Es sollte ein Jubeljahr werden. Heuer beginnt das siebzigste Jahr, seit Indien und China diplomatische Beziehungen aufgenommen haben. Siebzig verschiedene Anlässe waren geplant. Der indische Premierminister sollte Beijing zum ersten Mal einen offiziellen Besuch abstatten. Und vielleicht würden Narendra Modi und Präsident Xi Jinping ein viertes informelles Schaukelstuhl-Treffen abhalten (so genannt, nachdem die ersten beiden Begegnungen in Wuhan und Ahmedabad die beiden Senioren auf schaukelnden Gartenbänken gezeigt hatten).
Ein erneutes Treffen in diesen Tagen wäre überaus nützlich. Doch diesmal würden die Sessel wohl eher durch das seismische Beben an der bilateralen Himalayagrenze ins Schaukeln geraten. Denn zum ersten Mal seit 1975 sind bei Handgreiflichkeiten zwischen Militärpatrouillen beider Länder Soldaten ums Leben gekommen – 21 Inder und eine ungenannte Zahl Chinesen.
Tradition der pragmatischen Unklarheiten
Dass es solche Ereignisse schon in weit zurückliegenden Zeiten gegeben hat, zeigt, dass der Grenzkonflikt fast so alt ist wie die offiziellen Beziehungen zwischen den beiden Bevölkerungsgiganten. Es war die Verbrüderungspolitik im Rahmen der Blockfreien-Bewegung gewesen, die Premierminister Nehru schon früh bewogen hatte, Tibet als Teil Chinas anzuerkennen, ohne dass die beiden Brüder es nötig fanden, die bilaterale Grenze festzuschreiben.
Damit übernahmen Delhi und Beijing eine Grenze, die der lamaistische Mönchsstaat in Lhasa nie genau demarkiert hatte. Es erlaubte den Lamas, auch Grenzbezirke Kolonial-Indiens als tibetisch zu bezeichnen, wenn dort landbesitzende Klöster Tribut nach Lhasa ablieferten.
Selbst der Versuch des Vizekönigs, mit Verhandlungen und Karten Klarheit zu schaffen, konnte die Konfusion nicht beheben. Die berühmte McMahon-Linie im östlichen Himalaya wurde von Lhasa nie anerkannt, nachdem der tibetische Unterhändler seine Unterschrift unter die vereinbarte Landkarte verweigert hatte. (Zudem war die Linie auf der Karte so dick eingetragen worden, dass sie auf dem Boden mehreren Kilometern Gelände entsprach.)
Bis heute ist der grösste Teil der 3488 Kilometer langen Grenze immer noch eine „Line of Control“ (LoC). Immerhin hatten sich beide Staaten inzwischen auf den Verlauf dieser „vorläufigen Grenze“ geeinigt. Mehrere institutionelle Verankerungen – eine bilaterale Grenzkommission, regelmässige Treffen der lokalen Militärkommandanten, Abkommen über „Peace and Tranquility“ – haben zudem verhindert, dass sich an dieser unsicheren Rechtslage blutige Konflikte entzündeten.
Diese Vorkehrungen blieben indes fragil, weil es neben der LoC noch eine LAC gibt – eine „Line of Actual Control“. Es handelt sich um Gebietsabschnitte, in denen jeder Staat seine Grenze hinter dem Rücken des andern erblickte. Und jeder sandte in dieser menschenleeren Hochgebirgswüste regelmässig Patrouillen aus, die diesen Anspruch bekräftigen sollten.
Chinesische Weltmacht-Attitüde
Es war unausweichlich, dass sich solche Patrouillen kreuzten. Da sie nicht schiessen durften, beschimpften sie sich, es flogen Steine, es kam zu Rempeleien. War es vielleicht dieser für eine Weltmacht unwürdige Anblick, der China letzten Frühling bewog, diesem Theater des Absurden ein Ende zu setzen? Wahrscheinlich ist es nicht, denn wie im Südchinesischen Meer griff die selbstbewusste Weltmacht zum Zweihänder.
Anfang Mai entdeckte die indische Armee – vielleicht abgelenkt durch Covid-19-Infektionen in ihren Reihen – dass Patrouillen der chinesischen „People’s Liberation Army“ (PLA) in mindestens sechs solchen LAC-Zonen in Ladakh Beobachtungsposten und Schiessscharten errichtet und Gräben ausgehoben hatten, bevor sie sich wieder zurückzogen.
Dies war eine offene Verletzung der Vereinbarung, in den umstrittenen Zonen nur zu patrouillieren und keine permanenten Strukturen zu errichten. Als die indische Armee verspätet begann, diese abzutragen, kam es zu offenen Handgreiflichkeiten.
Was Indien und westliche Geheimdienste aufgrund von Satellitenbildern aber auch bemerkt hatten, war, dass diese Scharmützel wohl nur das Vorspiel waren. Denn hinter der bisherigen Rückzugslinie hatte die PLA Einheiten in Bataillonsstärke und mit Artillerie in Frontstellungen gebracht.
Der Konflikt eskalierte in der Nacht vom 15. Juni im Galwan-Tal etwa hundert Kilometer nordöstlich von Leh, der Hauptstadt von Ladakh. Das Tal wird von der LoC durchschnitten, an die sich die beiden Länder bisher gehalten hatten. Doch nun waren PLA-Einheiten bis zur Mündung des Flusses in den Shyok-Fluss vorgerückt, weit über die LoC.
