- URS MEIER EMPFIEHLT
Colson Whitehead: Die Nickel Boys, Roman
Der begabte schwarze Junge Elwood gerät unschuldig in die Hölle des Jugendgefängnisses „Nickel“, in der er knapp überlebt. Er flieht mit seinem Freund, doch nur der mit allen Wassern gewaschene Turner entkommt. Dieser nimmt, damit er nicht gesucht werden kann, Elwoods Identität an und zieht von Florida nach New York. Jahre später – das Nickel ist längst aufgelassen – beginnen Studenten und Ehemalige mit der Aufarbeitung des Horrors. Whitehead stützt seine Erzählung auf die Tatsache dieser Enthüllungen. Entstanden ist ein erschütternder Roman über den amerikanischen Rassismus.
Hanser Verlag 2019, 223 S.
Stephan Landis: Anderswohin. 13 Dienstreisen durch die Bibel
Predigten – aber was für welche! Stephan Landis liest die Bibel als Literatur und lässt sich dabei von keinerlei Dogmen oder Traditionen Fesseln anlegen. Das meist pejorative Schlagwort „Religion light“ begrüsst er, da Religion allzu lange schwer und belastend gewesen sei: „Eine menschenfeindliche Religion müssen wir uns nicht antun. Dann lieber gar keine.“ Landis ist kein Provokateur, sondern einfach ein genauer Leser, der an Shakespeare und Hesiod geschult ist. Von der Dichterin Emily Dickinson leiht er sich die Verszeile „I dwell in possibility“ (Ich wohne im Möglichen), um sein freiheitliches Verständnis von Glauben zu skizzieren.
TVZ 2019, 104 S.
Nora Bossong: Schutzzone, Roman
Mira ist als Uno-Diplomatin an der Aufarbeitung des Völkermords in Ruanda beteiligt. Doch die politischen und humanitären Belange bleiben im Hintergrund. Nora Bossong interessiert sich für das, was sich in ihrer Exponentin abspielt: Kindheitserinnerungen, eine ungelebte Liebe, der problematische Status als offizielle Funktionärin in Afrika, die wachsenden Zweifel am Sinn der diplomatischen Aktionen. Der Roman spielt in Miras Kopf. Sie kann ihre berufliche Rolle nie trennen vom subjektiven Erleben. Dadurch begegnet sie dem Zwiespalt zwischen deklarierter und tatsächlicher Rolle der Uno gegenüber dem Genozid mit schmerzhaft geschärfter Wahrnehmung.
Suhrkamp Verlag 2019, 335 S.
- STEPHAN WEHOWSKY EMPFIEHLT
Rétif de la Bretonne: „Die Nächte von Paris“
Der Übersetzer Reinhard Kaiser hat einen Text ausgegraben und übersetzt, der schon bei Goethe und Schiller helles Entzücken ausgelöst hat. Das Buch besteht aus Eintragungen, die der Schreiner Rétif de la Bretonne über mehrere Jahre nach seinen nächtlichen Wanderungen durch Paris vor und während der Revolution von 1789 angefertigt hat. Er schildert plastisch das damalige Grossstadtleben, beklagt Missstände und später die Exzesse der aufgeputschten Massen. Es gibt kaum eine bessere Nahaufnahme.
Hrsg. und aus dem Französischen von Reinhard Kaiser. Galiani Verlag, Berlin 2019, 528 S.
Jules Verne: Reise um die Welt in 80 Tagen
Mit grossem Witz und stilistischer Brillanz nimmt Jules Verne die Spleens und Ticks seines Weltreisenden Phileas Fogg aufs Korn. Bis heute hat dieser Klassiker, der als das populärste Buch Jules Vernes gilt und in diesem Jahr neu aufgelegt worden ist, nichts an Frische eingebüsst und ist nach wie vor spannend. Nebenbei erlebt der Leser die Faszination der sich stetig verbessernden Technik der modernen Transportmittel und der damals schon möglichen präzisen Abstimmung von internationalen Fahrplänen.
Europäischer Literaturverlag, 2019, 168 S.
