaus verstanden. (Das Bild ist in der Ausstellung nicht zu sehen, figuriert aber im Katalog.)
Das Skandalbild
Eine Provokation, die auch heute spontan verstanden wird, ist Courbets ebenso berüchtigtes wie berühmtes Bild L’Origine du monde. Auf Bestellung des ägyptischen Diplomaten und Kunstsammlers Khalil Bey malte Courbet 1866 den anonymen liegenden Frauenakt, der mit gespreizten Schenkeln dem Betrachter die Vulva präsentiert. Kopf, Arme und Beine liegen ausserhalb des Bildformats oder sind vom weissen Laken bedeckt, das noch die eine Brust samt Brustwarze sehen lässt.
Diese Darstellung wirft alle Regeln der akademischen Malerei über den Haufen: Sie kleidet den Akt nicht in einen mythischen oder allegorischen Darstellungsanlass, sie verfälscht den nackten Körper nicht zum asexuellen Artefakt, und sie zwingt mit ihrer Schamlosigkeit den Betrachter in die Rolle des Voyeurs.
Auch wenn es naheliegend erscheinen kann, das Bild unter Pornographie zu subsumieren, so widersetzt es sich doch dieser Einordnung. Als pornografisches Machwerk wäre es ja nichts Neues und kaum nachhaltig schockierend gewesen. Eine so vordergründige Kategorisierung würde die Vielschichtigkeit dieser realistischen Malerei ausblenden und genau das verpassen, was das Bild damals geradezu unerträglich anstössig machte.
Ungesehenes Meisterwerk
129 Jahre lang geisterte das skandalöse, versteckt gehaltene Bild durch die Kunstgeschichte. Nur gerüchteweise wusste man von dem ungesehenen Meisterwerk. Erst 1995, als das Bild ins Pariser Musée d’Orsay Einzug gehalten hatte, kam es in Europa dem breiten Publikum zu Gesicht (in New York wurde es schon einige Jahre zuvor gezeigt). L’Origine du monde hat selbst in unserer sexualisierten Zeit seine provokante Wirkung nicht eingebüsst. Die Fondation Beyeler zeigt es als «die heimliche Sensation der Ausstellung» – und kalkuliert zweifellos auch den Effekt ein, dass sie keine heimliche bleiben wird.
Das Bild lädt – nicht zuletzt auch mit seinem Titel – zu weit ausgreifenden Interpretationen ein. Courbet soll gesagt haben, Tizian, Veronese, Raffael und er selbst hätten niemals etwas Schöneres gemacht. Wollte er damit bloss die Provokation auf die Spitze treiben? Das kann man sich bei ihm gut vorstellen. Doch die meisterliche Ausführung und gewollte Vielschichtigkeit des Bildes unterstreichen, dass Courbet hier primär die Essenz seiner Kunst demonstrieren wollte.
Das Bild ist in Courbets Sinn realistisch, nicht wegen der naturalistischen Malweise, sondern weil es alle akademischen Rechtfertigungen und Verschleierungen von Aktmalerei resolut beiseite räumt. In nie gesehener Direktheit evoziert Courbet die Themen Sexualität, Verführung, Eroberung, Lust, Zeugung, Kreation, Leben, Geburt – und so den «Ursprung der Welt» und im übertragenen Sinn das Wesen von Kunst.
Ein Bild als Manifest
Die Deutungen und Wertungen dieses provozierenden Aktes gehen in alle Richtungen, auch etwa in die einer feministischen Sicht, welche in dem Bild den männlichen Blick mit seiner Verdinglichung und Unterwerfung der Frau sieht. – Jede Sichtweise, die sich auf den Bildinhalt und auf plausibel rekonstruierte Intentionen seines Erschaffers stützt, trägt zur Bereicherung der Interpretationsmöglichkeiten bei. Dazu gehört aber auch die Wahrnehmung, dass dieses Bild nicht nur enthüllt, sondern auch verhüllt, indem es eine künstlerische Manifestation mit einem handfesten Tabubruch überdeckt.
