Der Vorsprung ist deutlich, aber bei weitem nicht so gross wie vor sechs Jahren. Hugo Chávez erhielt bei der Präsidentschaftswahl am Sonntag 55 Prozent der Stimmen und lag damit zehn Prozentpunkte vor seinem konservativen Herausforderer Henrique Capriles. 2006 hatte der Abstand zum Oppositionskandidaten Manuel Rosales noch 25 Punkte betragen.
Ein Anflug von Selbstkritik
Der Wähleranteil von 45 Prozent für die Chávez-Gegner schafft eine neue politische Realität in Venezuela. Der wieder gewählte Staatschef, der seit 14 Jahren die Geschicke des Landes lenkt, hat zwar nach seinem Wahlsieg unmissverständlich zu verstehen gegeben, dass er an seinem Sozialismus des 21. Jahrhunderts festhalten und weiterhin einen Grossteil der Einkommen aus der Erdölförderung in soziale Projekte investieren und damit die Armut im Land verringern will. Zugleich schlug er jedoch in der Stunde des Triumphs sowohl selbstkritische als auch ungewohnt versöhnliche Töne an. Er versprach, in seiner vierten Amtsperiode ein besserer Präsident zu sein als bisher und fand für einmal sogar lobende Worte für die Opposition. „Der Kandidat der Rechten hat unseren Sieg anerkannt“, sagte Chávez, „und so einen wichtigen Schritt auf dem Weg zu einem friedlichen Venezuela getan.“
Dialog statt Konfrontation?
Damit der politische Alltag in Venezuela künftig tatsächlich von weniger Konfrontation geprägt ist, bedarf es allerdings mehr als eines Aufrufs des Präsidenten zur nationalen Einheit. Der ehemalige Fallschirmoberst und selbsternannte Revolutionsführer hat bisher alle, die mit seinem Sozialismus des 21. Jahrhunderts nicht einverstanden waren, als „Handlanger der USA“, „Konterrevolutionäre“, „Putschisten“ oder „Aristokraten und Feudalherren“ abgestempelt und immer wieder klar zu erkennen gegeben, dass er seinen politischen Gegnern keinerlei Zugeständnisse machen will.
Jetzt haben sich die Kräfteverhältnisse deutlich verschoben. Chávez verfügt zwar weiterhin über eine enorme Machtfülle. Nach dem Vormarsch der Opposition kann aber auch er nicht mehr darüber hinwegsehen, dass immer mehr seiner Landsleute sein Projekt ablehnen oder es zumindest nicht für das alleinseligmachende halten. Der Präsident wird deshalb nicht darum herum kommen, vermehrt den Dialog zu suchen, wenn er die gefährliche politische Polarisierung der venezolanischen Gesellschaft nicht weiter vorantreiben will. Aber auch die Opposition täte gut daran, Chávez etwas differenzierter zu beurteilen, ihn als demokratisch legitimiertes Staatsoberhaupt zu respektieren und ihn nicht ständig als „kommunistischen Diktator“ zu verteufeln, den es mit allen Mitteln zu bekämpfen gilt.
Keine personelle Alternative
Auf Chávez, der seit Mai 2011 zwei bösartige Tumore entfernen lassen musste, warten in den nächsten Monaten und Jahren grosse Herausforderungen – persönliche und politische. Im Wahlkampf hat er immer wieder versichert, er sei vollständig geheilt von seiner Krebserkrankung und in bester Verfassung, um seine Amtsgeschäfte mit dem alten Elan zu erledigen. Aber was ist, wenn sich sein Gesundheitszustand wieder verschlechtert? Der 58-jährige Staatschef hat nie Zweifel aufkommen lassen, dass er nur sich selbst für geeignet hält, das Projekt der Bolivarischen Revolution zu verwirklichen und damit die Probleme der Venezolaner und Venezolanerinnen zu lösen. Diese absolute Ichbezogenheit des charismatischen Linkspopulisten brachte es mit sich, dass sich innerhalb der Bolivarischen Bewegung keine Führungspersönlichkeiten profilieren konnten, die fähig wären, seinen Platz einzunehmen, falls seine Krebserkrankung fortschreiten sollte.
Mehr Sicherheit – weniger Korruption
Chávez musste am Sonntag an der Urne vor allem deshalb einen Rückschlag hinnehmen, weil unter ihm entgegen seinen Zusicherungen viele Probleme ungelöst blieben oder sich sogar verschärft haben. Die Wirtschaft schwächelt und ist weiterhin extrem von der Ölproduktion abhängig. Obwohl sich die Regierung ausdrücklich die Nahrungsmittelsicherheit als Ziel gesetzt hat, ist das Land in diesem Sektor zu einem Importeur geworden. Die hohe Inflationsrate von gegen 30 Prozent untergräbt die positiven Effekte des Wirtschaftswachstums, der Armutsbekämpfung und des Anstiegs der Kaufkraft. Viel zu wenig hat die Regierung in den vergangenen Jahren im Kampf gegen Kriminalität und Korruption getan. Venezuela weist nach Honduras die höchste Mordrate in der Region auf.
Es mangelt an einer umfassenden Sicherheitsstrategie, unzählige Verbrechen bleiben unaufgeklärt. Das Versagen der Justiz und der Strafverfolgungsbehörden ist einerseits auf fehlende Kompetenzen und andererseits auf die grassierende Korruption zurückzuführen. Zu viele Richter und hohe Beamte verdanken ihren Posten hauptsächlich ihrer Loyalität zur Bolivarischen Revolution und nicht ihren fachlichen Qualifikationen.
Allen diesen substanziellen Herausforderungen muss sich Chávez weit entschlossener als bisher stellen, wenn er sein Versprechen halten und in seiner vierten Amtsperiode tatsächlich besser regieren will.