Er ist zwar beigelegt, aber nicht überwunden: der Krieg zwischen der Zentralregierung und der Provinz Tigray, der das ganze Land in Mitleidenschaft gezogen hat. Nach einer bis 2019 anhaltenden hoffnungsvolle Periode ist Äthiopien im Chaos versunken. Das Land wurde um Jahrzehnte zurückgeworfen.
Ministerpräsident Abiy Ahmed genoss einen guten Ruf als Reformer. Er bekämpfte die Korruption und brachte die wirtschaftliche Entwicklung des über hundert Millionen Menschen zählenden Landes voran. Äthiopien lag mit seinem Wirtschaftswachstum gar in der Spitzengruppe der afrikanischen Staaten. Ausserdem erreichte Abiy 2019 nach jahrelangen gewaltsamen Konflikten eine Aussöhnung mit dem Nachbarland Eritrea. Hierfür wurde er mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet.
Wie ist es zu erklären, dass diesem Friedensstifter später beim Konflikt mit der Region Tigray jede Versöhnlichkeit abging und er sein Land in den vermutlich blutigsten Krieg der jüngsten Geschichte abstürzen liess?
Abiys Versuche, das mit rund hundert Volksgruppen und mehr als siebzig anerkannten Sprachen äusserst heterogene Land stärker zu zentralisieren, waren zunehmend auf Widerstände gestossen. 2018 entging er knapp einem Anschlag mit zwei Toten und über 150 Verletzten und bald darauf einem Komplott von Militärs. In der Provinz Tigray opponierte die Volksbefreiungsfront von Tigray (TPLF), die eine regionale Autonomie forderte und auch in der nationalen Politik ein Machtfaktor war.
Der Funken im Pulverfass: Streit um Wahlen
Als Abiy die für August 2020 geplanten nationalen und regionalen Wahlen mit der Begründung verschob, diese könnten wegen der Covid-Pandemie nicht ordnungsgemäss durchgeführt werden, widersetzte sich die TPLF und liess in Tigray trotzdem wählen. Offenbar mit durchschlagendem Erfolg: Die Volksbefreiungsfront eroberte in Tigray fast alle exekutiven und legislativen Mandate. Gleichzeitig übernahm sie handstreichartig etliche Armeebasen in der Provinz. Ministerpräsident Abiy reagierte hart. Mit massivem militärischem Einsatz ging er gegen die Aufständischen vor. Zudem setzte er die Provinzregierung ab und löste das regionale Parlament auf. Eine von den USA angestrebte internationale Vermittlung lehnte Abiy ab.
Im nun ausbrechenden Bürgerkrieg griffen an der Seite der äthiopischen Armee auch eritreische Truppen ein. Die TPLF ihrerseits versuchte mit Unterstützung der Oromo-Befreiungsfront, einer weiteren äthiopischen Rebellenbewegung, die Regierung von Abiy Ahmed zu stürzen.
Kriegsverbrechen und humanitäre Katastrophen
Laut verschiedenen NGOs kam es auf allen Seiten zu schweren Kriegsverbrechen und Menschenrechtsverletzungen. Nach wenigen Monaten waren 500'000 Menschen als intern Vertriebene auf der Flucht und zusätzlich über zwei Millionen zum Überleben auf humanitäre Hilfe angewiesen. Dessen ungeachtet behinderte Abiy aktiv die Tätigkeit von Hilfswerken in der abtrünnigen Provinz. Tigray wurde durch äthiopische Regierungstruppen und eritreische Verbände schliesslich vollständig isoliert, was in der Provinz eine humanitäre Katastrophe auslöste.
Im Juni 2021 gelang es der der TPLF, die Hauptstadt der Region Tigray, Mek’ele, zurückzuerobern. Die Aufständischen drangen über Tigray hinaus in Richtung Addis Abeba vor, ihre Raketen schlugen nahe dem hauptstädtischen Flughafen ein. In der Folge verfügte Abiy eine Generalmobilmachung gegen die TPLF, und seit November 2021 herrschte landesweit der Ausnahmezustand. Tigray war nicht nur von Hilfslieferungen abgeschnitten, sondern auch von aller Kommunikation abgekoppelt und für internationale Berichterstatter unzugänglich. Die Provinzhauptstadt Mek’ele wurde von der äthiopischen Luftwaffe bombardiert.
