Welche Bücher möchten Sie schenken, welche möchten Sie selber lesen? Autorinnen und Autoren von Journal21.ch empfehlen Ihnen 28 Werke.
- STEPHAN WEHOWSKY EMPFIEHLT
Una Mannion: Licht zwischen den Bäumen
Fünf Kinder im Auto, eine genervte Mutter. Als die kleine Ellen keine Ruhe gibt, hält die Mutter an und wirft sie hinaus. Die Fahrt geht in der einbrechenden Nacht weiter und die Geschwister sind ratlos: Wie wird Ellen je wieder nach Hause kommen? Una Mannion schafft nicht nur Spannung. Sie verfügt auch über eine detailgenaue und farbige Sprache. Sie führt mitten hinein in die Geschichte Jugendlicher. Für die Mädchen ist dabei ein abgeschiedener Platz im Wald wichtig. Es geht um Geheimnisse in Familien und Nachbarschaften, um Freundschaften, Scham und Schuld. Von der internationalen Kritik wird das Buch in den höchsten Tönen gelobt.
Steidl, 2021, 344 S.
Fjodor M. Dostojewski: Aufzeichnungen aus einem toten Haus
Der 200. Geburtstag von Fjodor Dostojewski hat Anlass für viele Würdigungen gegeben. Gemeinsamer Nenner: Der Autor ist heute noch so packend wie damals. Sein erster Roman, der 1862 herauskam, war zugleich sein erster grosser Erfolg: «Aufzeichnungen aus einem toten Haus». Er handelt von seiner Gefangenschaft in einem Straflager in Sibirien. Barbara Conrad hat das Buch neu übersetzt. Zu Recht wird sie von der Kritik sehr geschätzt. Und so spricht Dostojewski zum heutigen Leser, als wäre er ein Zeitgenosse. Man staunt, wie genau Dostjewski das Lagerleben schildert, wie scharf er Charaktere zeichnet und wie er beschreibt, was in ihm vorgeht.
dtv, 2021, 544 S.
Robert Musil: Nachlass zu Lebzeiten
Der Sinus Verlag hat passend zur Weihnachtszeit eine bibliophile Edition zum Hören und Lesen herausgebracht. Ironisch hat Robert Musil seine kurzen Texte als «Nachlass zu Lebzeiten» bezeichnet. Es sind Beobachtungen und Gedanken, die er ebenso verspielt wie scharfsinnig aufgezeichnet und gesammelt hat. So hat er die Frage gestellt: «Kann ein Pferd lachen?» Nicht nur hier ist er ganz auf der Höhe seiner Kunst. Vorgetragen wurden die Betrachtungen von bekannten Schauspielern und Sprechern. Dazu kommen ein schön gestaltetes Textheft und ein Band mit «Interpretationen» und «Exkursen». Manches davon wird man mehrfach auf sich wirken lassen.
Sinus Verlag, 2021, 476 S., 290 Minuten
- URS MEIER EMPFIEHLT
Karl Heinz Bohrer: Was alles so vorkommt
Der launige Buchtitel erklärt sich aus dem Untertitel: «Dreizehn alltägliche Phantasiestücke». Das Phänomen der Phantasie hat den Literaturwissenschaftler und Publizisten Bohrer – er verstarb kurz vor Erscheinen des Bandes – zeitlebens umgetrieben. Was hier versammelt ist, sind aber keine freischwebenden, keine romantischen Phantasmen, sondern genaue Beobachtungen und Erinnerungen, die zum Weiterdenken anregen. Grossartig beispielsweise die Schilderung einer Zugreise nach London, bei der die von der extremen Sommerhitze verbogenen Schienen auf abenteuerliche Abwege führen.
Suhrkamp Verlag, 2021, 185 S.
