Ich gehe mit meinem Begleiter Hans über den Jolimont. Die Buchen tragen ihr erstes helles Grün. Im Sommer sei es hier im dichten Wald fast etwas düster, sagt er, aber jetzt im Frühling dringt das Licht immer noch bis zum Boden vor. Vielleicht sieht deshalb Hans heute ein paar Bunker mehr als sonst, auch Neuentdeckungen.
Nicht dass ich mit einem Militärfanatiker unterwegs wäre. Ganz im Gegenteil. Hans hat seine Militärkarriere schon vor Jahrzehnten auf unteren Rängen beendet. Aber man kann nicht am Jolimont leben, erklärt er, und den militärisch durchlöcherten Untergrund des markanten Molasse-Rückens zwischen Bielersee und Grossem Moos einfach ignorieren. Bunkerzählen sei schon fast ein Volkssport.
Treffen auf dem Bahnhof Gampelen
Wir haben uns am Morgen am Bahnhof Gampelen an der Strecke Bern–Neuenburg getroffen. Es ist unsere erste Begegnung, zumindest die erste bewusste, aber unsere Lebenswege hätten sich, wie wir im Gespräch bald feststellen, auch schon früher kreuzen können. Wir gingen in Basel ins gleiche Gymnasium, waren einst aktiv in der gleichen Pfadfinderabteilung – wenn auch wegen des Altersunterschiedes nicht zur gleichen Zeit – und haben einen grossen Teil unserer damaligen Freizeit in der gleichen Gegend im Oberbaselbiet verbracht, über die ich kürzlich berichtet habe (1).
Hans hat sich darauf bei mir mit eigenen Erinnerungen gemeldet, die mich neugierig gemacht haben, und so sind wir uns, gute 60 Jahre nach unserer ersten potentiellen Begegnung, auf dem Bahnhof Gampelen erstmals in Fleisch und Blut gegenüber gestanden. Die gegenseitige Identifikation war nicht schwierig.
Hans wohnt seit über 35 Jahren in Erlach am nördlichen Ende des Jolimont. Auch wenn dieser markante Hügelzug nicht ganz so berühmt sei wie der benachbarte Mont Vully zwischen Neuenburger- und Murtensee, wo die keltischen Helvetier einst eine befestigte Siedlung angelegt hatten, gäbe es auch auf seinem „Hausberg“ einiges zu entdecken, schrieb er mir. Und er hatte Recht. (2).
Ein Denkmal für Bundesrat Karl Scheurer
Am alten Pfarrhaus vorbei steigen wir am südwestlichen Ende des Jolimont gegen den Wald hinauf. Oberhalb eines erst vor wenigen Jahren angelegten Rebberges weist uns ein brauner Wegweiser zum Scheurer Denkmal. Der aufrechtstehende Steinquader erinnert an den Gampeler Karl Scheurer, der 1919 bis 1929 für die FDP im Bundesrat sass und im Haus am Hügelfuss gewohnt hatte. Das Militärdepartement sei nicht sein Wunsch-Departement gewesen, schon gar nicht nach dem Ersten Weltkrieg und dem blutigen Generalstreik, aber ein guter Schweizer tut seine Pflicht, wenn ein Amt ruft. – Ein Trost für Nostalgiker: Diese Schweizer Tugend hat, wenn wir an Viola Amherd denken, bis heute bestens überlebt.
Wir wandern dem südlichen Rand des Jolimont entlang zum Aentscherzhaus. Hier soll bis ins 19. Jahrhundert mitten in den Rebbergen eine Häusergruppe gestanden haben, welche einst im Besitz des Berner Inselspitals gewesen ist. Nach einem Brand hat nur ein einziges Gebäude überlebt, das kürzlich nach jahrelangem Zerfall mit viel Aufwand renoviert und zu einem Pferdehof umgebaut worden ist.