- REINHARD MEIER EMPFIEHLT
Michail Schischkin: Ein Buchstabe auf Schnee
Der in der Schweiz lebende russische Schriftsteller Michail Schischkin hat in diesem schmalen Band drei wundervolle Essays über drei grosse Dichter vereint: Robert Walser, James Joyce und Wladimir Scharow. Gemeinsam ist diesen Autoren, dass sie zu Lebzeiten nur von wenigen Kennern geschätzt und erst nach ihrem Tod als grosse Schriftsteller anerkannt wurden. Das wird, davon ist Schischkin überzeugt, auch für seinen verstorbenen Freund Scharow so in Erfüllung gehen, obwohl dieser im deutschsprachigen Raum noch ganz unbekannt ist. Der Titel des Buches bezieht sich auf Walsers Tod im Schnee auf einem weihnachtlichen Spaziergang während seines 23-jährigen Aufenthaltes in der psychiatrischen Anstalt in Herisau, wo er keine Zeile mehr geschrieben hat. Alle drei Essays vermitteln bewegende Einblicke in die Biographien dieser Dichter und die Seele ihres Werks.
Verlag Petit Lucelle, 2019, 127 S.
Hansjörg Schneider: Kind der Aare
Hansjörg Schneider, blickt als 80-Jähriger zurück auf sein Leben als Jugendlicher in Zofingen und Aarau, als Student in Basel, als Journalist und Schriftsteller. Mit seinem Theaterstück Sennentuntschi und den Hunkeler-Krimis hat er bedeutende Erfolge erzielt. Er erzählt sehr persönlich von seinen Jugendjahren in der aargauischen Provinz, von seinem prügelnden Vater, seiner früh verstorbenen Mutter und von den Büchern, die er als Jugendlicher bei seiner Tante Hanna gelesen hatte. Karl Mays Winnetou I hat der Autor noch heute in seinem Bücherregal stehen. Die Lektüre darin hilft ihm regelmässig über seine November-Depressionen hinweg. Weil der Autor, wie er meint, die Verführungen der Alterseitelkeit kennt, schreibt er nur kurz über diesen Teil seines Lebens. Er liest heute am liebsten Autobiographien. Schneiders eigener Beitrag zu dieser Gattung bietet dem an der Schweizer Literaturszene und ihren regionalen Verwurzelungen Interessierten ein anregendes Lektüre-Erlebnis.
Diogenes, 2019, 352 S.
Gottfried Keller: Spiegel das Kätzchen
Zum Abschluss des 200. Geburtstagsjahres von Gottfried Keller macht es Sinn, eine reizende Geschichte des grossen Zürcher Dichters zu schenken – jedenfalls an solche Empfänger, die vielleicht nicht schon dessen gesammelte Werke im Regal stehen haben. Das Werk zählt zur Novellensammlung „Die Leute von Seldwyla“. Wir haben es mit einem Märchen zu tun, wie es im Untertitel heisst. Der Kater Spiegel, so genannt wegen seines „glatten und glänzenden Pelzes“, schliesst, nachdem seine Herrin gestorben ist, mit dem Seldwyler Stadthexenmeister Pineiss einen Vertrag: Der Hexenmeister verpflichtet sich, Spiegel üppig zu füttern. Im Gegenzug muss der Kater einwilligen, sich schlachten zu lassen, wenn er dick genug ist, damit Pineiss sein Fett bekommt, das er für seine Hexerei braucht. Aber der schlaue Kater windet sich heraus und am Ende ist Pineiss der Angeschmierte. Wie das eingefädelt wird, soll hier, um dem köstlichen Lesevergnügen nicht vorzugreifen, nicht näher ausgebreitet werden.
Reclam, 72 S.
- KLARA OBERMÜLLER EMPFIEHLT
Kaspar Wolfensberger: Gommer Herbst
Erst war der Sommer dran, dann der Winter und nun also der Herbst: Kaspar Wolfensberger hat seine Walliser Krimireihe den vier Jahreszeiten zugeordnet und so für jeden Band eine ganz eigene Atmosphäre geschaffen. Im soeben erschienen „Gommer Herbst“ ist es die Jagd, die den Rahmen abgibt für eine Geschichte, die weit über Mord und Verbrecherjagd hinausgeht. Der Zürcher Psychiater, der seit Jahren seine Ferien im Goms verbringt, hat einen scharfen Blick für Charaktere und soziale Verhältnisse. Er kennt die wechselvolle, von Armut und Auswanderung geprägte Geschichte des Tals, er weiss um die Spannungen zwischen Ober- und Unterwallis, und er ist vertraut mit den leidenschaftlich ausgetragenen Fehden, die Themen wie etwa der Wolf in der Gegend auslösen können. Aus diesen Elementen baut er seine Kriminalromane, die nicht nur äusserst anregend zu lesen sind, sondern darüber hinaus auch tiefe Einblicke in die Walliser Volksseele gewähren. Der „Gommer Herbst“ ist der bisher komplexeste und farbigste Teil der Tetralogie, die jetzt nur noch mit dem Frühling ergänzt zu werden braucht.