Das Jahr 2022 war geprägt von Chaos und Massakern gegen die Zivilbevölkerung. Besonders berüchtigt waren die massiv eingreifenden eritreischen Verbände. Die durch die Blockade Tigrays ausgelöste Hungersnot kostete Hunderttausenden das Leben. Das Gesundheitssystem in der Provinz war vollständig zusammengebrochen.
Vom Waffenstillstand zum labilen Frieden
Im Oktober 2022 begannen unter der Führung der Afrikanischen Union in Südafrika Friedensgespräche zwischen den Bürgerkriegsparteien. Doch der Krieg ging einstweilen mit erschreckend hohem Blutzoll weiter. Beobachter fühlten sich an die Endphase des Ersten Weltkriegs mit ihren verheerenden und militärisch sinnlosen Schlachten erinnert.
Endlich, am 2. November 2022, konnte ein Waffenstillstand vereinbart werden. Er wird seither eingehalten, obschon die Tigray-Rebellen mit dem Abkommen unzufrieden sind. Ihre Autonomiebestrebungen sind gescheitert. Auch wenn im Januar 2023 der Rückzug der äthiopischen Armee aus Tigray begonnen hat, bleibt die Lage labil. Der Konflikt ruht bloss, er ist nicht gelöst. Ein ungutes Zeichen ist auch, dass die Kriegspartei Eritrea bei der Unterzeichnung des Friedensvertrags nicht dabei war.
Tigray ist nachhaltig geschädigt. Die Kinder haben drei Jahre lang keine Schule besucht und sind durch Mangelernährung und Hunger in ihrer physischen und mentalen Entwicklung dauerhaft beeinträchtigt. Wirtschaft und Nahrungsversorgung liegen darnieder. Die Angreifer hatten die Lebensmittelproduktion der Provinz gezielt sabotiert durch Zerstörung von Bewässerungssystemen, Vernichtung landwirtschaftlicher Geräte und Unterdrückung jeder Aussaat. Zehntausende sind vor dem Hunger und der Gewalt nach Sudan geflohen. Von den bis zum Kriegsende über fünf Millionen intern Vertriebenen sind die Hälfte noch immer auf der Flucht. Schon vorher waren 900’000 Menschen aus umliegenden Ländern nach Äthiopien geflohen.
Unzureichende Nothilfe für Ostafrika
In Äthiopien sind heute 28 Millionen Menschen auf Überlebenshilfe angewiesen sind. Das Land liegt auf dem Human Development Index auf Rang 175 von 191. Doch dessen miserable Lage ist in dieser Weltregion keine Ausnahme. Ostafrika wird immer wieder von Kriegen – aktuell im Sudan – und Dürrekatastrophen in seiner Entwicklung zurückgeworfen.
Die Uno und zahlreiche Hilfswerke sind in der Region seit Jahrzehnten engagiert. Am 24. Mai 2023 berief die Weltorganisation in New York eine Geberkonferenz für Nothilfe in Ostafrika ein. Ziel war es, allein für das laufende Jahr eine Summe von mindestens sieben Milliarden US-Dollar aufzubringen. Das Geld soll in den von Dürren, Kriegen und Wirtschaftskrisen gebeutelten Ländern in Ostafrika – Kenia, Äthiopien, Somalia – zugunsten von rund dreissig Millionen Notleidenden eingesetzt werden. Laut Uno-Angaben sind in Ostafrika 1,9 Millionen Kinder akut vom Hungertod bedroht.
«Die Menschen am Horn von Afrika zahlen einen unerträglichen Preis für eine Klimakrise, die sie nicht verursacht haben», sagte Uno-Generalsekretär Guterres an der Geberkonferenz. «Wir schulden ihnen Solidarität. Wir schulden ihnen Hilfe. Und wir schulden ihnen ein gewisses Mass an Hoffnung für die Zukunft.» Das bedeute sofortiges Handeln, um ihr Überleben zu sichern, so der Uno-Generalsekretär.
Doch die Regierungen der Mitgliedländer gaben für lediglich ein Drittel der Zielsumme Finanzierungszusagen ab. Als Begründung hiess es, der Fokus der internationalen Hilfe liege gegenwärtig ganz auf der Ukraine. Afrika geht – einmal mehr – vergessen.