Unrealisierte Pläne für ein thermisches Kraftwerk
Von hier aus würde der Weg hinunter führen zur Gemeinde Tschugg am Sonnenhang des Jolimont, heute bekannt durch die Klinik Bethesda, vor über 200 Jahren ein begehrter Sommersitz von Berner Patrizierfamilien. Die Familie von Steiger soll hier Ende des 18. Jahrhunderts einen Hauslehrer namens Georg Wilhelm Friedrich Hegel engagiert haben. Hegel soll in der reichen Bibliothek seiner Gastgeber die Werke aller europäischer Denker von der Antike bis zu Kant vorgefunden und sehr geschätzt haben.
Doch wir schenken uns den Weg hinunter nach Tschugg und steigen stattdessen in der Falllinie hinauf zum Burgerwald. Hier hat sich die ansonsten flächenmässig sehr kleine Gemeinde Erlach (3,5 Quadratkilometer), umgeben vom Gebiet der Gemeinden Gals und Tschugg für ihre Holzversorgung eine Enklave gesichert, welche den höchsten Punkt des Jolimont einschliesst. In dessen Nähe steht mitten im Wald ein in die Jahre gekommener ca. 30 Meter hoher Metallturm, an dem Instrumente für die Messung von Wind und Luftschadstoffen montiert sind. Man glaubt es kaum: Auf dem Jolimont ist vor über fünfzig Jahren der Bau eines thermischen Kraftwerkes geplant worden, das von der nahen Raffinerie Cressier mit Öl versorgt worden wäre. – Da kann man nur froh sein, dass amtliche Mühlen manchmal langsam mahlen.
Findlinge aus dem Wallis
Die schon im 19. Jahrhundert entdeckten Grabhügel der Kelten sind heute von dichtem Unterholz überwachsen. Wir lassen sie rechts liegen, arbeiten uns aber durch Dornengestrüpp zu einem Schalenstein vor. Der Rhonegletscher hat auf den Höhen des Jolimont zahlreiche Findlinge aus dem Wallis deponiert.
Die markanteste Gruppe, Teufelsburdi genannt, ist schon 1872 unter Schutz gestellt worden. Andere erratische Blöcke liegen im Wald versteckt, darunter einige, in welche unsere Vorfahren kleine, schalenförmige Vertiefungen gegraben haben, über deren Verwendung die Meinungen der Forscher auseinandergehen. Sollten sie kultischen Zwecken gedient haben, so scheint sich deren magische Kraft bis in die Gegenwart gehalten zu haben. Als wir das Moos aus den Vertiefungen kratzen, finden wir darunter 10- und 20-Rappenstücke. Wir lassen sie weiter ihre unbekannte Wirkung ausüben.
Bunkergeflecht als Spiel-Eldorado
Am nordwestlichen Rand des Jolimont, der steil gegen die Ebene der Zihl mit dem Städtchen Le Landeron abfällt, treffen wir nun auf das Kernstück der eingangs erwähnten Bunkerlandschaft. Bis zum Ende des Ersten Weltkrieges wurde hier aus einer ersten provisorischen Geländebefestigung eine Verteidigungslinie mit zahlreichen unterirdischen Verbindungsgängen und bombensicheren Unterkünften für bis zu tausend Mann gebaut. Zwischen den Bunkern findet man überall im Wald mit einfachen Eisenblechen gesicherte Einstiegslöcher, wo man über Leitern ins unterirdische Labyrinth gelangen kann. Hans erzählt, seine Kinder hätten hier oben ein unvergleichliches Spiel-Eldorado gehabt.
Abstieg nach Erlach
Wir fühlen uns zu alt und zu steif für solche Abenteuer. Am Jolimont-Guet vorbei, das den Nachkommen der Familie de Pury gehört und wo einst mein ehemaliger, viel zu früh verstorbener Basler Klassenkamerad David de Pury mit seiner Familie die Sommerferien verbracht haben soll, gehen wir unter mächtigen Eichen der Hügelkante entlang zum steilen Abstieg nach Erlach. Von hier sieht man hinüber zur Petersinsel und dem Heidenweg, welcher nach der Juragewässerkorrektion und der entsprechenden Absenkung des Sees die Insel zu einer Halbinsel degradiert hat.
