Als Gouverneur der Provinz Panjab – Heimat von zwei Dritteln der Bevölkerung Pakistans – hatte er mehrmals Gelegenheit gehabt, gerichtliche Todesurteile an seinen Chef, den Staatspräsidenten, weiterzuleiten. Immerhin hatte er eine Vorahnung, als er beschloss, Asiya Bibi im Gefängnis zu besuchen. Und als er an der anschliessenden Pressekonferenz erklärte, das Todesurteil gegen sie sei ein schweres Unrecht, war für seine Freunde das Urteil gesprochen. In einer Twitter-Meldung sagte er ihnen später, er habe gar nicht anders handeln können. Denn wenn nicht einmal er den Mut aufbringe, dieses ‚Schwarze Gesetz‘ zu bekämpfen, wie könne er es dann von Gleichgesinnten erwarten?
Das Blasphemie-Gesetz lautet auf Todesstrafe für eine Person, die gegen den Propheten lästert. Es genügt eine (muslimische) Klägerin, und einige Zeugen gleichen Glaubens, um das Gericht zu diesem Urteil zu zwingen. Und da Nicht-Muslime schon durch ihren Unglauben so etwas wie eine Gotteslästerung darstellen, ist das Gesetz ein bequemes Mittel geworden, sich missliebiger Christen zu entledigen. Die meisten Todesurteile betreffen Christen und jedes Mal hatten deren Verteidiger Futterneid oder Nachbarnstreit als eigentlichen Klagegrund ausgemacht. Zwar wurde bis jetzt noch nie ein Urteil vollstreckt. Aber dreissig Angeklagte sind – wegen der Nicht-Vollstreckung? – von unbekannter Hand in der Haft ermordet worden.
"Tod durch den Strang
Auch Asiya Bibi wurde ein Streit mit Nachbarinnen zum Verhängnis. Er war darüber ausgebrochen, wer zu viel Wasser vom Dorfbrunnen bezog. Eine Woche später gingen einige Frauen zur Polizei und klagten, Asiya habe dabei Verwünschungen gegen den Propheten ausgesprochen. Die 45-jährige Mutter von fünf Kindern wurde verhaftet und verurteilt. Der Schuldspruch des lokalen Gerichts wurde in allen Instanzen bis zum Obersten Gericht bestätigt: Tod durch den Strang. Sherry Rehman, eine Abgeordnete der regierenden Volkspartei (und eine Freundin der vor drei Jahren ermordeten Benazir Bhutto) brachte darauf einen Revisionsentwurf im Parlament ein, um dieser schändlichen Rechtsfindung und -sprechung endlich ein Ende zu setzen. Salman Taseer stellte sich offen hinter sie – er sprach sein eigenes Todesurteil.
Dessen Vollstreckung folgte keine drei Wochen später, am 4.Januar in Islamabad. Mumtaz Qadri, einer der ihm zugeteilten Leibwächter, schoss auf Taseer, als sich dieser von einem Restaurant in der Hauptstadt zu seinem Auto begab. Qadri leerte ein Magazin seiner Schnellfeuerwaffe, wechselte ein neues ein und schoss noch einige Male auf die zusammengebrochene Gestalt vor ihm. Dann warf er die Waffe weg, erhob seine Hände und ergab sich. „Das Urteil für Gotteslästerung ist der Tod. Ich habe es vollstreckt. Es war der Wille Allahs“. Und er grinste breit in die Kameras.
Hexenjagd
Kameras? Was hatten die vor dem Restaurant verloren? Eben. Kaum hatte Taseer damals in Sheikhupura seine Unterstützung zur Revision des Blasphemiegesetzes publik gemacht, brach in Pakistan eine Hexenjagd aus. Zahlreiche Prediger sprachen über Taseers Haupt eine Todesfatwa aus, islamische Parteien, aber auch Volksparteien wie die Muslim-Liga forderten wenn nicht seinen Kopf, so doch seinen Sitz, es kam zu Protestzügen, Strohpuppen Taseers wurden verbrannt.
Die Medien schürten die Flammen und fragten, wie es einem ‚angeblichen Muslim‘ überhaupt einfalle, eine Christin, und dazu noch eine Gotteslästerin, in Schutz zu nehmen. Nicht einmal die Regierungspartei stellte sich hinter den Gouverneur, und kein einziger Parlamentarier unterstützte Sherry Rehmans Revisionsentwurf. Als Mumtaz Qadri am Dienstagmorgen dem Bewachungsdetachement für den Gouverneur zugeteilt wurde, fragte offenbar kein Vorgesetzter des Elite-Polizeikorps, was es mit den Todesdrohungen auf sich habe, die Qadri wiederholt gegen Taseer geäussert hatte.