Alexander Osang: Die Leben der Elena Silber
Die Saga der Silber-Familie setzt ein im vorrevolutionären Russland und reicht bis ins Berlin des Jahres 2018. Die Hauptfigur Elena blickt nach zwei Weltkriegen, nach Revolution, Leninismus, Stalinismus, Nationalsozialismus und zu guter Letzt nach dem Kalten Krieg sowie dessen Ende nicht auf ihr Leben, sondern tatsächlich auf ihre Leben zurück. Osang erzählt die in die Dramen des 20. Jahrhunderts verwobene Geschichte im Stil des Spiegel-Reporters, der er ja tatsächlich ist. Entsprechend flüssig und unterhaltsam ist das Buch zu lesen. Dass man gelegentlich den beigegebenen Stammbaum konsultieren muss, tut dem Lesevergnügen keinen Abbruch.
S. Fischer, 2019, 620 S. (auch als Taschenbuch)
Marcel Duchamp by Robert Lebel
Die legendäre Monographie des Kunstwissenschaftlers und Duchamp-Experten Robert Lebel, 1959 gleichzeitig in Paris auf Französisch und in New York auf Englisch erschienen, entstand in enger Zusammenarbeit mit Marcel Duchamp. Nun ist die englische Ausgabe des Buches als Faksimile neu herausgegeben worden, ergänzt um ein Supplement, das dessen Entstehung beleuchtet. Man erhält mit dieser Edition nicht nur eine tiefgründige Werkeinführung, die u. a. auch Texte von André Breton und Marcel Duchamp selbst bietet, sondern auch ein prächtiges Kunstbuch, dessen Gestaltung die kraftvolle Handschrift des Künstlers zeigt.
Facsimile oft the 1959 English Edition, 192 S., plus Supplement, 56 S.; Hauser & Wirth Publishers, 2021, 2 Bde.
- KLARA OBERMÜLLER EMPFIEHLT
Elizabeth Strout: Oh, William!
So kann nur Elizabeth Strout erzählen, so beiläufig und doch so hintergründig. Und wie so oft in ihren Büchern greift sie auch jetzt wieder auf bekannte Figuren zurück. Diesmal ist es die Schriftstellerin Lucy Barton, Strouts alter Ego, die uns ihre Geschichte weitererzählt oder, genauer, zurückschaut auf ihre frühere Ehe, mit der sie noch keineswegs fertig ist. «Oh, William!» ist ein Buch der Erinnerung, ein Buch über das Älterwerden und auch ein Buch über die Liebe, die Bestand hat, auch wenn man an ihr gescheitert ist. Elizabeth Strout ist eine Meisterin der ambivalenten Gefühle, und sie beschreibt sie so präzise, dass man in jeder ihrer Figuren ein Stück seiner selbst wiederzufinden glaubt.
Luchterhand, 2021, 224 S.
Edmund de Waal: Camondo. Eine Familiengeschichte in Briefen
Schon in seinem Bestseller «Der Hase mit den Bernsteinaugen» hat Edmund de Waal gezeigt, wie wunderbar er es versteht, verlorene Zeiten und Dinge wieder zum Leben zu erwecken. In seinem jüngsten Buch «Camondo» kommt diese Begabung erneut zum Tragen. Nur ist es diesmal nicht die eigene Geschichte, die Geschichte der jüdischen Bankiersfamilie Ephrussi, der de Waal nachgeht, sondern diejenige der Familie Camondo, die mit den Ephrussis eng befreundet war. Deren einstiger Wohnsitz in Paris – heute ein Museum exquisiter Kunst und Wohnkultur – ist ihm Anlass, um mit dem aus Konstantinopel stammenden Erbauer Moïse de Camondo in Dialog zu treten und dabei eine Welt wiedererstehen zu lassen, die in den Katastrophen des 20. Jahrhunderts für immer untergegangen ist.
Zsolnay, 2021, 192 S.
