Drei Dinge hätten sie in Tibet beeindruckt: die enorme wirtschaftliche Erschliessung der Region, die spirituelle Inbrunst der Pilger in den Strassen von Lhasa – und die Omnipräsenz chinesischer Sicherheitstrupps daselbst. „Jede Patrouille von fünf, sechs Mann war in Begleitung eines Feuerwehrmanns, der ein Löschgerät mit sich führte“.
Feuerlöschgeräte gegen Inbrunst? In den letzten neun Monaten haben nicht weniger als zwölf blutjunge Mönche und Nonnen versucht, sich aus Protest gegen die Politik Beijings das Leben zu nehmen. Es begann am 16. März, als sich der 20-jährige Phuntsog in den Strassen der Stadt Ngaba mit Kerosen übergoss und in Flammen aufging. Die Polizei war sofort zur Stelle. Beamte versuchten mit Stockschlägen auf den brennenden Körper das Feuer zu löschen. Phuntsog starb, ob von den Verbrennungen oder den Stockschlägen, ist schwer zu sagen. Und wie verhindert man, dass daraus ein politischer Flächenbrand wird? Indem man die Polizei mit Löschgeräten ausrüstet.
“Patriotische Erziehung“ für tibetische Mönche
Seit jenem Märztag ist es in Ngaba und Ganzi, zwei Präfekturen im Westen von Szechuan, zu elf weiteren Selbstmordversuchen gekommen, von denen die Hälfte mit dem Tod endete. Ngaba und Ganzi liegen nicht in der ‚Autonomen Region Tibet‘, sind aber Teil des tibetischen Kernlands von Amdo und Kham. Eine Million Tibeter leben allein in Ngaba, und der gleichnamige Hauptort beherbergt das Kloster Kirti, das laut meiner tibetischen Gewährsperson ein Zentrum der buddhistischen Theologie ist. Oder war. Denn seit den Unruhen von 2008, die von Lhasa aus auch auf Szechuan übergriffen, wimmelt es im Kloster von Polizisten. Zahlreiche Mönche seien verhaftet und abgeführt worden, Andere müssen sich einer ‚Patriotischen Erziehung“ unterwerfen, die in der öffentlichen Denunziation des Dalai Lama und seiner ‚Clique‘ gipfelt.
Woher diese erneute Verschärfung von Chinas Gangart? Wiederum ist es das religionspolitische Schattenboxen, das sich der 76-jährige Dalai Lama und die stolze Weltmacht liefern. '76-jährig' ist hier das entscheidende Wort. Auch eine 'einkarnation ist nicht unsterblich. Beijing muss nur auf den Tod des Mönchs warten, um dieser ehrwürdigen Institution den Garaus zu machen. Im Jahr 2007 machte ‚Befehl Nummer 5‘ der Staatsverwaltung für Religiöse Belange‘ dies mit entlarvender Offenheit klar: „Alle Reinkarnationsanmeldungen müssen der Abteilung für Religiöse Belange des Provinzregierung, der Provinzregierung selbst, sowie der Zentralen Staatsverwaltung für Religiöse Belange und dem Obersten Staatsrat unterbreitet werden“, stand damals in der Beijinger ‚Volkszeitung‘.
Reinkarnation und Emanation
Tenzin Gyatso liess sich mit der Antwort Zeit, als wäre er es, der nur auf das Ableben seines Widersachers warten müsste. Erst vier Jahre später, am 24. September 2011, kam seine Antwort. Die Order No.5 sei „empörend“ und sie könne der tibetischen Kultur irreparablen Schaden zufügen. Aber dann zeigte er, warum er sich Zeit gelassen hat, um den Angriff zu parieren. Er habe, sagte der Dalai Lama, unter Gelehrten und der Tibetergemeinde eine Debatte begonnen, ob Reinkarnation als Prinzip der Weitergabe der höchsten religiösen Autorität beibehalten werden soll. Sie werde zwar sei 600 Jahren praktiziert, aber es gebe in Tibet auch die Tradition der ‚Emanation‘, die bei hohen Lamas für die Übertragung der spirituellen Autorität angewandt werde.
