Die ersten Reaktionen auf die Erbschaftssteuer-Initiative der Jusos bieten Gelegenheit, nach dem Geist der guten alten Sozialpartnerschaft zu fragen. Können wir noch eine gemeinsinnig argumentative Debatte erwarten? Oder sind die Mächtigsten im Lande etwa noch individualistischer und solistischer geworden, als wir alle es sind? Und sind wir, die Abhängigen, unrettbare Träumer, wenn wir von der Wirtschafts-Elite nach wie vor etwas mehr erhoffen als pure Interessen-Durchsetzung?
Wie sehen wir Zweibeiner uns fundamental? Ob religiös, nach dem Bilde Gottes geschaffen, oder aufgeklärt kantianisch, zur reinen Vernunft gerufen: In der einen wie der anderen Auffassung erscheinen wir uns als «würdige Geschöpfe». Und diese Würdigkeit soll, verfassungsrechtlich garantiert, unantastbar sein. Der Staat respektiert sie als höchste Norm.
Ziemlich démodé?
Und wir selber? Sind wir frei, unsere Würde «anzutasten» ganz nach Belieben? Als frei erweisen wir uns «natürlich» in der semantischen Modellierung des Würdebegriffs.
Im Versuch, den Ehrbegriff abzuschaffen, sind wir schon recht weit vorangekommen. Dass Ehre und Würde deckungsgleich seien, will damit nicht behauptet sein. Doch haben sie sich etwas zu sagen, haben sie ihre Berührungspunkte, und beide haben sie den Hautgout des «Altehrwürdigen», etwas gestrig, etwas abgestanden. Ganz so, wie ein Streben nach aufrechter Haltung in einem moralisch nicht allzu verfleckten Gewand für die Heutigen sich ausnimmt – ziemlich démodé.
Lamentieren wir nicht!
Vielleicht können wir uns auf eine allgemeine Beobachtbarkeit einigen: Würde will gewahrt, will inständig erarbeitet sein. Mag sie angeboren sein, so ist sie nicht unverlierbar. Wir können uns – sobald wir uns selbst aus dem Blick verlieren – auch unwürdig verhalten, gar würdelos, und kein Grundgesetz bringt uns in die würdig vorausgesetzte Form. Das gilt für die Angehörigen aller Gesellschaftsschichten und gilt für alle Lebenslagen.
Elite – oder nur Geld?
Die oberste Schicht der Vermögenden, ob als Milliardäre bestaunt oder als (Quasi-)Oligarchen beargwöhnt, sollte sich nicht wundern und schon gar nicht darüber beklagen, dass ein besonderes Augenmerk auf ihr Benehmen fällt. Nicht wenige der hiesigen «Mandarine» suchen ja die Beachtung.
Erfolgreich zu werden, setzt vielerlei voraus; erfolgreich zu sein und identisch zu bleiben, scheint dagegen schon einer Kunstform gleichzukommen. Wenn wir uns mit der Existenz einer uneinholbar abgehobenen Elite abfinden oder anfreunden wollen, müssen wir ihr auch eine ausserökonomische Überlegenheit wünschen dürfen: Noblesse.
Wer einer vorbildlichen, wahren, sozial eleganten Elite zugehören möchte, wird eine erste Voraussetzung erfüllen müssen: Er darf nicht dem Dünkel verfallen, darf sich nicht allzu viel auf sein Voraus-Sein einbilden, gibt sich Rechenschaft über die Gunst von Konstellationen und Zufällen, über die Mitwirkung von Klugen, Weitsichtigen und Loyalen. Die Risikobereitschaft, den Wagemut darf der Unternehmer sich gutschreiben – sie sind initial und «matchentscheidend», aber sie sind nicht alles. Ein schöner Teil der Reichsten verdankt den Spitzenrang einer kühnen Spekulation, einer tollkühnen mitunter. Schöpferisch muss sie zunächst noch gar nicht sein.