Toni Morrison: Menschenkind
Die Begegnung mit den Arbeiten der Afroamerikanerin Kara Walker im Kunstmuseum Basel führte in diesem Sommer zu einer Wiederentdeckung des Romans «Menschenkind» von Toni Morrison. 1987 ist das Buch unter dem Titel «Beloved» in den USA erschienen. 1993 erhielt die Autorin als erste Afroamerikanerin den Nobelpreis für Literatur. Die beiden Künstlerinnen verbindet vieles, allem voran der schonungslose Blick auf das Leiden der Schwarzen in den Vereinigten Staaten sowie eine Formensprache, die sich allen Normen und Konventionen widersetzt. In ihrem Roman über einstige Sklavinnen und Sklaven in den Südstaaten Amerikas führt Toni Morrison uns ganz nah an den von Gewalt und Erniedrigung gezeichneten Gemütszustand dieser Menschen heran. Dass ihr dies gelingt, liegt nicht zuletzt an ihrer Sprache, die so fremd ist wie die Welt, aus der sie stammt, und dabei doch so tief menschlich, dass sie niemanden unberührt lässt.
Rowohlt TB, 2020, 400 S.
- CHRISTOPH KUHN EMPFIEHLT
Jenny Erpenbeck: Kairos
Jenny Erpenbeck gehört zu den eigenwilligsten Autorinnen Deutschlands – ihre Romane und Erzählungen lassen niemanden unberührt. Im neuen Roman «Kairos» entwickelt sie eine (unmögliche) Liebesgeschichte vor dem Hintergrund der untergehenden DDR. Die 19-jährige Katharina und der verheiratete Mittfünfziger Hans begegnen sich in Ostberlin, Ende der 80er Jahre, und verlieben sich. Das Ende der DDR bedeutet auch das Ende ihrer Liebe. Grossartig, wie es Jenny Erpenbeck versteht, das Zerfallen eines Staates, eine politische, eine gesellschaftliche Angelegenheit, mit dem Allerprivatesten, dem Verschwinden einer Liebe, zu verbinden.
Penguin Verlag, 2021, 380 S.
Christoph Ransmayr: Der Fallmeister
Der Österreicher Christoph Ransmayr, ein grosser Reisender, den die entlegensten Gegenden der Welt am meisten reizen, legt mit dem kurzen Roman «Der Fallmeister» eine knapp charakterisierte Dystopie der nicht ganz unwahrscheinlichen Art vor. Die Welt in ferner Zukunft ist in misstrauische Kleinstaaten zerfallen, die sich unentwegt bekämpfen, der Meeresspiegel steigt und steigt, die Klimakatastrophe ist eingetroffen. In dieser tristen Welt siedelt Ransmayr die Geschichte eines Sohnes an, der auf Wahrheitssuche ist und herauszufinden hofft, was mit seinem Vater passiert ist und ob er ein Mörder war. Ransmayr gehört zu den brillantesten Stilisten der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Seine Sätze, seine Bilder, seine überraschenden Kombinationen lassen auch diesen kleinen, exotischen Roman zu einem raffinierten Sprachkunstwerk werden.
S. Fischer Verlag, 2021, 220 S.
Erich Keller: Das kontaminierte Museum
Man wird sich daran gewöhnen müssen, Bilder und Bildersammlungen mit einem doppelten Blick zu betrachten: zum einen erlebt man Schönheit, zum andern wird man darüber informiert, wie das Bild in die Sammlung, ins Museum kam, wer es wo und wann und zu welchen Bedingungen erworben hat. Die hochkarätige Sammlung des Waffenindustriellen Emil G. Bührle, Prunkstück des Zürcher Kunsthausneubaus, kann sich diesem Doppelblick nicht entziehen; sie ist geradezu ein Schulbeispiel für die neue Methode, wie man an solche Bilder herangehen müsste. Erich Keller, Historiker und Journalist, hat zwei Jahre lang an einem wissenschaftlichen Projekt mitgearbeitet, das der Sammlung Bührle galt. In seinem kürzlich erschienenen Buch «Das kontaminierte Museum» liefert er ein strenges, ein klarsichtiges und sehr stringentes Bild der Probleme, die sich bei Untersuchungen dieser und anderer Kunstsammlungen ergeben. Hat man Keller gelesen, wird man mit anderen Augen ins Museum gehen.
