Wird Indien der nächste Corona-Hotspot? Die Frage der Economic Times vom 17. März wurde ausgelöst durch zwei neue Fälle in der Hauptstadt Delhi. Es waren die Fallnummern 115 und 116 in der Zahl aller als infiziert registrierten Inder (es sind inzwischen 135). Angesichts der Tatsache, dass die erste Corona-Infektion am 30. Januar festgestellt wurde, lässt sich leicht nachvollziehen, dass viele Inder Mühe bekunden, sich ernsthaft bedroht zu fühlen.
Stimmen diese Zahlen?
Wer das Land kennt, ist allerdings nicht überzeugt, dass diese Zahlen stimmen. Indien bildet ausgezeichnete Ärzte aus und hat eine breite Gesundheits-Infrastruktur; diese befindet sich aber – mit Ausnahme der Spitzenmedizin in Grosstädten – in marodem Zustand. Er hat dazu geführt, dass viele tausend Ärzte ins Ausland abgewandert sind.
Auf 10’000 Bewohner kommen nur gerade acht Ärzte – in Italien sind es 44. Ähnlich arg ist es um die Anzahl von Critical-Care-Spitalbetten bestellt. Auf 100’000 Einwohner gibt es 2,3 Einheiten. Als Vergleich: In Italien, von dem man nun weiss, dass es zu wenig hat, sind es fünfmal so viele.
Gekoppelt mit der Bevölkerungsdichte präsentiert das 1,35-Milliarden-Volk daher ein Krankheitsbild, das auch die weltweit grösste Dichte an Krankheitserregern zählt. Zudem weist es einen ebenfalls überdurchschnittlichen Anteil an genetisch bedingten Schwächen auf, insbesondere Diabetes und Herz-Kreislauf-Störungen. Kommt hinzu, dass die statistische Erfassung von Krankheit und Tod weit der Realität nachhinkt. Nur etwa 17 Prozent der Verstorbenen werden medizinisch erfasst.
Slums von Globalisierung wenig betroffen
Verbirgt sich hinter der Zahl der Corona-Toten daher eine hohe Dunkelziffer? Die Regierung verneint es. Sie sagt, dass bereits nach dem ersten Auftreten des Virus in Wuhan alle Reisenden aus China einem Test unterzogen wurden. Die meisten registrierten Fälle wurden denn auch auf eine italienische Reisegruppe zurückgeführt, die anfangs Februar durch Rajasthan reiste; sie zählen ebenfalls zu den offiziell registrierten Opfern.
Die Skepsis gegenüber der geringen Zahl von Infizierten liegt auch darin begründet, dass Indien mit 51 Testlabors bei weitem zu wenig Untersuchungen – weniger als 50’000 – durchgeführt hat, um ein getreues nationales Krankheitsbild zu erlauben. Das angewandte Protokoll untersuchte zudem nur Personen mit Atembeschwerden, einer suspekten Reisetätigkeit oder Kontakt mit bereits bestätigten Krankheitsträgern.
Bisher wurden keine gezielten Tests zur Feststellung von „Community Transmissions“ durchgeführt, bei denen „blind“, d. h. unabhängig von aufgetretenen Fällen nach einer Präsenz der Viren gesucht würde. Dabei dürften gerade bei den engen Lebensverhältnissen, zum Beispiel in einem Slum, Infektionsherde virulent sein.
Die Regierung begründet diesen Mangel mit dem Hinweis, dass Slums und Dörfer Geografien sind, die von den Strömen von Personen und Gütern unserer globalisierten Welt kaum berührt werden; sie seien es, die den Transmissionsriemen für die primäre Ausbreitung des Virus bilden. Das ist denn auch der Grund, warum bis jetzt die meisten (und besten) Massnahmen bei der Kontrolle der Aussengrenzen getroffen wurden.
Physische Nähe und Migration
So plausibel das Globalisierungsargument auf den ersten Blick erscheint, so wenig beachtet es die physische Nähe zwischen Mitgliedern der lokalen globalen Elite und den Armeen von Haushaltshilfen und anderen Dienstleistern, die auf engem Raum in Elendshütten leben. Die meisten handwerklichen Arbeiten – gerade solche, die mit Abfall und Schmutz zu tun haben – werden selbst in Mittelklassehaushalten von Leuten erledigt, die jeden Tag zwischen Hochhaus und Slum pendeln.
Genauso vernachlässigt wird die Tatsache, dass viele Slumbewohner Migranten aus ländlichen Gebieten sind. Sie haben ihre Verbindung zum Dorf nicht abgebrochen, sondern kehren immer wieder dorthin zurück. Sie haben zu jeder Jahreszeit Verwandte und Nachbarn zu Besuch und teilen mit ihnen den engen Raum – und die Pathogene.
