Ein Leben lang litt Raymond Chandler, der Amerikaner englischer Bildung - er besuchte das Dullwich College bei London - darunter, nicht als Literat und Romancier wahrgenommen zu werden, was er in jeder Hinsicht verdient hätte. Noch heute wird leider zwischen Kriminalroman und Roman getrennt und gewertet, neuerdings auch wieder, weil wir von schlechten Kriminalromanen überschwemmt werden.
Chandler hat gute Romane geschrieben, tout court, und die Handlung hat ihn selbst wenig interessiert. Chandlers Grösse als Autor ermisst man an der für Kriminalromane ungewöhnlichen Tiefe der Charaktere, an seiner Fähigkeit, mit wenigen Worten Atmosphären zu schaffen und an den Details, nicht an der Raffinesse der Handlung oder an der verblüffenden Auflösung am Schluss. Als man ihm den Poe-Preis verlieh, äusserte er sich ironisch, denn Edgar Allen Poe stand am Anfang der ausgeklügelten Geschichten mit einem analytischen Detektiv, der dem Leser am Schluss die überraschende Lösung liefert wie in der Geschichte vom Mord in der Rue Morgue, in der sich ein Affe als Täter erweist.
Vom Menschen zum Insekt
Mir erscheint Kapitel 31 von “Lebwohl, mein Liebling” in dieser Hinsicht eine kompositorische Meisterleistung. In dem Kapitel unterhalten sich Marlowe und der Polizist Randall über die immer komplizierteren Verwicklungen von zwei Fällen: demjenigen einer Schmuck- und Juwelenbande und demjenigen des soeben aus dem Gefängnis entlassenen Sträflings Moose Malloy, der auf der Suche nach seiner früheren Braut Velma mordend durch Kalifornien zieht.
Wer konnte Dialoge besser schreiben als Chandler? Zwei Protagonisten und etwas Stimmung in diesem kurzen Kapitel, das auch der Leserführung dient - die beiden Fälle werden rekapituliert -, hätten genügt, doch Chandler entschliesst sich, einen dritten Protagonisten einzuführen und gleich mit ihm das Kapitel zu eröffnen: einen Käfer. Das ist nun eine ganz andere Art der Leserverblüffung, ein Trick der Sorte, die Chandler meisterhaft beherrschte, denn hier wird nicht nur der Schauplatz gewechselt, sondern auch die Perspektive: von menschengross zu insektenwinzig.
Der Käfer als alte Frau
“Ein schimmernder schwarzer Käfer mit einem rosa Kopf und rosa Punkten kroch langsam über die polierte Platte von Randalls Schreibtisch und schwenkte seine zwei Fühler, als testete er die Luftströmung zum Losfliegen. Er war ein bisschen unsicher auf den Beinen, wie eine alte Frau, die zu viele Pakete trägt.”
Marlowe, der ja immer Erzähler ist, nimmt hier die Perspektive des Käfers ein. Während wir oft Metaphern und Vergleiche aus dem Tierreich für Menschen verwenden - schlau wie ein Fuchs -, dreht Chandler die Optik auf originelle Weise um und vergleicht das Insekt mit dem Menschen: Der Käfer ist eine alte, Pakete tragende Frau. Dasselbe Umkehrverfahren wendet er oft auf Naturerscheinungen an, einmal zum Beispiel schleicht die Brandung heran wie ein alter Postbote.
Wie zieht Chandler jetzt den Käfer, ohne dass es dem Leser leid wird, weiter durch die Szene? Er erfindet dafür eine komplette Geschichte, die sich schliesslich an die Hauptfiguren und ihren Dialog hängt. Er lässt den Käfer das ganze Kapitel hindurch nicht fallen, bis auch dessen Geschichte zu Ende gebracht ist.
Von Niederlage zu Niederlage
Marlowe hört Randall zu und verfolgt das Schicksal seines kleines Freundes weiter. Der arme Kerl - spiegelt sich in ihm nicht Marlowes eigene Lage, die des unbeholfenen Detektivs, der bei seinen Bemühungen nicht weiterkommt, von Niederlage zu Niederlage taumelt, bis es doch ein gutes Ende nimmt? - “erreichte die Zimmerecke und suchte mit den Fühlern nach einem guten Platz zum Starten”, doch daraus wird nichts, er geht an der Fussleiste entlang auf die nächste Zimmerecke zu. Viereinhalb Seiten hört man nichts mehr von ihm und hat ihn bereits abgeschrieben und vergessen.
Vielen Autoren würde das Bisschen Stimmung und Anspielung auf den Helden, der ebenfalls nicht “abheben” kann, genügen. Chandler rückt den Käfer am Schluss wieder ins Zentrum. Es zeigt sich, dass Marlowe während des ganzen Dialogs mit Randall auf das Tierchen geachtet hat, als wolle es ihm etwas mitteilen. Und das tut es auch.
Randall hat soeben die Theorie ausgebreitet, eine verarmte Alte sei der Glücksbringer eines ermoderten Erpressers gewesen, da wendet Marlowe seinen Kopf nach dem Käfer, der mutlos auf die dritte Ecke zukrabbelt, ohne abzuheben. Er geht hin und setzt ihn wieder auf den Schreibtisch.
Die Landung des Käfers
“Sehn Sie, sagte ich, dieses Zimmer ist achtzehn Stockwerke über dem Erdboden, und dieser kleine Käfer ist den ganzen Weg hier hochgekrabbelt, bloss um einen Freund zu finden. Mich. Mein Glücksbringer. Behutsam faltete ich den Käfer in mein Taschentuch und steckte es dann vorsichtig in die Tasche.”
Und schliesslich, damit wir den Rest nicht an den Käfer in Marlowes Tasche denken müssen, den ein weniger genauer Autor vielleicht dort vergessen hätte, setzt Marlowe den Käfer unten vor dem Gebäude hinter einem Busch wieder ab.
Nebenbei drückt diese Geste so viel über den eher sentimentalen, als hartgesottenen Detektiv aus, viel mehr als es die pathetische Umarmung einer Frau in Not täte. Es zeigt aber auch einen Rationalisten - das ist Marlowe dann doch -, der vor dem Irrationalen, das beständig in seine Welt einbricht, grossen Respekt hat. Der Käfer ist ein Glücksbringer, und selbst abscheuliche Erpresser halten sich einen solchen, indem sie etwa armen Witwen monatlich einen Scheck zustellen lassen. Wie leicht wirft man sein Glück aus Unachtsamkeit weg, Marlowe hingegen ist achtsam und ganz und gar nicht “hartboiled“.
Ich glaube, die Geschichte des namenlosen Käfers, ein kleiner Kriminalroman im Kriminalroman “Lebwohl, mein Liebling”, genügt vollkommen, um nicht nur diesen einen, sondern alle Marlowe-Romane von Chandler zu empfehlen. Nicht als Krimis, sondern als stilistisch brillante Werke der Weltliteratur.
Raymond Chandler. Lebwohl, mein Liebling. Diogenes Tachenbuch. 303 Seiten. Fr. 14.90