Hätte sich der vor hundert Jahren in Müstair geborene und 1992 in Trun verstorbene Tista Murk mit Kopf und Herz durchgesetzt, wäre das Bündnerromanische eine in aller Vitalität gesicherte Sprache. Das ist nicht der Fall. Die seit 1938 in der Bundesverfassung verankerte vierte Landessprache ringt auch in ihren historischen Verbreitungsgebieten um die selbstverständliche Akzeptanz. Das Bündnerromanische als Hauptsprache verliert allen Bemühungen zum Trotz an Wichtigkeit. Diese Entwicklung würde Tista Murk traurig stimmen, dann in heiligen Zorn versetzen und schliesslich zum Handeln befeuern: unerschrocken und – durch die Sache dazu noch so gerne legitimiert – markerschütternd.
Weite gegen Enge
Die Förderung und Pflege der sprachlichen und kulturellen Rumantschia war die sein Leben prägende Leidenschaft. Sie fand ihre stärkste und bis heute fortdauernde Wirkung im rätoromanischen Radio und Fernsehen. Pionierhaft beteiligt am Aufbau beider Medien, diente er ihnen mit einem die bescheidenen Mittel kompensierenden feu sacré als Redaktor, Moderator und Reporter. Seine Sendung «Viagiond cul microfon» (Unterwegs mit dem Mikrofon) wurde legendär, weil sie die fünf rätoromanischen Idiome nicht je für sich berücksichtigte, sondern zwischen ihnen so ungewöhnlich wie gewagt Brücken schlug.
Tista Murk, Klosterschüler in Disentis, nach sprachwissenschafltichem Studium in Freiburg, Paris und Bern als Bibliothekar in Chur tätig, machte mit seinem ersten, 1945 publizierten Gedichtband «Prüms prüis» einerseits seine dichterische Berufung klar und anderseits seine Entschlossenheit, Konventionen zu sprengen und die geistige Enge mit der Weite zu konfrontieren.
Alleinherrschender Impressario
Die Weitsicht gegen die Engstirnigkeit blieb sein Programm. Auch mit der Bereitschaft, den als richtig erkannten Weg alleine zu gehen und Anfechtungen in Kauf zu nehmen. Er schrieb und inszenierte Theaterstücke, verfasste journalistische Beiträge, verhalf Schriftstellern zur Öffentlichkeit, gründete Bibliotheken und hielt Vorträge, auch Brandreden gegen die als pflichtvergessen empfundene Obrigkeit.
Sein Engagement ohne Schonung der Kräfte war einzig am Ziel orientiert, seinem geliebten Rätoromanischen die Bedeutung zu mehren. Wo sich eine Not meldete, eilte er wirbelnd und mitreissend herbei. Er war alleinherrschender Impressario auf seiner Bühne der Rumantschia – mit der Einschränkung, dass er ohne das aufopfernde Verständnis seiner Frau Tilda das Pensum niemals hätte bewältigen können.
Fördern als Ereignis
Tista Murk verknüpfte die rätoromanische Sprache mit der Überzeugung, ihre Beherrschung sei Bedingung für die Verwurzelung in einer eigenen Identität. Diese Auffassung deckte sich mit den Anliegen der geistigen Landesverteidigung, die vor dem Zweiten Weltkrieg breit mobilisierte und die verfassungsmässige Anerkennung des Rätoromanischen als Landessprache begünstigte.
Die Zeiten wandelten sich – und mit ihnen das Bündnerland, das die Sprachenfrage heute nicht mehr nach ausschliesslich kulturellen Gesichtspunkten beurteilt. Tista Murk war in seiner Epoche der wirkungsmächtigste Bahnbrecher, der auch ausserhalb Graubündens zum Synonym für die selbstbewusste Rumantschia wurde.
Ihre Förderung folgte weder ausgeklügelt einem politischen noch einem pädagogischen Masterplan, sondern spontan dem aktuellen Bedarf und stets in der Form eines mit Leib und Seele geschaffenen Ereignisses. Klar: Es ging Tista Murk um die rätoromanische Sprache und ihre Durchdringung des Alltags. Aber er überhöhte dieses Ziel mit der Idee, die Bewahrung der historischen Idiome kröne die Bestimmung seiner Heimat. Seither lösten nüchterne Strategien die pathetischen ab.
Bibliothekarische Verdienste
Tista Murk darf ein weiteres und oft vergessenes Verdienst zugeschrieben werden. Gemeint ist die Schweizerische Volksbibliothek, heute Bibliomedia, deren Direktor er von 1969 bis zu seiner Pensionierung 1980 war. Er modernisierte den Betrieb und führte ihn in die Zukunft. Als Münstertaler, darauf legte er Wert, verhalfen ihm seine Sprachbegeisterung, seine freundschaftlichen Qualitäten für die Pflege eines grossen Beziehungsnetzes und seine Beharrlichkeit auch in Bern zum Gelingen.
In würdigender Erinnerung taufte die Zürcher Hochschule für angewandte Wissenschaften das kürzlich eingeweihte Bibliotheks-Gebäude in Winterthur auf den Namen Tista Murk. Der Pionier wird aus Anlass des 100. Geburtstages auch in Graubünden von der Lia Rumantscha und der Radiotelevisiun Svizra Rumantscha mit einem Buch und zahlreichen Veranstaltungen geehrt. Die Benennung einer Strasse oder eines Platzes nach Tista Murk wäre eine nachhaltige Ergänzung.