Der Begriff der „sozialen Distanz“ hat wenig Bedeutung, wenn man sich veranschaulicht, dass gerade das Putzen am intensivsten im Hygienebereich geschieht, idealen Herden für Krankheitserreger. Zudem hat der Begriff gerade für diese Leute einen beinahe höhnischen Nachklang. Die meisten von ihnen sind Dalits oder tiefkastige Hindus, die seit Jahrhunderten Opfer einer sozialer Distanzierung sind, die von ihren Arbeitgebern weiterhin gepflegt wird – nur nicht im Abfall, den sie hinterlassen.
Die Volksmagie der Hindu-Nationalisten
Ähnlich zynisch hört sich für viele Menschen die offizielle Toleranz eines wirtschaftlichen „Slowdowns“ durch Schliessungen an, als Preis für weniger Übertragungen. Ein solcher mag den Existenzschutz verbessern, er bedroht aber zugleich einen anderen lebenswichtigen Schutz – die wirtschaftliche Tätigkeit, das einzige „Netz“, das die meisten haben.
Nicht zuletzt diese existentiellen Nöte bewirken, dass sich die Risikowahrnehmung bei einem neuen Virus, selbst wenn er eine tödliche globale Spur zieht, nur langsam schärft. Nichts zeigt dies drastischer als das Verhalten der Hindu-Nationalisten, die zuerst einmal versuchen, mit Volksmagie dagegen anzukämpfen. So erklärte der Präsident der radikalen Hindu Mahasabha-Partei, der Virus sei ein Racheengel, der gekommen sei, alle Fleischesser zu bestrafen, namentlich jene, die Kuhfleisch verzehren. Das einzige Gegenmittel sei das Trinken von Kuh-Urin.
Aufruf zur Massenversammlung in Ayodhya
Verhängnisvoller ist das Verhalten des BJP-Regierungschefs des grössten Bundesstaats Uttar Pradesh. Der mörderische Mönch Yogi Adityanath hatte keine Hemmung, für nächste Woche eine Viertelmillion Hindus in die Tempelstadt Ayodhya einzuladen, um dort den ersten Spatenstich für einen neuen Tempel zu Ehren des Gottes Ram zu feiern.
Es scheint ihn nicht zu kümmern, dass seine eigene Regierung gleichzeitig auf Plakatwänden allen Bürgern vorschreibt, jede Versammlung auf maximal zehn Personen zu beschränken. Und deshalb darf auch der Welt-Hindu-Rat (VHP) nachziehen: In 275’000 Dörfern des Landes will er grosse Puja-Feuerzeremonien durchführen, um dasselbe Ereignis zu feiern.
Die Geschichte vom Erfinder des Schachspiels
Auch andere Provinzen befleissigen sich bizarrer Vorgaben. In Delhi hat die Lokalregierung Schulen, Restaurants, Museen und Sportarenen geschlossen. Auch Menschenansammlungen von mehr als 50 Personen sind verboten. Pikanterweise schliesst dies auch die Protestgruppen ein, die sich seit Monaten in Sit-ins gegen das neue Bürgerrechtsgesetz zur Wehr setzen und sich bisher jedem Räumungsbefehl widersetzt haben. Dagegen sind Hochzeitsfeiern keinen solchen Restriktionen unterworfen. Eine Hochzeit mit weniger als 50 Personen? Das wäre in Indien schlicht keine Hochzeit.
Da haben es die Medien bei der Berichterstattung über die internationalen Notstandsmassnahmen schwer, dem Publikum nahezubringen, was ein Ausbruch der Virus-Epidemie in einem Land von der Grösse Indiens bedeuten würde.
Ein Kolumnistin der Zeitung Mint wollte ihren Lesern nahebringen, was „exponentielles Wachstum“ bei einer ansteckenden Krankheit bedeuten könnte, die für ihr Zerstörungswerk lediglich auf physische Nähe und eine grosse Bevölkerung angewiesen ist. Sie erzählte ihnen die Geschichte vom Erfinder des Schachspiels.
18 Quadrillionen Reiskörner
König Vikramaditya, so beginnt die auch bei uns bekannte Story, sei begeistert gewesen, als ihm der Schachmeister das Spiel beibrachte. Er lud ihn ein, irgendeinen Wunsch zu äussern – er würde gewährt. Gross war des Königs Enttäuschung, als er ihn hörte: Der Erfinder wollte für jedes der 64 Felder Reiskörner – und zwar ein einziges für das erste Quadrat, und das Doppelte für jedes folgende.
Beim 32. Feld unterbrach der König das Spiel. Sie hatten erst die Hälfte des Bretts erreicht, und bereits waren es über zwei Milliarden Reiskörner. Beim 64. wären es 18 Quadrillionen gewesen – „ein Berg von Reis, grösser als der Mount Everest“. Der König wurde so wütend, dass er den armen Erfinder auf seine Art Schachmatt setzte: er liess ihm den Kopf abschneiden.