Auch im Galwan-Sektor hatten die lokalen Kommandanten nach den Raufereien vereinbart, dass sich die Streithähne zurückziehen würden. Bei Nachteinbruch am 15. Juni wollte sich ein indischer Oberst an der Spitze einer kleinen Eskorte offenbar versichern, ob die Chinesen Wort hielten. Stattdessen wurden die Inder von chinesischen Soldaten umringt und angegriffen.
Indische Medien zitierten einen amerikanischen Journalisten mit Kontakten zu US-Nachrichtendiensten, Paul Shinkman, gemäss dem eine Reihe von indischen Soldaten über einen Geländeabsturz in den Galwan-Fluss gestossen wurden. Dort seien sie ertrunken oder erfroren. Am anderen Tag teilte die indische Armee mit, zwanzig Soldaten sowie ihr Anführer, Oberst Babu, seien gefallen.
Gerangel um strategische Vorteile
Seitdem rätselt die indische Öffentlichkeit, was China wohl bewogen hat, die (relative) „Peace and Tranquility“ an seiner Himalayagrenze massiv zu verletzen. Ein Grund könnte sein, dass Indien auf seiner Seite des LoC in dieser Region eine Strasse gebaut hat. Sie verbindet Leh mit einem Beobachtungsposten mit dem seltsamen Namen „Daulat Beg Oldie“ im äussersten Norden nahe dem Karakorum-Pass (und damit dem Dreiländereck Pakistan-Indien-China). Die Besetzung des Mündungsgebiets des Galwan-Flusses durch China brächte die Strasse in die Reichweite seiner schweren Artillerie.
Indien würde einen erfolgreichen chinesischen Vorstoss als Teil einer Einschnürungsstrategie des Gegners interpretieren. Daulat Beg Oldie ist der nördliche Endpunkt der strategisch wichtigen Frontlinie im Gebiet des Siachen-Gletschers, wo sich die Erzfeinde Indien und Pakistan seit vierzig Jahren gegenüberstehen – mit über fünftausend m. ü. M. die höchstgelegene Kriegsfront der Welt, wo Soldaten nicht wegen Schusswunden, sondern wegen Frostbeulen sterben.
Pakistan und sein strategischer Alliierter China führen seit mehreren Jahren in dieser Region gemeinsame Manöver durch. Indien würde ein militärisches Eingreifen Chinas als inakzeptable Zangenbewegung interpretieren, die seine strategisch vorteilhafte Stellung im Siachen-Gebiet gefährden würde.
Abwendung von der Politik der De-Eskalation?
Allerdings hat sich Indien bisher nicht dazu hinreissen lassen, Chinas „Aggression“ verbal und diplomatisch eskalieren zu lassen. Im Gegenteil: Im Widerspruch zum eigenen Aussenministerium hat Premierminister Modi den Zwischenfall sogar heruntergeredet. Will er damit seine Politik der Annäherung zu China vor dem Bankrott retten – seine insgesamt sechzehn Treffen mit Präsident Xi sind ein Ausdruck dafür. Ein weiteres Indiz ist die Tatsache, dass bei seiner letztjährigen Amtseinführung keine Vertreter von Taiwan und der tibetischen Exilregierung eingeladen waren – im Gegensatz zu 2014.
Allerdings hat die Modi-Regierung gleichzeitig einen Balanceakt vollführt. Sie hat die amerikanische Anti-China-Politik wenn nicht aktiv unterstützt, so doch verständnisvoll begleitet. Sie liess sich zudem als eines der vier Mitglieder (mit den USA, Australien und Japan) in die Quad eingliedern, einen Zusammenschluss der wichtigsten asiatisch-pazifischen Staaten, den Beijing als offen anti-chinesisch einordnet.
Trotz der bisher zurückhaltenden Reaktion Delhis sind sich die indischen China-Experten einig, dass der schwere Zwischenfall in Galwan einen Wendepunkt in den bilateralen Beziehungen darstellt. Beijing mag denken, dass die wirtschaftliche Zusammenarbeit für Delhi zu wichtig ist, um einen Bruch – oder zumindest ein Herunterfahren – der Beziehungen zu riskieren.
Nimmt man die Stimmung in der indischen Öffentlichkeit, namentlich der Politiker, Medien und Think Tanks als Gradmesser, scheint aber genau dies unausweichlich. Die Intransigenz Chinas in seiner Territorialpolitik wird nun auch in Indien zunehmend als das gesehen, was sie in den Augen anderer asiatischer Staaten schon lange ist: Akte eines globalen Hegemons, der neben sich keine Rivalen duldet und dies durch eine unilaterale und aggressive Vorwärtsstrategie unterstreicht.
Indiens China-Politik wird oft als flexibel bis zur Selbstverneinung eingeschätzt. Dennoch gibt es wenig Zweifel, dass es in diesem Konflikt nicht klein beigeben wird. Chinas Insel-Strategie des Fait accompli wird sich in den rund sechzig Quadratkilometern Gebirgswüste im Himalaya so nicht wiederholen. Ob es mit dessen abgeschwächter Form – „Zwei Schritte vorwärts, einer zurück“ – Erfolg haben wird, werden die nächsten Wochen und Monate zeigen.