Die Relationen
Die freiheitlich organisierte Wettbewerbs-Wirtschaft erlaubt dergleichen nicht bloss; sie verlangt danach. Und das kann nur beanstanden, wer sich planwirtschaftliche Verhältnisse erträumt. Vergegenwärtigen sich die tüchtigen Wirtschaftsleute den komplexen Leistungszusammenhang, der über alles persönliche Geschick hinausweist, so nähern sie sich dem Idealbild, das wir den moralphilosophisch formierten Urvätern des Liberalismus verdanken – ein Bild, das wir (hoffentlich!) in uns forttragen und dem wir eine lebenswirkliche Plastizität wünschen.
Es gibt eine infantile Bewunderung der Additivsten und Nimmersatten: 200 Milliarden erwirtschaftet, wie fabulös! Die bunten Blätter der Coiffeursalon-Literatur füttern diese Faszination. Die kultische Überhöhung solch «Märchenhafter» ist so einfältig wie das im Licht der märchenhaften Ziffern aufflackernde Enteignungs-Verlangen.
Illusionslos und gelassen sollten wir damit leben können, dass einige der Reichsten nicht zu den Wägsten zählen, also dem Ideal der verhältnissinnigen Persönlichkeit nicht gewachsen sind und protzig ihre Jachten zur Schau stellen, wo vor 100 Jahren die Fischerboote unter sich waren. Wir können’s nicht hindern. Dagegen können wir die Magnaten mit einem hohen Anspruch ehren: dass sie um ihre Bedingteiten wissen und sich ins grosse Ganze stellen – sosehr sie es gewohnt sein mögen, sich von den Plackereien und Schikanen der «einfachen Leute» freizukaufen. Dem Liberalen, der diesen Ehrentitel verdient, ist gegenwärtig, dass seine Freiheiten nicht unabhängig von der allgemeinen Freiheit entfaltbar sind. Die Spielräume haben ihre Grenzen. Die massgeblichen Denker des Liberalismus haben exakt dies vorgedacht.
Anders gesprochen: Jene, die sich «alles leisten können», täten wohl damit, sich auch etwas Bescheidenheit zu leisten, und sei sie allenfalls nur ein Ausdruck spielerisch vorgetäuschter Demut – wie authentisch auch immer: Sie hätte ihre Ästhetik und Sozialverträglichkeit.
Spezialität Neidvermeidung?
Ansätze zu einer religionssoziologischen Empirie, vom grossen Max Weber entworfen, verhiessen uns solche (calvinistisch inspirierte) Eigenschaften. Und wir hatten sie lange Zeit auch vor Augen, nicht bloss in Genf, auch in der Deutschschweiz, vor allem in Basel. «Man zeigt nicht, was man hat!» Die Exhibition von Konsumpotenz war verpönt, galt als vulgär. Zeitweilig liess sich sogar vermuten, die Neidvermeidung könnte eine schweizerische Tugend sein.
In den sechziger Jahren waren mir drei Unternehmer bekannt und lieb, die diese Tugend makellos verkörperten und die sich auf indiskretes Befragen glücklich priesen, die grössten Steuerzahler ihrer Gemeinden zu sein. Nicht der Anhauch einer Versuchung zur «Steuerhöllen»-Dramatisierung unserer Tage!
Ihresgleichen mag es auch heute noch geben – man müsste freilich etwelche Geduld aufbringen, sie zu suchen. Auffällig, ob auf der Strasse oder im Feinschmeckerlokal, sind die konträren Elemente, die sich – Selbstgenuss! – und uns zu beeindrucken suchen. Womöglich handelt es sich bei den Gespreizten gelegentlich um unbeschwerte Erben im betörenden Ferrari-Sound oder um zeigefreudige «Manager», die Gehilfen der obersten Etage, welche unter den Auspizien der Besitzer augenscheinlich keinen Mangel leiden, jedenfalls keinen pekuniären. So dass diese sich mit ihren Gebietern gern über die Massen identifizieren, sich schneller und heftiger erhitzen, wenn aus einer linken Ecke das Fremdwort Egalité hörbar wird. Man kann halt niemanden davon abhalten, sich selbst zu parodieren.
