Viele Tessinerinnen und Tessiner haben in ihrem Kanton noch nie eine mit einer Burka total verhüllte Muslimin gesehen. Trotzdem ist eine kantonale Volksinitiative, welche ein Verhüllungsverbot des eigenen Gesichts in der Verfassung verankern will, mit annähernd zwei Dritteln der Stimmen angenommen worden. Eine Ja-Mehrheit erzielte ebenfalls der Gegenvorschlag von Regierung und Grossem Rat, welcher die Verhüllung des Gesichts im Gesetz verbietet. Die Stimmberechtigten gaben in der Zusatzfrage dem Verbot auf Verfassungsebene klar den Vorzug. Wie wird das eidgenössische Parlament diesen Fall behandeln? Es muss jede Änderung einer Kantonsverfassung beurteilen, d.h. billigen oder ablehnen; sein Entscheid wird aufschlussreich sein.
Der ehemalige Journalist Giorgio Ghiringhelli, der die Initiative lanciert hat, stellte schon wiederholt emotionsgeladene Themen mit Petitionen und Initiativen zur Diskussion. Er darf frohlocken, auch dank der Unterstützung durch die Lega dei ticinesi sowie der SVP, die zwar im Tessin keine Mehrheit bilden.
Lega hat über Jahre Emotionen geschürt
Wie kommt es, dass die Tessinerinnen und Tessiner, die - wie auch die Regierung feststellte -, kaum je eine Frau im Burka gesehen haben, die Volksinitiative so überwältigend angenommen haben? Es ist das Unbehagen gegenüber dem Islam und den Fundamentalisten, das seit Jahren, besonders von der Lega und ihrer Sonntagszeitung „Mattino della domencia“, systematisch geschürt wird. Über 20 Jahre Lega, die gegen alles Fremde wettert, gegen Europa, Italien, Bundesbern, Ausländer, Asylbewerber und den Islam, haben gemäss dem Sprichwort „steter Tropfen höhlt den Stein“ Wirkung gezeigt, wie es bereits in Tessiner Ergebnissen bei eidgenössischen Abstimmungen zum Ausdruck kam.
Angst vor dem gewalttätigen Islam ist nachvollziehbar, wenn man die vielen Meldungen über grauenhafte Attentate im Irak, in Pakistan, in Afghanistan, in Syrien und vielen andern Ländern in den Medien hört und liest. Allerdings steht die Eindämmung solcher Gräueltaten nicht im Einflussbereich der Schweiz und des Kantons Tessins. Es wird also der Sack geschlagen (die kaum vorhandenen Burkaträgerinnen), aber der Esel gemeint (die angebliche Islamisierung der Schweiz, die Ablehung des Islam und die gewalttätigen Islamisten).
Prominente Unterstützung für Burkaverbot
Unverständlich, ja besorgniserregend ist, dass sich prominente Tessinerinnen und Tessiner wie die ehemalige FDP-Staatsrätin Marina Masoni und der erfolgreiche Unternehmer Alfredo Siccardi im Abstimmungskampf wortreich fürs Burka-Verbot einsetzten. Diese tatkräftigen Personen, die jahrelang konkrete Probeme mit schwierigen Entscheiden lösen mussten, wie kommen sie dazu, sich angesichts eines Pseudo-Problems zu engagieren?
Es ist nicht zu leugnen, dass es auch im Tessin Mängel in der Integration von Muslimen gibt. Frau Masoni schrieb u.a., ihr gehe es um unsere Werte und die Rechte der Frau. Sofern es ihr ernst damit ist, könnte sie sich gegen Zwangsegen einsetzen und mithelfen, junge Musliminnen vor schwerem Leid bewahren. Zwar sind Ehen unter Minderjährigen und Zwangsehen in der Schweiz seit dem 1. Juli 2013 dank einem neuen Gesetzesartikel verboten; das ist ein Teilerfolg. Gleichwohl braucht es noch grosse Anstrengungen, um Familien aus entfernten Ländern (Zwangsehen gibt es nicht nur bei Muslimen) zu informieren und für die Rechte der Frauen zu sensibilisieren.
Mutlose Politiker
Der Tessiner Grosse Rat hat in der Auseinandersetzung über das Burka-Verbot nicht überzeugt. Da es im Tessin kaum Frauen gibt, welche eine Burka tragen, bräuchte es weder ein Verbot in der Verfassung, noch auf Gesetzesstufe. Die Grossräte der Freisinnigen und der Christlichdemokraten hatten nicht den Mut, den Stimmberechtigten klar und deutlich zu sagen, dass ein Verbot der Burka zwecklos und den noch nicht integrierten Muslimen mit anderen Massnahmen zu begegnen sei. Gegen die anti-islamischen Emotionen im Volk wollten die Grossräte nicht mit sachlichen Argumenten ankämpfen. Die Sozialdemokraten und die Grünen hatten sich gegen die Volksinitiative wie gegen den Gegenvorschlag ausgesprochen, doch im Vorfeld der Abstimmung sind deren Begründungen kaum gehört worden. Um ein Unbehagen auszudrücken, klammerte sich die Mehrheit der Tessiner ans symbolträchtigen Burka-Verbot.