Rotpunktverlag, 2021, 190 S.
- IGNAZ STAUB EMFPIEHLT
John Le Carré: Silverview
Auch in seinem letzten Roman, der posthum erschienen ist, taucht John Le Carré in die fluide, opake und verwirrende Welt der Spionage ein. Wie ein älteres Paar im Buch, das einst für den britischen Geheimdienst tätig war, scheint auch er die Frage zu stellen, was Spione am Ende ihres Lebens erreicht haben. Sie hätten, sagt der Ehemann desillusioniert, nicht viel unternommen, um den Lauf der Weltgeschichte zu verändern. Wie stets bei Le Carré spielt sich die Handlung des Thrillers in einem britischen Seebad weniger im Äussern, als spektakuläre Action, als eher im Innern der handelnden Personen, als Psychodrama ab. Es ist die Geschichte eines älteren Spions, der noch einmal seine ganze Erfahrung zusammennimmt, um den Fängen des Auslandgeheimdienstes zu entkommen, der in ihm einen Verräter wittert, statt zu merken, wie stark ihn seine frühere Tätigkeit traumatisiert hat.
Viking/Penguin Random House NY, 2021, 208 S.
Natalie Amiri: Zwischen den Welten
Die Autorin, Tochter eines Iraners und einer Deutschen, leitete während fünf Jahren das Teheran-Büro der ARD – kein leichtes Unterfangen. Und für eine Frau schon gar nicht in einem Land, das sich auf der Liste der Pressefreiheit der Reporter ohne Grenzen an 173. Stelle befindet und dessen Ziel es ist, wie sie erfährt, «eine transparente und unabhängige Berichterstattung zu unterbinden». Wie sich die Korrespondentin dieser Herausforderung stellt hat und wie es ihr gelingt, allen Hindernissen und Schikanen der Machthaber zum Trotz aufschlussreich aus der Islamischen Republik zu berichten, schildert die 43-Jährige in lebendiger Sprache. Amiris Ziel ist es, das vorurteilslose Bild eines Landes und einer Bevölkerung zu vermitteln, die von den Medien im Westen häufig verkannt und von der Politik aus Gründen der Opportunität mitunter gezielt dämonisiert werden.
Aufbau Verlag, 2021, 254 S.
Mäddel Fuchs: Irgendwo und überall
Als Autodidakt und auf Umwegen zur Berufsfotografie gekommen, durchstreift Mäddel Fuchs wie der gleichnamige Vierbeiner seine Umgebung auf der Suche nach Sujets, die auf den ersten Blick alltäglicher nicht sein könnten, gerade deshalb aber vieles über unsere Gesellschaft und deren Eigenheiten verraten. Inspiriert von grossen Franzosen wie Brassaï und den Strassenfotografen Amerikas ist sein Blick aber nicht der des Voyeurs, sondern jener des toleranten, mitunter amüsierten Beobachters. Fuchs, in den 1980er Jahren freier Mitarbeiter der NZZ und später als akribischer Appenzeller Fotograf bekannt geworden, sieht seine analogen, teils träf kommentierten Schwarzweiss-Aufnahmen aus 40 Jahren als Beitrag zu einer fotografischen Geschichtsbetrachtung.
Fotoband, Scheidegger & Spiess, 2021, 180 S.