Triumph des Konsums
Lassen wir uns drum von Reizbarkeiten, den ihrigen und den unsrigen, nicht von der grossen Linie abbringen! Nach den Weltkriegen griff Zug um Zug ein Wirtschaftsverständnis weiten Raum, das in seinem Kern die unbedingte Herrschaft des Marktes vorsah – und in dessen Gefolge ein ebenso unbedingtes, geradezu pflichtgemässes Konsumverhalten. Der Berliner Ökonom und Politikwissenschafter Philipp Lepenies folgt aus dieser Beobachtung den Spuren theoretischer Grundlegung, von Mises’ «Verbraucherdemokratie» zu Friedmans «Kapitalismus und Freiheit».
Das Zeitalter des weltweiten Individualkonsumenten entwickelte sich im Gleichschritt mit der Globalisierung. Die Persönlichkeitsentwicklung definierte sich zunehmend über den Konsum. Unsere Zeit sei, schreibt Lepenies (FAZ, 18.7.24), «die einer Ich-Zentrierung, des Glaubens daran, Konsumentscheidungen ohne jede Form der Rechtfertigung und Einschränkung immer und überall treffen zu dürfen. Es ist auch die Zeit der maximalen Empörung, sobald sich Eingriffe in diese Konsumentscheide abzeichnen.»
Dass die «Segnungen» des Finanzkapitalismus dem Typus des raffinierten Raffkes zu beachtlicher Verbreitung verhalf, versteht sich am Rande. Andererseits kann uns der Seitenblick auf die Karikaturen des Marktgeschehens nicht über die Massenbeglückungen der Nachkriegszeit hinwegsehen lassen. In meinen Kinderjahren war zunächst noch kaum etwas von alledem verfügbar, was uns ganz und gar selbstverständlich und unverzichtbar geworden ist: Staubsauger, Kühlschrank, Waschmaschine, Fernseher, Automobil. Mit Letzterem ging’s dann in flotter Fahrt hinein in die reiselustige Wohlfahrtsgesellschaft!
Und wenige Jahrzehnte später hinein in die Sackgasse der Ökokrise (wobei das Auto hier lediglich als Symbol des Expansiven unterwegs ist). Dass wir uns in der Sackgasse noch immer hypermobil und verdrängungsathletisch bewegen, notieren wir durchaus selbstanklägerisch … und gleichwohl auf die Elite projizierend, denn ihr gilt in dieser Betrachtung ihres Einflusses wegen unser Hauptinteresse. Und eine besonders hohe Erwartung!
Die Ausmessung des sogenannten Fussabdrucks überlassen wir den ökotechnischen Fachleuten. Uns geht es hier um eine (nicht scharf berechenbare) Dimension der Verantwortlichkeit, sagen wir: um eine selbstbewusste Bürgerlichkeit als handlungslenkende Lebensauffassung. Wo stünden wir nur, wenn wir von unserem Führungspersonal keine Vorbildlichkeit mehr erhoffen dürften, nichts mehr von jenem Bürgersinn, den ich, wie geschildert, einst konkret bewundern konnte? Auf welcher Stufe auch immer: Personen, die Autorität beanspruchen, sollten nicht einzig auf ein Spezialwissen, sondern mindestens so sehr auf universelle Eigenschaften und auf eine in diesen Eigenschaften gründende Selbstachtung stolz sein können, auf Persönlichkeit, auf Charakterfestigkeit. Alte Geschichten, längst obsolet?
Wackliges Systemvertrauen
Eine Zeitung von traditioneller Erstrangigkeit durfte es wagen, die Initiative für eine 13. Tranche der AHV zu einer «Charakterfrage» für unser Volk zu stilisieren. Und kaum verdaut, stellt sich mit der Juso-Initiative schon wieder eine solche. Vorweg kommen wir nicht um die Beobachtung herum, wie die Anvisierten, die erbschaftsrechtlich eventuell Betroffenen auf die Charakterfrage reagieren.
Und was war von ihnen zu hören? Die Prominentesten oder einfach nur Bekanntesten der möglicherweise Geschädigten liessen verlauten, dass sie negativenfalls das Land verlassen «müssten». Solche «Nachrichten» bestätigen ein schon ziemlich sesshaftes Vermutungswissen über die Fluchtneigung des Kapitals, über den Charakter der «Swissness» dieses spekulativen «Patriotismus». Und wir lernen zugleich, dass wir – das heisst: die reisewilligen Herrschaften – aus der AHV-Lektion politisch-taktisch nichts gelernt haben. Wir hätten aus ihr lernen müssen, dass drohliche Kampagnen trotzige Reflexe provozieren können: «Jetzt erst recht!»
