Die Eröffnung des Korruptionsprozesses gegen den israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu ist vom 17. März auf den 24. Mai verschoben worden. Ein Sprecher des Justizministeriums bezeichnete diesen Schritt als eine Massnahme im Kampf gegen das Coronavirus: Die Gerichte befänden sich ab sofort im Ausnahmezustand und behandelten nur Sicherheitsfälle, alles andere werde verschoben.
Kurz zuvor hatte Netanjahu in einer Pressekonferenz weitreichende Massnahmen gegen die auch in Israel wachsende Bedrohung durch das Virus angekündigt. Man trete hier gegen einen „unsichtbaren Feind“ an und man werde alles einsetzen, um die Verbreitung des Virus zu bekämpfen, „darunter technologische, digitale und auch andere Mittel, die ich bisher nicht unter der Zivilbevölkerung habe einsetzen lassen“.
Ein Sieg, der keiner ist
Netanjahu ist immer schon für eine Überraschung gut gewesen. Den Prozess in drei Fällen der Korruption hatte er im Laufe des zurückliegenden Jahres immer wieder zu verhindern oder wenigstens zu vertagen versucht und auf diese Weise massgeblich dazu beigetragen, dass Israel im gleichen Zeitraum dreimal Wahlen abhalten musste. Allerdings ohne klares Ergebnis für oder gegen den rechtsnationalistischen Kurs Netanjahus.
Nach den letzten Wahlen Anfang März feierte Netanjahu zwar wieder einmal seinen vermeintlichen Sieg, aber dies erwies sich rasch als verfrüht. Es begann ein Gerangel um einzelne Mandate, die er mit allen möglichen Versprechungen seinem Widersacher Benny Gantz von der Mitte-Links-Partei „Blau-Weiss“ abzuluchsen versuchte, Netanjahu schaffte es aber nicht, mit 61 Mandaten eine Mehrheit im Parlament sicherzustellen.
Berücksichtigung der arabischen Bürger?
Auch Gantz schaffte dies nicht. Er konnte aber mehr Abgeordnete aufbieten als Netanjahu, ausserdem hatte er die Zusicherung der „Vereinten Liste“ der arabischen Bürger, eine Regierung Gantz auch ohne Koalitionsbeteiligung zu unterstützen.
Die Liste ist inzwischen drittgrösste Partei Israels und die Stimmen in liberalen israelischen Kreisen häufen sich, dass es an der Zeit sei, die arabische Minderheit (ca. 20% der Bevölkerung) politisch zu berücksichtigen.
Corona, Netanjahus Chance?
Für Netanjahu ist solches undenkbar. Er versuchte deswegen zunächst, die Idee einer Gantz-Regierung mit arabischer Rückendeckung als Quasi-Landesverrat zu diffamieren, und dies hätte sich zu einem weiteren „schmutzigen Krieg“ Netanjahus entwickeln können, wenn Israel nicht von Tag zu Tag immer tiefer verstrickt worden wäre in die Auswirkungen der Coronavirus-Pandemie.
So makaber es klingen mag, so wenig ist es von der Hand zu weisen: Netanjahu muss hier eine neue Chance gesehen haben, seine gegenwärtigen politischen Probleme nicht nur unbeschadet, sondern möglichst gar als Sieger zu überstehen. So rief er den Führer von „Blau-Weiss“ auf zu einer Regierung der nationalen Einheit, um den gesundheitlichen Problemen des Landes wirkungsvoll entgegenzutreten.
Notstandsregierung?
Auf den ersten Blick ein logisches und überzeugendes Argument, nicht aber für Gantz: Seine Partei müsse im Fall einer Koalition wichtige Ministerien übernehmen und werde sich nicht als Mehrheitsbringer ohne jeden weiteren Einfluss missbrauchen lassen.
Es dürfte bezeichnend dafür sein, wie ernst die Lage für Netanjahu und auch für Israel ist: Am Sonntagmorgen machte Netanjahu den Vorschlag, eine Notstandsregierung für die Dauer von sechs Monaten zu bilden, in der die wichtigsten Ministerien unter Netanjahus „Likud“ und Gantz‘ „Blau-Weiss“ verteilt werden und keine der beiden Parteien diese Regierung durch Misstrauensantrag zu Fall bringen kann.
Chance für einen Wechsel?
Netanjahu hat sich also bewegt, wenn auch nur andeutungsweise. Aber es ist mehr als offenbar, dass dies in erster Linie dazu dienen soll, sein eigenes politisches Überleben zu sichern. Dass die Dinge sich am Wochenende zu überschlagen schienen, hat natürlich auch einen „technischen“ Grund: Die Parteien begannen, Präsident Rivlin ihre Empfehlungen zu übergeben, wen sie beim Versuch einer Regierungsbildung unterstützen. Hierbei deutete sich nun eine Chance für einen Wechsel ab: Die Vereinte arabische Liste sagte die Unterstützung ihrer 15 Abgeordneten für Gantz zu. Womit er eine bequeme Mehrheit in der Knesset hinter sich hätte.
Sollte Netanjahu sich doch verkalkuliert haben?