- GISELA BLAU EMPFIEHLT
Fridolin Schley: Die Verteidigung
Der Vater: Ernst von Weizsäcker, SS-General, Ribbentrops Top-Diplomat im Auswärtigen Amt der Nazis, früher: Botschafter Deutschlands in Bern. Der Sohn: Richard von Weizsäcker, Jus-Student, in Bern als Bub dabei. Jahr und Ort: Nürnberg, 1947, die Prozesse. Der Sohn hat sein Studium unterbrochen, um an der Verteidigung des Vaters teilzunehmen. Der wird zwar verurteilt, kommt aber wie so viele andere Nazis und Antisemiten bald frei. Er stirbt kurz darauf. Der Sohn wird Bundespräsident der Bunderepublik und macht sich Feinde der Ewiggestrigen, als er am 8. Mai 1985 im Bundestag sagt, dieser Tag habe die Befreiung von den Nazi-Gräueln gebracht. Was wie ein Roman tönt ist historisch genau. Ein Lese-Muss für Fans von Zeitgeschichte in Form eines Romans.
Carl Hanser Verlag, 2021, 272 S.
Norbert Klugmann und Klaas Jarchow: Sea
Die Schären sind Inselparadiese in der Nähe von Stockholm. Hier verbringen Warren und sein Vater Charles mit Freunden ihre Ferien am liebsten. Aber ihre Insel Saltkrokan dient ebenso als Refugium für Neo-Nazis aus Hamburg. Hier planen sie Finsteres. Nicht umsonst lautet der Untertitel «Die Lebenden und die, die sterben». Die echten Ferien-Touristen finden bald vieles über ihre Mitbewohner heraus. Ob das gut gehen kann? «Sea» gehört zu einer Trilogie, in der Wasser immer eine wichtige Rolle spielt. Die anderen Bände heissen «River» und bald einmal «Lake». Der Roman hat sich die reale Aktualität nicht gesucht, sie jedoch gefunden – eine rechtsextreme Partei sitzt neu im schwedischen Parlament, und auch sie verheisst wohl kaum etwas Gutes. Jedenfalls hat Netflix bereits für eine Serie angebissen.
KJM Buchverlag, 2020, 328 S.
Martin Walker: Französisches Roulette
Martin Walker ist ein fleissiger Schriftsteller. Dieses ist sein 13. Buch, das auf Deutsch erschienen ist. Walker verbringt die Hälfte seiner Zeit im idyllischen Périgord, wo allerdings öfters blutige Geschichten passieren. Alle Flurnamen stimmen, nur das Städtchen Saint Denis ist fiktiv. Hier wirkt Bruno, Chef de Police, Kriegsheld und ein begnadeter Koch. Der Autor verwebt wie immer auch hier aktuelle Probleme mit Zeitgeschichte und auch mit etwas Musik. In diesem Krimi ziehen elegante Kriminelle mit der Hilfe weiblicher Lockvögelchen alten Bauern das Ersparte aus der Tasche, im Tausch gegen einen angeblichen Luxus-Alterssitz. Das kann Bruno nicht ungesühnt lassen. Amüsant, hoch spannend und nicht nur kulinarisch lehrreich.
Diogenes Verlag, 2021, 400 S.
- REINHARD MEIER EMPFIEHLT
Jonathan Franzen: Crossroads
«Auf den neuen Roman des US-amerikanischen Schriftstellers hat die Welt gewartet», schrieb ein deutschsprachiger Kritiker. Das mag allzu euphorisch klingen. Aber wer frühere Romane von Jonathan Franzen wie «Die Korrekturen» oder «Freedom» gelesen hat, wird nach der Lektüre seines neuesten Werkes, einem Wälzer von wiederum über 800 Seiten, wohl zustimmen. Franzen ist ein begnadeter Erzähler, der den Leser mit magischer Brillanz in den Bann seiner Familiengeschichte hineinzieht. In «Crossroads» geht es um die Familie des Pfarrers Russ Hildebrandt, die in den 1970er Jahren in Chicago lebt. Russ hat in seiner Gemeinde bei jungen Leuten wenig Erfolg, seine Ehe ist erkaltet und er sehnt sich nach erotischer Nähe zu einer attraktiven Witwe. Seine heranwachsenden Kinder sind wie der Vater beherrscht von der Suche nach Gott und dem Guten, geraten aber dabei auf abgründige Irrwege. «Crossroads» ist laut dem Autor der erste Teil einer geplanten Trilogie, für die er den Übertitel «A Key to all Mythologies» gewählt hat. Das ist ein Zitat aus «Middlemarch» von George Eliot, einem der grossartigsten Romane der englischen Literatur. Nicht ohne Grund knüpft Jonathan Franzen in seiner hintergründigen Anspielung an diese meisterhafte Tradition an.
