Nur eine Ausnahme war diesen Sommer gestattet: die TV-Serie "Satyamev Jayate" – "Die Wahrheit wird siegen" –, die der Bollywood-Schauspieler Aamir Khan wöchentlich in dreizehn Folgen präsentierte und die dann auf YouTube zu sehen war.
Auch in Indien sind Filmstars gern bereit, "Reality Shows" oder Quiz-Programme zu moderieren, um sich zwischen Filmauftritten im Gespräch zu halten. "Die Wahrheit wird siegen" ist eine Reality Show, allerdings eine, die "Reality" ernst nimmt. Als STAR-TV Khan vor drei Jahren eine Serie anbot, liess er sich nicht wie die meisten seiner Bollywood-Kollegen bereitwillig ins angebotene Format einpassen. Stattdessen erbat er sich ein Jahr Bedenkzeit, setzte eine kleine Arbeitsgruppe ein und schickte diese ins Land hinaus. Dann arbeitete er zwei Jahre ausschliesslich an der Sendung und liess dabei ausser einem alle Filmprojekte fallen.
Ein klein wenig Veränderung bewirken
Aamir Khan ist heute der teuerste Bollywood-Schauspieler, aber nicht, weil er sich auf dem Tanzboden am kühnsten verrenken kann oder in Kampfszenen die grössten Muskelpakete spielen lässt. Er kann auch dies, doch seine grössten Filmerfolge waren bisher jene, in denen er sich mit der Realität seines Landes auseinandersetzt – Nationalismus, Kastendiskriminierung, Korruption, das Los behinderter Menschen oder die Qualität der Schulbildung. Er engagiert sich in zivilstaatlichen Kampagnen, seien es Wassernot, Hygiene, Unterernährung oder Umwelt. Was ihn aber immer auszeichnet ist die fast wissenschaftliche Gründlichkeit, mit der er an jedes seiner Projekte herangeht und dessen Umsetzung bis ins Detail kontrolliert.
Daher die Arbeitsgruppe und daher seine Überlegung: „Wir sehen ständig um uns herum Dinge passieren, die uns verstören; und wir wissen nicht, wie wir dagegen etwas bewirken können. Fernsehen ist ein mächtiges Medium. Was wäre, wenn ich es nutzen würde, um jeden Haushalt zu erreichen? Wenn ich auf diesem Weg ein klein wenig Veränderung bewirken könnte?“. Denn nicht immer, sagte er dem Magazin "Tehelka", ist es die Polizei oder die Regierung, die an Allem Schuld trägt. Was, wenn das Verbrechen im Schlafzimmer geplant oder gar ausgeführt wird?
Opfer und Täter sollen zu Wort kommen
Aamir Khan schlug dem erstaunten STAR-Management eine "Reality Show" von dreizehn Folgen vor, in denen jede einen weitverbreiteten sozialen Missstand thematisiert. Opfer sollten zu Wort kommen, aber auch Täter, er würde Experten interviewen, Sozialarbeiter zeigen, Reaktionen von Politikern einholen. Aber es sollte keine rein journalistische Analyse sein. Er wollte die Geschichten und Gesichter von Opfern zeigen, Emotionen wecken, Änderungen aufzeigen. Seine Produktionsfirma würde die Beiträge konzipieren und gestalten. Und er wünschte sich nur wenige Schlüsselsponsoren. Diese hätten nicht nur Spitzenpreise zu bezahlen; sie müssten zudem auf die üblichen Werbeblöcke verzichten, um die Wirkung der Sendung nicht zu verwässern. Khan ging mit dem guten Beispiel voran: Er verzichtete für ein Jahr auf jeden Sponsorenvertrag mit sich selber als Werbeträger, ein persönlicher Einkommensausfall von 1 Milliarde Rupien (20 Mio. Dollar).
