Am Wochenende treffen sich auf dem Bürgenstock gegen hundert zum Teil hochrangige Delegationen aus aller Welt, um über einen möglichen Frieden im Ukrainekrieg zu beraten. Russland ist nicht dabei. Kritiker und Putin-Propagandisten schiessen aus allen Rohren gegen das von der Schweiz organisierte Unternehmen. Tatsache aber ist: Die Konferenz ist in jedem Fall ein Dienst gegenüber der Ukraine. Weshalb sollte ein neutrales Land für ein mörderisch überfallenes Land keine politisch-moralische Hilfe leisten?
Weshalb regt sich Moskau so heftig gegen das Bürgenstock-Treffen auf, schreibt der «Spiegel», wenn diese sogenannte Friedenskonferenz in Schweiz aus russischer Sicht derart bedeutungslos sein soll? Die Medien am Gängelband des Kremls bis zum russischen Botschafter in Bern und den Putin-Claqueuren hierzulande und anderswo lassen kein gutes Haar an diesem Unternehmen. Sie überschlagen sich mit primitiv-herabsetzenden Charakterisierungen der gastgebenden Bundesräte, hämischen Fiasko-Prognosen und apokalyptischen Katastrophenbeschwörungen für die kleine Schweiz. Offenbar ist diese illustre Gipfelveranstaltung hoch über dem Vierwaldstättersee zumindest für das Putin-Regime nicht so irrelevant, wie man nach aussen glauben machen will.
Selenskyjs Wunsch
Es stimmt, diese «Friedenskonferenz» wird von der Schweiz in erster Linie auf Wunsch des ukrainischen Präsidenten Selenskyj organisiert. Er hatte diesen Wunsch schon vor seinem Besuch in Bern im vergangenen Januar, wo er auf dem Weg zum Davoser WEF empfangen wurde, anklingen lassen. Aussenminister Cassis und die amtierende Bundespräsidentin Amherd hatten ihm dann eine Zusage erteilt. Es entspricht auch dem Wunsch des ukrainischen Präsidenten, dass Russland von der Schweiz nicht offiziell zu diesem Treffen eingeladen worden ist.
Diese Bedingung Selenskyjs zu akzeptieren, mag man zumindest im taktischen Sinne als eine Fehlentscheidung der Schweizer Regierung beurteilen. Denn wie kann eine «Friedenskonferenz» Resultate zustande bringen, wenn die Partei, die diesen Angriffskrieg vom Zaun gerissen hat und ihn seit bald zweieinhalb Jahren mit aller Rücksichtslosigkeit weitertreibt, nicht mit am Verhandlungstisch sitzt? Die ukrainische Regierung argumentiert, dass man nicht mit einer Macht verhandeln wolle, solange diese ukrainisches Territorium besetze und die grundsätzlich das Existenzrecht einer unabhängigen Ukraine bestreite. Ob Kiew diesen Standpunkt durchhalten kann, ist ziemlich zweifelhaft. Zumal es ja kurz nach Beginn des russischen Überfalls solche Verhandlungen gegeben hat – allerdings nicht mit einer weitgehenden Annäherung zwischen den Kriegsparteien, wie das die Putin-Propagandisten inzwischen ohne seriöse Fakten dem Publikum einreden wollen.
Moskaus eigene Absage
Was die russische Absenz auf dem Bürgenstock betrifft, so wird von Seiten der Schweiz mit einigem Grund geltend gemacht, dass Moskau lange vor dem Verschicken der offiziellen Einladungen sein Nein zu diesem Konferenz-Projekt posaunt hatte. Und als Aussenminister Cassis im Januar extra nach New York reiste, um dort mit dem russischen Amtskollegen Möglichkeiten für eine Kompromissformel zu sondieren, wurde er von Lawrow brüsk abgefertigt. Putin selber hat zuhanden einer gutgläubigen Öffentlichkeit schon mehrfach behauptet, Russland sei jederzeit zu Friedensverhandlungen bereit. Erst vor wenigen Tagen betonte er dagegen mit ganz anderer inhaltlicher Stossrichtung an einer Pressekonferenz in St. Petersburg: «Wir streben den Sieg an». Friedensverhandlungen kämen nur unter Russlands Bedingungen in Frage. Wer als Aggressor so argumentiert, würde an dem Treffen am Vierwaldstättersee schwerlich einen konstruktiven Beitrag leisten.