Rowohlt-Verlag, 2021, 832 S.
Ayad Akhtar: Homeland Elegien
Auch dieser Roman erzählt lebensprall von gesellschaftlichen und individuellen Realitäten im heutigen Amerika und ihren Hintergründen. Doch im Vergleich zum oben erwähnten Buch von Jonathan Franzen handeln Ayad Akhtars Geschichten in einem ganz andern Milieu und er schildert die Wirklichkeit aus einer radikal konträren Perspektive. Akhtar ist der Sohn pakistanischer Einwanderer. Er glaubt zunächst wie sein Vater, dass die USA das beste und fortschrittlichste Land der Welt sei. Vor allem nach den Terroranschlägen von 9/11 nimmt er die Zerrissenheit des Landes, die Ressentiments zwischen den gesellschaftlichen und ethischen Schichten schärfer war. Dem Leser wird das fulminante Geschehen zwar als autobiographischer Bericht dargestellt, doch im Vorwort hält der Autor selber fest, dass Fakten und Fiktionen ineinanderfliessen. Zu den spannendsten Handlungssträngen gehört der Bezug seines Vaters zu Donald Trump, den er als erfolgreicher Kardiologe behandelt haben soll. Erfrischend reduziert Akhtar seine scharfsichtigen Auseinandersetzungen mit Rassismus, Geldgier und sozialer Heuchelei keineswegs nur auf die weisse Ober- und Mittelschicht. Er seziert sie auch im eigenen und andern Milieus. Das macht die Lektüre seines Buches umso spannender und glaubwürdiger.
Claassen, 2020, 464 S.
Daniela Kuhn: Mit Dir, Ima
«Was ich mit meiner Mutter erlebt habe und noch immer erlebe, verstehen nur ganz wenige meiner Freunde», schreibt die freie Journalistin Daniela Kuhn in ihrem Buch. Wahrscheinlich steckt in diesem Satz eines der Motive, weshalb sie diesen autobiographischen Bericht über ihre Mutter und ihre eigene schwierige, unstabile und oft schmerzhafte Beziehung zu ihr geschrieben hat. Die 1935 geborene Mutter ist in Israel in einer aus dem Irak eingewanderten jüdischen Familie aufgewachsen. Sie heiratet einen nichtjüdischen Schweizer, den sie in Israel getroffen hat und zieht nach Zürich. Immer wieder kommt es zu Ausbrüchen einer psychischen Krankheit, sie muss in Kliniken eingewiesen worden, was die kleine Familie schwer belastet. Das eigentliche Motiv für diese Erzählung aber ist offenbar das Bedürfnis der Autorin, die Verstrickungen ihrer eigenen Existenz mit dem Leben ihrer Mutter tiefer auszuleuchten und so vielleicht eine tragfähigere Balance zu finden. Die letzten Seiten des Buches deuten eine solche Entwicklung an. In einigen Punkten rufen diese Aufzeichnungen Erinnerungen wach an den bewegenden autobiographischen Roman «Eine Geschichte von Liebe und Finsternis» des israelischen Schriftstellers Amos Oz.
Limmat Verlag, 2021, 250 S.