Nicht nur die Zugkraft seines Star-Appeal köderte die Sponsoren. Khan überredete STAR-TV, die Sendung gleichzeitig in acht anderen Fernsehkanälen des Star-Netzwerks auszustrahlen, und auch den weitaus grössten, den staatlichen "Doordarshan", als Partner zu gewinnen. Und er setzte auch die Sendezeit durch; statt dem Abend mit seinen hohen Einschaltquoten wählte er den späten Sonntagmorgen. Es ist ein "Friedhof-Slot", der von den meisten Fernsehanstalten vernachlässigt wird, argumentierte Khan. Aber dafür ist er konkurrenzlos und hält Zuschauer vom ständigen Zappen ab. Er ist auch, wie Khan erkannte, „der einzige Zeitpunkt in der Woche, an dem die ganze Familie zuhause ist“. Zudem würde er Erinnerungen wecken an die ersten grossen Fernsehserien in den Achtzigerjahren über das "Ramayana" und "Mahabharata", Indiens klassische Epen. Die indischen Strassen waren an jenen Sonntagen zwischen elf und zwölf Uhr freigefegt, weil jedermann vor dem Fernsehen sass.
Psychotherapie für die Filmer
Doch statt Götterbärten und Wohlfühl-Fernsehen rollte dann eine Lawine von Sozialschockern in die Stuben. Sie räumten mit den idealisierten Selbstbildern von "Shining India" auf, aber auch mit dem Mittelklasse-Vorurteil, dass Armut und Analphabetismus an allem schuld ist. Gleich die erste Episode befasste sich mit dem Fötizid von Mädchen. Sie zeigte in drei Geschichten, mit welcher Selbstverständlichkeit städtische Berufsleute sich mit Ärzten zusammentun, um eine so massive Geschlechtsselektion zu betreiben, dass heute schon ganze Regionen einen Notstand an heiratsfähigen jungen Frauen erleben.
Darauf kamen die sozialen Skandale Schlag auf Schlag: Frauenhandel, Organhandel, die Epidemie von Quacksalber-Medikamenten und die chemische Vergiftung von Nahrungsmitteln, Wassernot, häusliche Gewalt, sexueller Missbrauch in der Familie, Kastendiskriminierung, die ruinöse Praxis des Brautpreises, Alkoholismus usw. Jede Episode erzählte Geschichten der Ausbeutung – aber auch von Widerstand und Mut. Aamir Khans Interviews brachten Tränen von Scham und Mitgefühl, aber auch von Bewunderung, in die Gesichter des Studio-Publikums, nicht zuletzt in seines. „Die Sendungen haben uns so aufgewühlt“, sagte er am Ende der Serie, „dass jeder von uns im Team beschlossen hat, uns einer Psychotherapie zu unterziehen“.
Nationale Katharsis
Der Effekt glich einer nationalen Katharsis. Über 400 Millionen Inder schauten sich die ersten Sendungen an, und auch nach dreizehn Wochen sank die Zahl nie unter 300 Millionen. Selbst Provinzzeitungen berichteten ausführlich über jede Sendung, und Khan selber kam in zahlreichen Radiostationen des Landes (und in mehreren Sprachen) jede Woche zu Wort. Dabei ging es ihm nicht darum, das Thema noch weiter breitzutreten, sondern den Zuhörern Wege aufzuzeigen, wie sie selber Verantwortung übernehmen können.
In seiner üblichen Gründlichkeit hatte Aamir Khan ein Demoskopie-Unternehmen angeheuert, um die öffentliche Wirkung der Sendungen zu messen. Die registrierten Werte bewiesen, dass "Die Wahrheit wird siegen" alle bisherigen Publikumsrekorde geschlagen hat. Neben den hohen Einschaltquoten registrierte das Internet über eine Milliarde Notierungen der Sendung, und nach jeder Episode erreichten die Tweets zweistellige Millionenwerte.
Nerv getroffen
Doch solche Ausschläge in der öffentlichen Aufmerksamkeit sind in der Regel ebenso flüchtig wie Sternschnuppen, und die Frage ist offen, ob die TV-Serie überhaupt Tiefenwirkung erzielen kann. Immerhin zeigt die sicherste Radaranzeige für öffentliches Interesse – die Reaktion der Politiker – , dass Aamir Khan einen Nerv getroffen hat.
In verschiedenen Landesparlamenten gab es Interventionen und Stellungnahmen der Regierung. Nach der Fötizid-Sendung kündigte der Regierungschef von Rajasthan (wo die Praxis weit verbreitet ist) die Schaffung von Sondergerichten an, um mit der laxen Bestrafung aufzuräumen. Und der Minister für Wasserressourcen von Maharashtra meldete sich persönlich im Haus des Filmstars. Er bat ihn um Kontaktvermittlung mit einer Frau in Chennai, die dort ein intelligentes Modell zum sparsamen Wasserverbrauch entwickelt hatte.