Also doch: Wer die Schweiz geschlagen hat, ist auf gutem Weg, Weltmeister zu werden. Nach ihrem Sieg gegen die Holländer kämpfen die Argentinier wieder wie zuletzt vor 24 Jahren um den WM-Titel, abermals gegen Deutschland.
Die Selección hat in keinem der bisherigen Spiele brilliert, aber stets gesiegt, mit Einsatz, Disziplin und auch etwas Glück. Oder ein bisschen Hilfe von oben, wie viele mehr oder weniger kirchentreue Argentinos glauben. Papst Franziskus ist schliesslich Argentinier und bekennender Fussballfan. Auf seine Unterstützung bauen sie auch im Endspiel, sind sich allerdings bewusst, dass auch die Deutschen ihren Papst haben. Benedikt XVI. hat sich zwar auf das Altenteil zurückgezogen, dürfte aber nichtsdestotrotz weiterhin ebenfalls einen guten Draht zum Allmächtigen haben.
Es muss nicht immer Messi sein
Etwas mehr Spektakel hätte man von den Argentiniern auf ihrem nicht allzu schwierigen Vormarsch in den Final schon erwarten dürfen, spielt in ihrer Mannschaft doch der weltbeste Kicker. Aber Lionel Messi hat bislang an der WM nicht gezeigt, was wirklich in ihm steckt. Auffälligste Figur der Selección war nicht er, sondern Javier Mascherano. Der 30-jährige Mittelfeldspieler rackerte sich ab wie kein Zweiter in seinem Team. Er stopfte Löcher in der Abwehr, trieb seine Kollegen immer wieder an und bewahrte auch in kritischen Situationen den Überblick. Bei ihm spürte man viel deutlicher, dass er Weltmeister werden möchte als bei Superstar Messi.
Im Endspiel gegen Deutschland sind die Argentinier nicht die Favoriten. Aber selbst wenn sie dort verlieren, haben sie zumindest ihr zweitwichtigstes Ziel erreicht: Sie stehen auf jeden Fall besser da als ihr ewiger Erzrivale Brasilien, der im Halbfinal gegen die deutsche Nationalmannschaft eine niederschmetternde Abfuhr einstecken musste. Es überrascht deshalb nicht, dass nach dem Sieg ihres Teams gegen Holland argentinische Fans landauf und landab nicht bloss Jubelgesänge auf ihre Selección anstimmten, sondern auch Spottgesänge auf die kläglich gescheiterten Brasilianer. Umgekehrt wäre es genauso gewesen.
Die brasilianischen Fussballer standen unter einem gewaltigen Erwartungsdruck, an dem sie fast nur scheitern konnten. Nachdem es den Brasilianern gelungen war, die WM ins eigene Land zu holen und der Staat Milliarden in dieses Mega-Ereignis investiert hatte, musste der sechste Titel unbedingt her. Er sollte nicht bloss bestätigten, dass Brasilien die besten Fussballer der Welt hat, sondern auch endgültig eine Wunde schliessen, die manchen brasilianischen Fussballfan immer noch schmerzt, obwohl sie von einer weit zurückliegenden Niederlage herrührt: Damals, 1950, fand die WM ebenfalls in Südamerikas grösstem Land statt, und die Brasilianer verloren im Final zum Entsetzen der ganzen Nation gegen Uruguay mit 2:1.
Keine Spur von Jogo bonito
Wie überrissen die Ansprüche an die eigene Mannschaft waren, wurde schon bei den Vorbereitungsspielen der Brasilianer für die WM 2014 deutlich. Sie spielten in der Regel mehr schlecht als recht, waren praktisch nie ein Kollektiv, sondern eine nach schwer durchschaubaren Kriterien zusammengewürfelte Gruppe von Einzelspielern.
Als es dann ernst wurde, ging es im gleichen Stil weiter. Vom Eröffnungsspiel bis zum brutalen Ausscheiden gegen Deutschland war weit und breit nichts zu sehen vom vielgerühmten Jogo bonito, dem schönen Spiel, das immer noch als ein Markenzeichen der Brasilianer gilt. Chrampf statt Kunst prägte ihre Partien. Für die Kunst sorgten an dieser WM andere, Costa Rica etwa oder im Halbfinal Deutschland, das an dem Abend viel brasilianischer spielte als die Brasilianer.