- ROLAND JEANNERET EMPFIEHLT
Thomas Bornhauser: Belpmoos
Im seinem siebten Kriminalroman kommt Thomas Bornhauser gleich zur Sache: In einer Waldlichtung ganz in der Nähe des Berner Flughafens «Belpmoos» entdeckt ein Passant ein abgestelltes Auto, drinnen und in der Umgebung drei Leichen. Reiner Zufall oder hatte das mit dem angrenzenden Flugplatz einen Zusammenhang? Für Dezernatschef «Leib&Leben», Joseph Ritter, kein einfacher Fall. Kommt dazu, dass Autor Bornhauser vor einiger Zeit an einer Sitzung teilnahm, wo über Ausbau oder Beschränkung des defizitären Flugbetriebs diskutiert wurde. Diese Frage interessierte mindestens ebenso stark eine Schmugglerbande, die vom Belpmoos aus ihre dunkeln Geschäfte betreibt ... Oftmals wird Bornhauser etwas ausschweifend – erstmals informiert er den Schnellleser, er könne die Seiten 14 bis 18 respektive 79 bis 86 auch überspringen, ohne etwas zu verpassen ...
Weber Verlag, 2021, 248 S.
Fritz von Gunten: O du fröhliche – Prosit Neujahr
«Im Jahreskalender gibt es kaum einen Zeitabschnitt, der mit soviel Brauchtum und Traditionen «beladen» ist wie die Zeit zwischen dem 1. Dezember und den ersten Tagen im Januar», schreibt der Autor Fritz von Gunten, jahrelang Leiter der Kulturmühle Lützelflüh und seither selbständiger Berater für Öffentlichkeitsarbeit und Promoter für wirtschaftliche Entwicklung, Tourismus und kulturelle Tätigkeit im Emmental. Eines seiner Bücher widmete er ganz dem Thema von «O du fröhliche» bis zu «Prosit Neujahr». So erfahren wir auch, dass der Begriff «Advent» nicht nur «Ankunft» sondern auch «Erscheinung» bedeutete – Begriffe, die in unserem Vorweihnachtsrummel weitgehend verloren gegangen sind. Denn früher war die Zeit zwischen 11. November und 6. Januar gleichzeitig Fastenzeit. Freuden wie Eheschliessung, Fleischgenuss, Tanzen oder andere öffentliche Vergnügen waren streng verboten. Das Buch kann direkt beim Autor Fritz von Gunten, Balmerstrasse 8, 3006 Bern bestellt werden.
Walter Däpp: So alt wie hütt bin i no nie gsy ...
«Er ist so etwas wie ein literarischer Fotograf», schrieb Franz Hohler über Walter Däpp, den man als «gschpürigen» Journalisten und auch von seinen feinfühligen Morgengeschichten am Radio kennt … Man spürt es: Däpp liebt die Menschen und weiss sie zu porträtieren in ihrer echten Alltäglichkeit. Sei es der Knecht, der seinem Meister 52 Jahre «als Chnächt u Mälcher» die Treue gehalten hat. Bewundernswert, wie der Autor uns Alltägliches und Unspektakuläres nahe bringt: «Si isch füfesibezgi. U seit, ihres Läbe syg nüt Ussergwöhnlechs gsi. Sie heig eifach ihre schwärchrank Mah pflegt. Elf Jahr lang. Aber das machi Huffe anderi o ….». Und auch der Titel des Buches «So alt wie hü bini no nie gsy» ist authentisch: Das sagte ein 108-Jähriger, der in jungen Jahren als Verdingbub nichts als ausgenützt «u plaget» worden war. Die über hundert ernsten, heiteren und teils poetischen Geschichten sind in einer vereinfachten Mundart geschrieben, so dass sie auch von «Nichtbernern» problemlos gelesen werden können.
Zytglogge, 2021, 184 S.
- HEINER HUG EMPFIEHLT
Antonio Scurati: M. Mann mit Verheissung
Es ist dies Teil 2 der epischen Trilogie über den italienischen Faschismus. Sowohl der erste als auch jetzt der zweite Teil haben Italien aufgewühlt. Ziel des Autors ist es, einen Beitrag zu leisten, dass Mussolinis Faschismus nicht verharmlost wird, wie dies immer mehr geschieht. Der Starjournalist und Autor Roberto Saviano bezeichnet „M“ als das Buch, auf das Italien jahrzehntelang gewartet habe. Eigentlich ist das Werk, das die Zeit von 1925 bis 1932 beschreibt, ein Roman, doch es gründet auf Hunderten Originalquellen. Kein einziger Satz sei erfunden, sagt der Autor. Eindrücklich beschreibt Scurati zum Beispiel, wie sich liberale Politiker, Monarchisten – und natürlich die Kirche – Mussolini anbiederten und sich ihm unterwarfen.