Für Selenskyj steht beim Bürgenstock-Gipfel offenkundig ein diplomatischer Erfolg im Vordergrund. Für ihn ist es eine Gelegenheit, der Weltöffentlichkeit und vor allem dem unter der Kriegslast schwer leidenden eigenen Volk zu zeigen, wie viele hohe Vertreter aus den verschiedensten Ländern in die Schweiz reisen, um Sympathie und Solidarität mit der Ukraine zu bekunden. Zwar haben, entgegen anfänglichen Hoffnungen, China und anderen Staaten des sogenannten globalen Südens eine Teilnahme nicht zugesagt. Doch immerhin werden laut bisherigem Stand gegen hundert Länder und internationale Organisationen auf dem exklusiven Gipfel-Resort vertreten sein und sich dort voraussichtlich zu fotogenen Gruppenbildern versammeln.
Anstoss für weitere Folgekonferenzen?
Durchaus möglich scheint inzwischen, dass von der Bürgenstock-Veranstaltung Impulse und Anstösse für weitere Konferenzen zur Friedenssuche im Ukraine-Krieg ausgehen. Inoffiziell diskutiert wird neuerdings, dass Saudi-Arabien in absehbarer Zeit zu einem derartigen Treffen einladen könnte. Die schwerreiche Monarchie im Nahen Osten verfügt über gute Kontakte sowohl zu Russland wie auch zur ukrainischen Regierung. Erst vor wenigen Tagen hat Selenskyj in Riad mit dem saudischen Kronprinzen konferiert. Und weil Putin an guten Beziehungen zu autokratischen Regimes besonders interessiert ist, würde er eine saudische Einladung zu einer saudischen Ukraine-Konferenz kaum zurückweisen.
Optimistische Beobachter erinnern im Hinblick auf mögliche Folgekonferenzen denn an den sogenannten Helsinki-Prozess, der während des Kalten Krieges in den 1970er und 1980er Jahren einen langen Verhandlungsmarathon zwischen dem damaligen Ostblock und den westlichen Staaten einleitete. Dieser langwierige Prozess führte damals zu einer wenigstens teilweisen Entspannung zwischen den beiden Nachkriegsblöcken. Wahrscheinlich trug er auf lange Sicht auch zur späteren Auflösung des sowjetischen Imperiums und zur Befreiung Osteuropas bei. Wenn eine Entwicklung dieser Art durch den Bürgenstock-Gipfel in Gang kommen sollten, wäre dieses Treffen auf jeden Fall ein Erfolg.
Vom «Friedensgipfel» zur «Konferenz zum Frieden»
Die Organisatoren der Veranstaltung über dem Vierwaldstättersee haben mittlerweile ihre anfänglich allzu hochgespannte Rhetorik vom «Friedensgipfel» auf ein pragmatischeres Niveau zurückgeschraubt. Nun ist bescheidener von einer «Konferenz zum Frieden» die Rede. Gestutzt worden ist auch die von Selenskyj schon vor langem vorgelegte Zehnpunkte-«Friedensformel», die nach ukrainischen Vorstellungen für einen akzeptablen Frieden erfüllt sein müssen. Dazu zählen die Forderungen nach einem russischen Rückzug vom gesamten Territorium der Ukraine, ein Tribunal für russische Kriegsverbrecher und Reparationszahlungen. Jetzt will man die Diskussion vor allem auf Diskussionspunkte wie Sicherheit für Ernährung, die Schifffahrt und Atomanlagen sowie Erleichterungen für den Gefangenenaustausch konzentrieren. Zu diesen Themen dürfte eine gemeinsame Gipfelerklärung nicht allzu schwierig zu zimmern sein.
Die voraussichtliche Essenz der Bürgenstock-Grossveranstaltung besteht darin, dass etwas unternommen wird, was im Interesse der Ukraine liegt. Sie demonstriert Solidarität vor allem von demokratisch regierten Ländern mit dem um seine Existenz ringenden Land und dessen Hoffnung auf Frieden und Erhalt der Selbständigkeit. Warum sollte die kleine reiche Schweiz diesen von der gewählten ukrainischen Regierung vorgetragenen Wunsch nicht erfüllen?
Neutralitätspolitisches Gezeter dagegen oder gar finanzielle Einwände zeugen nicht von souveränem völkerrechtlichem Denken und moralischem Engagement. Und selbst wenn die Konferenz aus irgendeinem Grund scheitern sollte, bleibt richtig, was der Schweizer Historiker Marco Jorio zu diesem Thema meinte: «Wer nichts wagt, trägt sicherlich nichts zum Ende dieses Krieges bei.»