Unterdessen – wir haben es über unseren Gesprächen kaum bemerkt – ist zwölf Uhr längst vorbei. Nach zweieinhalb Stunden wartet auf die beiden Wanderer ein von Hans’ Frau liebevoll vorbereitetes Mittagessen, zwei wundervolle Gemüsewähen mit Speckwürfel angereichert, dazu eine Flasche Rotwein. Später führt mich Hans durch das Städtchen.
Er zeigt mir das ehemalige Amtshaus, wo vormittags der Statthalter und nachmittags der Untersuchungsrichter amtete, beides die gleiche Person. Dort seien auch das Grundbuchamt, das Standesamt und das Betreibungsamt beheimatet gewesen. Es hätte eine Polizeistation mit Einliegerwohnung für den Postenchef und ein kleines Untersuchungsgefängnis gegeben. Die Frau des Postenchefs sei für die Verpflegung der Häftlinge verantwortlich gewesen. – Kurz, bis Ende 2008 war das Städtchen Erlach mit damals knapp 1200 Einwohnern stolzer Hauptort eines aus 12 Gemeinden und insgesamt rund 11'000 Einwohnern bestehenden Berner Amtsbezirks.
Kompensation für das Untersuchungsgefängnis
Als wir vom Schloss, an dem wie als Machtdemonstration gegenüber dem nahen neuenburgischen Städtchens Le Landeron ein grosses Berner Wappen prangt, durch die winzige Altstadt zum See hinunter gehen, bin ich nicht ganz sicher, ob man hier in Erlach eigentlich froh darüber ist, dass das Getöse unserer Zeit einen Bogen um das Städtchen gemacht hat – nicht einmal einen Bahnhof gibt es hier! – oder ob man sich nach der Berner Ämterreorganisation, welche Erlach als Hauptort enthront hatte, etwas verloren vorkommt.
So oder so, Geschichte quillt hier aus jedem Stein und spricht aus jedem Gebäude. Nur der riesige Zeltplatz mit den zu kleinen Blechburgen umgebauten Caravans will nicht so richtig dazu passen. Solche Zeltplätze hätten schon immer zu den drei Mittellandseen gehört, und zudem müsse die Gemeinde den Wegzug der Magistraten und ihrer Untersuchungshäftlinge ja auch ein bisschen kompensieren, meint Hans, halb schmunzelnd, halb nostalgisch.
Scharf beobachtetes Bielersee-Schiff
Es ist Zeit, mich von meinem neuen alten Wanderkameraden zu verabschieden, der mich nicht nur in meine Basler Jugend zurückgeführt, sondern mir auch einen kleinen bewaldeten Berg und ein noch kleineres altes Städtchen nahe gebracht hat. Der Schiffsteg liegt draussen am Hafen. Von La Neuveville/Neuenstadt her – einstiger Hauptort eines anderen ehemaligen Berner Amtsbezirkes, der durch einen Roman von Friedrich Dürrenmatt Berühmtheit erlangt hatte – nähert sich das MS Stadt Biel. Die Saison ist noch frisch, man spürt es auch am Eifer, mit dem die Schiffsmannschaft den Seilwurf übt. Noch fehlt die vertraute Routine, auch beim Manövrieren.
In Tüscherz muss der Kapitän die ganze Motorkraft einsetzen, um nicht in einen Pfosten des Landungssteges zu prallen, und in Biel wirft eine enthusiastische Matrosin ihr Seil über einen falschen Pfosten und muss dieses dann schnell wieder losmachen.
Aber der Saisonstart ist fehlertolerant. Alles geschieht mit Humor und Lachen. Wäre ja auch traurig, wenn es anders wäre, wenn man schon einen begehrenswerten Posten auf einem Schiff der Bielerseeflotte hat. – Da schwingt bei einem, der letztes Jahr sein eigenes Schiff verkauft hat, eine Portion Nostalgie mit!
(1) https://www.journal21.ch/das-fuenflibertal
(2) Für Wanderer ohne persönliche ortskundige Führung hat vor vielen Jahren das Berner Seminar für Erwachsenenbildung im Rahmen einer Projektarbeit einen kleinen Führer, „Jolimont – Eine Wanderung durch Geschichte und Gegenwart“, verfasst, den man bei der Gemeindeverwaltungen von Erlach, Gals, Gampelen oder Tschugg kaufen kann.