Die Medien richteten sich auf den Gerichtstag ein, und Taseer war nun ständig von Kameras begleitet. Noch düsterer war, was nach der Bluttat geschah. Keiner der anderen Polizeibeamten richtete die Waffe auf den Mörder. Er wurde verhaftet, doch man liess ihn frei in die Kameras sprechen und sich rechtfertigen. Als er tags darauf dem Richter vorgeführt wurde, konnten Anwälte und Zuschauer ihm die Hände schütteln, Girlanden um den Hals hängen und Süssigkeiten verteilen. Beim Begräbnis hatte die Familie Mühe, überhaupt einen Mullah zu finden, der die Trauergebete sprach. Niemand spricht mehr von der Revision eines Gesetzes, das allen internationalen Normen Hohn spricht.
Das einzige, was noch fehlt, ist eine charismatische Führerfigur
Die Situation in Pakistan erinnert mich immer mehr an die letzten Tage der Weimarer Republik: Ein traditionell tolerantes Volk, tief verunsichert durch Krieg und wirtschaftliche Katastrophen; eine radikale intolerante Ideologie, die vor Terror gegenüber dem ‚Andern‘ nicht zurückschreckt; ein Staat, korrumpiert durch eine feudale Elite, die ihn als Selbstbedienungsladen nutzt; demokratische Parteien, deren Führungen ihre Sonderinteressen nicht abschütteln können; eine Armee, deren Spitze ebenfalls in feudalem Denken gefangen ist, und deren unteres Kader der Versuchung einer totalitären religiösen Ideologie ausgesetzt ist. Das Einzige, was noch fehlt, ist eine charismatische Führerfigur, die dieses morsche Gebäude zum Einsturz bringt und auf seinen Ruinen eine Diktatur der Reinen und Gottgefälligen verspricht. Solange es eine solche Projektionsgestalt nicht gibt, werden sich die einzelnen Kräfte gegenseitig aushebeln und wird sich Pakistan zerfleischen.
Salman Taseer spiegelte diese Widersprüchlichkeit der pakistanischen Gesellschaft. Ich habe ihn 1991 getroffen, als er im politischen Exil war, an den Rand gestellt durch Benazir Bhutto, deren Vater er gedient hatte, die ihn aber als potentiellen Rivalen fürchtete. Zu Recht, denn wie sie verband er rhetorische Brillanz, materiellen Reichtum und ein elitäres Standesbewusstsein. Er war ein Liberaler, der in seiner reichbestückten Bibliothek teuren Whisky servierte, über Frauenrechte und Sozialismus schwärmte. Aber er behandelte seine Angestellten, seine Kinder und seine Frauen – Gattinnen oder Freundinnen – wie Grundeigentum, über dessen Schicksal er verfügte. Wie bei so vielen Drittwelt-Eliten klaffte bei Taseer (wie bei den Bhuttos) zwischen Sein und Bewusstsein ein tiefer Graben.
Und so konnte Gouverneur Taseer mutig demokratische Rechte einfordern, aber ihm fehlte der demokratische Puls und Impuls. Das Resultat war diese riesige Kluft, die Pakistan – im Gegensatz zu Indien – kennzeichnet: Politiker, die für Volksrechte eintreten, ohne dass das Volk gefragt wird. Die fehlende Traür für ihn ist nicht nur dem sich ausbreitenden fundamentalistischen Virus in Pakistan anzulasten; er spiegelt auch diese anhaltende soziale und emotionale Distanz zwischen armer Mehrheit und Eliten.
Weite Teile der pakistanischen Gesellschaft teilen mit den städtischen Liberalen eine südasiatische religiöse Toleranz. Doch beide Spielarten, die instinktive wie die rationale, haben sich politisch nie verbunden. Dieser Bruch zeigt sich in seiner vollen Tragik bei den nächsten Zielscheiben dieser unseligen Chronik: Sowohl Sherry Rehman, die glamoureuse und mutige Dame aus Karachi, wie auch Asiya Bibi, die wehrlose Christin im Gefängnis von Sheikhupura, sind die Nächsten auf der Todesliste.