Santiago de Chile, 4. September 2022: Das Nein-Lager feiert das Ergebnis des Verfassungsreferendums. Der Vorschlag einer neuen Verfassung wurde mit 62,2 Prozent abgelehnt. «Heute gibt es keine Gewinner oder Verlierer. Es gibt Chilenen, die sich wieder treffen müssen», sagte der Leiter der Kampagne «Ablehnung», Claudio Salinas. Die Option der Annahme der neuen Verfassung, die eine Reihe neuer sozialer Rechte vorsah, wurde nur von 37,8 Prozent der Wähler unterstützt. (Keystone/EPA, Elvis Gonzalez)
Die Chilenen haben am Sonntag eine neue linke Verfassung, die das Land in eine egalitärere Gesellschaft umwandeln sollte, mit grosser Mehrheit abgelehnt. In einem Referendum waren die chilenischen Wähler aufgefordert, einen Vorschlag anzunehmen oder abzulehnen, der die Verfassung des Landes aus der Zeit der Diktatur von 1980 ersetzen sollte.
Mehr als 13 der insgesamt rund 15 Millionen Wahlberechtigten in Chile nahmen nach vorläufigen Daten der Wahlbehörde an der Volksabstimmung teil. Es galt eine Wahlpflicht. Jüngste Umfragen hatten darauf hingedeutet, dass der fortschrittliche Entwurf abgelehnt werden könnte. Die Deutlichkeit überraschte dann doch.
Die neue Charta sah einen dramatischen Linksruck vor, indem sie die Rolle der Regierung ausweitete und ein Wirtschaftsmodell forderte, das soziale Ungleichheiten verringert. Für viele Chilenen waren die vorgeschlagenen Änderungen jedoch zu drastisch.
Das Ergebnis der Abstimmung beendet ein ehrgeiziges demokratisches Experiment, das als Versuch begann, ein Land in der Krise zu vereinen. Im Jahr 2019 waren auf Chiles Strassen Proteste ausgebrochen, getragen von Menschen aus der Arbeiter- und Mittelschicht, die mit hohen Preisen und niedrigen Löhnen kämpfen.
Als Antwort auf die Unruhen verpflichtete sich die Regierung, eine neue Verfassung ausarbeiten zu lassen. Im folgenden Jahr stimmten die Chilenen mit überwältigender Mehrheit für dieses Projekt.
Doch anstatt die Nation zu vereinen, spaltete der Prozess der Verfassungsgebung sie erneut. Die Niederlage versetzt dem jungen linken Präsidenten des Landes, Gabriel Boric einen schmerzhaften Schlag. Boric hatte den Wählern im vergangenen Jahr versprochen, dass «wenn Chile die Wiege des Neoliberalismus war, es auch sein Grab sein wird». Doch das Scheitern des Verfassungsentwurfs wird es dem Präsidenten erschweren, seine kühne Agenda umzusetzen.
Am Sonntagabend erklärte Boric, dass er die Ergebnisse «mit Demut» akzeptiere. Er rief die Gesetzgeber und führenden Politiker des Landes auf, einen Dialog mit einer breiteren Gruppe von Stimmen aufzunehmen, um auf eine neue Charta hinzuarbeiten, «die uns als Land vereint». Er forderte die Befürworter des Verfassungsprozesses auf, selbstkritisch zu sein: «Wir müssen auf die Stimme des Volkes hören.»