Der Unterschied liegt im Wesentlichen darin, sagt meine Gewährsperson, dass sich eine Emanation bereits zur Lebzeiten des Trägers auf andere Personen und gleich auf mehrere, übertragen kann. In den nächsten 14 Jahren – bis zu seinem Neunzigsten – wird Tenzin Gyatso nun diese Diskussion führen, bevor er dann 2025 einen Entscheid treffen will. Aber bereits heute lässt er durchblicken, dass das Emanationsprinzip vielleicht flexibler und zeitgemässer sei als das Interregnum, das bei der Reinkarnation zwischen dem Ableben des Trägers und der Identifikation des Kinds und dessen Erwachsenwerden liege.
Nun war es China, das, in die Ecke gedrängt, plötzlich zur Verfechterin der tibetischen Tradition wurde. Der Sprecher des Aussenministeriums betonte, Rituale und historische Konventionen bewiesen, dass der Dalai Lama nur durch eine Reinkarnation bestimmt werde. Und überhaupt: „Der Titel eines ‚Dalai Lama wird durch die Zentralregierung verliehen, und alles Andere ist illegal“.
Ein Harvard-Absolvent - "Nachfolger" des Dalai Lama
Die barsche Abfuhr, ebenso wie die Allgegenwart chinesischer Polizisten (und Feuerwehrleute) in den Strassen von Lhasa und Ngaba, ist nicht nur auf diesen theologischen Disput zurückzuführen. Denn schon sechs Monate vor der ‚Emanationserklärung‘ hatte der Dalai Lama einen vielleicht noch wichtigeren Schachzug geführt. Er schaffte eine weitere ehrwürdige Tradition ab, die des ‚Gaden Phodrang‘: Von nun an sei der Dalai Lama nicht mehr ein Theokrat, ausgestattet mit religiöser und materieller Autorität über alle Tibeter. Er gebe das weltliche Amt zugunsten einer Zivilperson ab, die zudem von der tibetischen Bevölkerung ernannt werde – leider nur jener im Exil, da die Tibeter in China nicht befragt werden könnten.
Im April wurde folglich der Harvard-Absolvent Lobsang Sangay in einem Referendum zum neuen Premierminister gewählt. Er ernannte ein sechsköpfiges Kabinett, in dem – ebenfalls eine Premiere – zwei Frauen Einsitz nehmen. Mit diesem Prozess hat der Dalai Lama nicht nur seine spirituelle Autorität gefestigt. Er hat zugleich einen demokratischen Prozess angestossen, der im chinesisch-besetzten Tibet auf grosse Resonanz stossen könnte, weil er Chinas ‚Volksdemokratie‘ als rhetorisches Feigenblatt blossstellt.
Wie ein verwundeter Drache schlägt Beijing um sich
Es ist keine angenehme Erfahrung, ohne Feigenblatt dazustehen, besonders, wenn man sich als Supermacht geriert. Wie ein verwundeter Drache schlägt Beijing nun um sich, in Tibet und den tibetischen Klöstern, aber auch auf dem internationalen Parkett, wo jedem Land ein Wirtschaftsboykott droht, sollte sich ein Minister erkühnen, sich mit dem Mönch ablichten zu lassen. Letzte Woche fand in Delhi ein viertägiger ‚Buddhistischer Weltkongress‘ statt, in dem die Weichen gestellt wurden, um die drei grossen Strömungen des heutigen Buddhismus – Theravada, Vajrayana und Bodhisattvayana – zu vereinen. Der Dalai Lama trat erst am Ende der Tagung auf, dennoch hatte China Alles getan, um sie zu verhindern.
Die indische Regierung wurde ultimativ aufgefordert, den Anlass abzusagen, und die bereits ausgestellten Ausreisebewilligungen der Teilnehmer aus China wurden gelöscht. Delhi liess sich nicht einschüchtern, die Konferenz fand statt, wenn auch ohne indische Regierungsvertreter, der Dalai Lama trat auf. Von dort begab er sich zu einer Gedenkfeier für Mutter Teresa nach Kalkutta. Wiederum forderte Beijing Indien auf, den Gouverneur des Gliedstaats nicht gemeinsam mit dem ‚Splittisten‘ aus Lhasa auf die Bühne zu lassen. Dieser liess sich nicht beeindrucken. Gouverneur Narayanan, so schrieb die ‚Times of India‘, „glänzte durch Anwesenheit“.