Klett-Cotta Verlag, 2021, 640 S.
Vincent O. Carter: Meine weisse Stadt und ich
Alle starrten ihn an: Männer, Frauen und Kinder. Sogar Hunde und Katzen. Die englische Originalversion des Buches ist über 50 Jahre alt; jetzt erschien es auf Deutsch. Vincent Carter, während des Krieges GI, bezeichnete sich als «The first Negro in Town», der erste Schwarze in Bern. Eigentlich wollte er nur Freunde besuchen, die auf der amerikanischen Botschaft arbeiteten. Er blieb dann 30 Jahr in Bern. In seinem «Bern Buch» beschreibt er auf fast fröhliche Art die aus heutiger Sicht unglaublichen Reaktionen der Bevölkerung einem Schwarzen gegenüber. Er galt als die Inkarnation des Fremden, und davor fürchtete man sich. Er hatte Mühe, ein Zimmer zu finden, man sagte ihm, er solle doch Bananen verkaufen. Trotzdem blieb er 30 Jahre lang bis zu seinem Tod in der Bundeshauptstadt. Er wurde Englischlehrer und bei Radio Bern präsentierte er schwarze Musik. Und er sprach Berndeutsch.
Limmat Verlag, 2021, 440 S.
Bob Woodward, Robert Costa: Peril (englische Ausgabe)
Das Buch ist eine Wucht. Bob Woodward, der Watergate-Enthüller, kann es noch immer. «Peril» ist eine erschütternde Abrechnung mit Donald Trump. Es beschreibt auf schreckliche Art, wie der abgewählte Präsident in den letzten Tagen seiner Präsidentschaft wütete. «Trump verhielt sich wie ein Sechsjähriger nach einem Wutanfall». Viele fürchteten, er würde Atomwaffen einsetzen. General Milley, der oberste US-Militär, bezeichnete Trump als «verrückt». Er tat alles, um einen Putsch anzuzetteln, der ihn wieder an die Macht bringen sollte. Woodward, der das Buch zusammen mit dem «Washington Post»-Journalisten Robert Costa geschrieben hat, erwartet nichts Gutes. Er hält es für durchaus möglich, dass Trump in drei Jahren erneut Präsident wird. Dann, so sind die Autoren überzeugt, würde er sich rächen und um sich schlagen. Die amerikanische Demokratie sei dann ernsthaft in Gefahr. Den Demokraten werfen die Autoren vor, dass sie nicht geeint gegen Trump Front machen. Das Buch erscheint im Januar unter dem Titel «Gefahr» auf Deutsch.
Simon & Schuster UK, 2021, 428 S.
UND ZUM SCHLUSS NOCH DIES
Peter Bichsel: Im Winter muss etwas mit den Bananenbäumen geschehen
«Geschichten für die kalte Jahreszeit» heisst der Untertitel dieses Büchleins. Es sind keine neuen Texte von Peter Bichsel, die uns die Verlegerin hier präsentiert: Es sind Kleinode aus früheren Zeiten, die schon da und dort erschienen sind und jetzt neu zusammengefasst wurden. Einige der Erzählungen sind nur wenige Seiten lang. Bichsel verblüfft immer wieder mit seiner wunderbaren, einfachen, unspektakulären, präzisen Sprache. Könnten doch alles Autoren so schreiben wie er. Das Büchlein ist eine Sammlung fröhlicher «Bettmümpfeli» für die Weihnachtszeit.
Insel Verlag, 2021, Taschenbuch, 117 S.