L’Origine du monde ist in der Tat ein Manifest. Es proklamiert die schrankenlose Souveränität und Freiheit des Malers vor dem Hintergrund einer Gesellschaft, in der die Kunst klar definierte Aufgaben und Spielräume zugewiesen bekam. Schrankenlosigkeit bedeutet allerdings auch Schutzlosigkeit. So selbst- und zielsicher Courbet hier seine Provokation am vielleicht empfindlichsten Punkt von Kultur und Gesellschaft plazierte, so prompt erfolgte die Sanktion. Das Bild musste lange unsichtbar bleiben. Der erste Besitzer hängte es hinter einen Vorhang, den er nur für ausgewählte Besucher zur Seite zog. Nicht anders hielt es der Psychoanalytiker Jacques Lacan. Als nach einer abenteuerlichen hundertjährigen Odyssee L’Origine du monde in seinen Besitz kam, liess er einen Doppelrahmen anfertigen, in dem das Bild hinter einer verschiebbaren Landschaftsdarstellung verborgen war. Das war in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts.
Vorläufer der Abstrakten
Eine andere Art von Manifesten bilden die Landschaften, die in Courbets späterem Schaffen eine dominierende Rolle spielen. Vor allem die Bilder aus seiner Herkunftsregion, dem französischen Jura, wenden sich in nochmals neuer Weise von akademischen Standards ab. Anders als dort gefordert, zeigen sie keine bedeutenden Orte, Landschaftsschönheiten oder bemerkenswerten Ansichten. Die meisten dieser Gemälde haben keinen Hinweischarakter, keinen markierten Inhalt, kein Bildzentrum. Wälder, Hügel, Gestein, Höhlen, Flüsse, Schluchten, Wolken und Wind sind gleichzeitig dargestellte Realitäten und komponierte Bildelemente.
In dieser Bildauffassung kann man Courbets Realismus wiederfinden: Auch hier nämlich liegt der Akzent nicht beim Naturalismus der Darstellung, sondern bei ihrer Befreiung von akademischen Konzepten. Courbets Landschaften lassen den Betrachter nicht im Unklaren, dass es hier ums Komponieren geht, ums zunehmend freie Gestalten mit Formen und Farben, die er als bildnerisches Material einsetzt: Courbet spachtelt, schichtet, bürstet, knetet sie auf die Leinwand. Mit guten Gründen sehen viele Interpreten in seiner Behandlung der Bildgegenstände und insbesondere der Farbe eine Entwicklung, die bereits in Richtung Abstraktion führt.
Deutlicher noch als in den Juralandschaften tritt der Vorrang von Form, Farbe und Materialität bei Courbets Küstenlandschaften und Meereswellen zutage. Die Leere eines Strandes kommt der zur Abstraktion tendierenden Bildauffassung quasi naturgemäss entgegen. Atmosphärische Stimmungen und die Bewegtheit von Wogen und Wolken sind Bildthemen, die das Repertoire malerischer Fertigkeiten nicht nur herausfordern, sondern auch erweitern. Courbet sah sich als der Virtuose, der solche Schwierigkeiten meistert und die Malerei zu neuen Ausdruckmöglichkeiten vorantreibt.
Gustave Courbet galt zu seiner Zeit in Frankreich als der bedeutendste Maler. Man muss an diesem Urteil sicherlich nicht festhalten. Seinem Freund Paul Cézanne kommt aus heutiger Sicht ungleich grössere Bedeutung zu. Courbet ist nicht ganz zu Unrecht weniger bekannt als die heute berühmtesten Maler seiner Epoche; dafür aber ist er ein Meister der Meister. Er begeisterte und inspirierte von Henri Matisse bis zu Gerhard Richter zahlreiche grosse Maler. Sie finden bei Courbet idealtypisch jene Haltung radikalen Künstlertums, die immer wieder herausragende Gestalten hervorbringt.
Gustave Courbet, 7.9.2014 – 18.1.2015, Fondation Beyeler, Riehen/Basel