Von Schlupfloch zu Schlupfloch
Dass Unternehmer durch Erbschafts- und Schenkungs-Abgaben im Umfang jungsozialistischer Phantasien ihre Operationsfreiheit bedroht sehen, ist jedem noch so «Missgünstigen» plausibel, zumindest ohne erpresserische Anwandlungen vermittelbar.
Massvoll im Geiste des hier postulierten Bürgersinns, massvoll und politisch tunlich wäre jedenfalls eine Unterdrückung des ersten Reflexes, der radikalen Abwendung. Und zu bedenken bliebe ausserdem die Erfahrung, dass der konsequente Steuerverminderer nur schwer aus seiner Fliehbewegung herauskommt. Das eilige Kofferpacken hat seine eigenen Tücken. Das «Fortkommen» im Kostengefälle kennt kein absehbares Ende. Von Schlupfloch zu Schlupfloch! Eine Mentalitäts- und Charakterfrage. Oder ganz unideologisch mit dem polnischen Satiriker Lec: «Nun bist du mit dem Kopf durch die Wand! Und was willst du in der Nachbarzelle tun?»
Von neuem drohen? Vorstellbar müsste wohl noch sein, dass die aufgeschreckten (Familien-)Unternehmer auf eine sachliche, demokratiegewollte Erörterung setzen, dass sie sich im Vertrauen auf ihre Argumente und auf unsere Berner Institutionen versammeln zu einer Vor-Vorberatung – nicht lobbyierend, wandelhallentuschelnd, sondern öffentlich und exempelhaft vorrechnend, mühselige Überzeugungsarbeit leistend und bereit, am Ende in ein geringeres Übel einzuwilligen.
Die jungen Agitatoren
Wir wissen alle: Der überschiessenden Reaktion geht stets eine aufreizende Aktion voraus. Den Jungparteien geht’s immer zu langsam und zu halbherzig. Als politisierter Jüngling leitete auch ich in meinem Heimatkanton mal ein solches Trüpplein, ein jungfreisinniges. Wir provozierten die «bornierten Alten» mit verbohrter Grundsätzlichkeit. Und wussten noch schnell einmal, wenn auch uneingestanden, dass wir die Einzigen waren, die unsere Debatten ernstnahmen.
Der Jungtürken-Betrieb läuft seit einigem etwas weniger folgenlos ins Leere. Ob von den Stamm-Parteien vorgelassen oder vorgeschoben: Die Jungen treiben neuerdings Realpolitik, indem sie Volksinitiativen lancieren. Sie haben auch, müssen wir einräumen, mehr Grund für ihre Ungeduld. Noch sind ihre Lebenschancen intakt, doch ihre Lebensaussichten trüben sich ein. Die Zeit wird knapp, die Hoffnung schwierig.
Dass ihr ungestümer Gerechtigkeitssinn die neoliberal verzerrte Vermögensverteilung anstössig findet, sollte – bei aller Empörungslust – unsere Nerven nicht schon überfordern. Zwar wird auch ein Juso-Heisssporn die Wohltaten eines George Soros oder Bill Gates estimieren können, wie er hinwiederum zu problematisieren weiss, dass Private und ihre Stiftungen mehr und mehr steuern, was in der demokratischen Öffentlichkeit auszuhandeln wäre. Mäzenatische Kunstförderung, wohlan! Lehrstuhlfinanzierungen und dergleichen müssten dagegen strittig sein dürfen. Der «way of life» unserer amerikanischen Freunde muss den unsrigen nicht noch weiter vor- bzw. nachspuren. Wir «Eigenständigen» imitieren schon viel zu viel. Darüber sollten wir cool reden können, in der Grundsätzlichkeit, wie die Jungen sie reklamieren. Und wie wir Alten sie in der «sündigen Doppelehe von Ideal und Wirklichkeit» (Polgar) so gern vernachlässigen.
Lassen wir der Wirklichkeit die «Superreichen»! Und bewahren wir uns das Idealbild der würdigen Erscheinung!