Jetzt dem Trainer Felipão Scolari und einzelnen Spielern die ganze Schuld am Scheitern der Seleção in die Schuhe zu schieben, ist zu billig. Scolari hat bei der Spielerauswahl Fehler gemacht und seine Leute einen Fussball spielen lassen, der nicht auf sie zugeschnitten ist. Aber in ihrem Zorn auf ihn sollten die Fans nicht ganz vergessen, dass auch sie sich bis zum bitteren Ende vom Prinzip Hoffnung haben leiten lassen und an ein Wunder glaubten. Viele von ihnen haben ihre Nationalmannschaft überschätzt. Sie wollten in ihrer Euphorie allen gegenteiligen Anzeichen zum Trotz nicht wahrhaben, dass die Spieler nicht das bringen konnten, was sie von ihnen zu verlangen glauben durften.
Wieder Protest statt Begeisterung?
Die 7:1-Schlappe hat auch Präsidentin Dilma Rousseff erschüttert, und das wohl nicht nur des verletzten Nationalstolzes wegen. Im Oktober stehen Wahlen an, und die Kandidatin der Arbeiterpartei möchte weitere vier Jahre die Geschicke des Landes lenken.
Eine WM entscheidet auch im Fussballland Brasilien keine Ausmarchung um das höchste Staatsamt. Aber Rousseff muss damit rechnen, dass sich ein Teil der Frustrationen, die das demütigende 7:1 bei einem grossen Teil der Bevölkerung ausgelöst hat, sich in den nächsten Wochen gegen sie richten wird.
So lange Brasilien sich noch Hoffnungen auf den WM-Titel machen konnte, verstummte die Kritik an der Geldverschwendung beim Bau der Stadien sowie den korrupten Machenschaften und den vielen unerfüllten Versprechen rund um die WM weitgehend. Jetzt ist die Wahrscheinlichkeit gross, dass wieder wie vor der WM massenweise Unzufriedene auf die Strasse gehen und gegen die Regierung demonstrieren werden.
Sepp, der Einäugige
Den Weltfussballverband dürfte das kaum kümmern. Fifa-Boss Sepp Blatter hat schon lange vor dem Schlusspfiff verkündet, dass die WM ein grosser Erfolg sei, und das keineswegs bloss in sportlicher Hinsicht. Wo denn nun die angekündigten Proteste seien, fragte er an einer Veranstaltung mit triumphierendem Unterton. Und: Er habe von vorneherein gewusst, dass die Stadien ungeachtet aller Unkenrufe rechtzeitig fertig sein würden.
Alles in Butter also? Nicht ganz: Es gab auch während der WM Kundgebungen. Sie waren allerdings viel kleiner als vor einem Jahr beim Konföderationencup. Das grosse Aufgebot an Sicherheitskräften, aber auch das Wissen, dass an der WM selbst Demonstrationen kaum die erhoffte Resonanz finden würden, hielt Unzufriedene von grösseren Manifestationen ab.
In seiner Luxusherberge und in den VIP-Lounges der Stadien hätte Blatter aber wahrscheinlich auch von einer Grossdemo nichts mitbekommen. Die gellenden Pfiffe, mit denen er und Rousseff an der Eröffnungsfeier begrüsst wurden, dürften allerdings selbst bei ihm nicht ungehört verhallt sein.
Die Stadien waren tatsächlich rechtzeitig betriebsbereit, wenn auch das eine oder andere erst im allerletzten Augenblick. Aber wenn der Fifa-Chef offenbar nie daran gezweifelt hat, ist nicht einzusehen, warum seine Funktionäre immer wieder an den Brasilianern herumnörgelten.
Unerfüllte Versprechen
Blatter lässt in seiner Bilanz zudem ausser Acht, dass von den vor der WM versprochenen Infrastrukturprojekten, von denen längerfristig die einheimische Bevölkerung profitieren soll, nur etwa ein Drittel fertig gestellt wurden. Einige der geplanten Vorhaben wurden überhaupt nicht in Angriff genommen, andere sind noch im Bau.
Dass bei weitem nicht alles perfekt war, zeigte in erschreckender Deutlichkeit ein Unglück am Donnerstag der vergangenen Woche. Im WM-Austragungsort Belo Horizonte stürzte eine noch in Bau befindliche Strassenbrücke teilweise ein und begrub Fahrzeuge unter sich. Zwei Menschen starben, 22 wurden verletzt. Die Unglücksursache ist noch unklar.
Jetzt steht nur noch der Höhepunkt der WM aus: das Endspiel. Mancher Argentinier, der sich diebisch über das Debakel der Brasilianer gefreut hat, fragt sich inzwischen, ob es vielleicht doch besser gewesen wäre, wenn Brasilien statt Deutschland in den Final gekommen wäre. Mit gutem Grund: Gegen den ungeliebten Nachbarn hätten sie wohl deutlich bessere Siegeschancen als gegen die deutsche Nationalmannschaft.