Bilgerverlag, Zürich 2019, 480 S.
Eugen Ruge: Metropol
Acht Jahre nach seinem Erfolgsroman „Tage des abnehmenden Lichts“ kehrt Eugen Ruge noch einmal zu seiner Familiengeschichte zurück: zu seinen Grosseltern diesmal, deren Schicksal im vorangehenden Buch nur angedeutet worden ist. Es ist die Geschichte zweier deutscher Kommunisten, die vor den Nazis in die Sowjetunion fliehen und dort als Mitglieder der Komintern nachrichtendienstlich tätig sind, bis sie im Zuge des stalinistischen Terrors in Ungnade fallen und im berühmten Hotel Metropol einer ungewissen Zukunft entgegensehen. Um das Buch schreiben zu können, ist der Autor tief in ehemals sowjetische Archive hinabgestiegen und hat neben harten Fakten so viel Atmosphärisches zutage gefördert, dass man sich beim Lesen selbst in jene beklemmende Zeit zurückversetzt fühlt, in der jeder jeden verdächtigte und niemand vor Stalins Schergen sicher war. Ruges neuer Roman „Metropol“ ist ein politisches Lehrstück über die Verführbarkeit des Menschen und seine erstaunliche Bereitschaft, an einem Glauben festzuhalten der sich längst selbst desavouiert hat.
Rowohlt, Hamburg 2019, 432 S.
Kazuo Ishiguro: Was vom Tage übrig bleibt
Der Roman „The Remains of the Day“ – von James Ivory mit Anthony Hopkins und Emma Thompson in den Hauptrollen meisterhaft verfilmt – ist das Werk eines britischen Autors mit japanischen Wurzeln, der 1989 dafür den Booker-Preis erhalten hat und 2016 mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnet worden ist. Obwohl in England aufgewachsen, verfügt Kazuo Ishiguro als gebürtiger Japaner über jenen fremden Blick, der die Schwächen der Einheimischen durchschaut und scheinbar vertraute Verhältnisse in ihrer ganzen Brüchigkeit entlarvt. Ishiguros England der Zwischenkriegszeit ist eine Welt des Klassendünkels, der starren Etikette und der politischen Selbstüberschätzung. Seine Figuren, allen voran der Butler Stevens und die Haushälterin Miss Kenton, sind Gefangene überholter Verhaltensregeln, die sie Gefühle unterdrücken und Loyalität auch dort an den Tag legen lassen, wo dies längst nicht mehr angebracht ist. Mit dem Roman „Was vom Tage übrig bleibt“ hat Ishiguro eine hochbrisante Gesellschaftsanalyse und zugleich bitter-süsse Liebesgeschichte vorgelegt, deren Lektüre für dunkle Wintertage bestens geeignet ist.
Heyne TB, München 2016, 288 S.
- CHRISTOPH KUHN EMPFIEHLT
Horst Krüger: Das zerbrochene Haus
Horst Krüger (1919–1999), deutscher Journalist und Autor, hat sich 1966 unter dem Titel „Das zerbrochene Haus“ an seine Jugend im nationalsozialistischen Deutschland erinnert. Das packende Dokument hat Krügers Freund und Kollege Martin Mosebach jetzt neu herausgegeben und mit einem klugen Nachwort versehen. Im idyllischen kleinen Ort Eichkamp, ausserhalb Berlins gelegen, ist Krüger aufgewachsen. In einer schnörkellosen Sprache gelingt es ihm, die Realität zu schildern, wie sie das Kleinbürgertum unter Hitler wahrnahm und erlebte.„Ich bin ein typischer Sohn jener harmlosen Deutschen, die niemals Nazis waren und ohne die die Nazis doch niemals ihr Werk hätten tun können“ – so lautet einer der Schlüsselsätze des Buches.
Schöffling & Co. Verlag, 2019, 216 S.
Rüdiger Safranski: Hölderlin
Seine hymnischen Gedichte gehören zum Grossartigsten, auch zum Schwierigsten und Geheimnisvollsten, was in deutscher Sprache an Lyrik je geschaffen wurde. Sich an Friedrich Hölderlin zu wagen, braucht Mut und birgt Risiken. Der Philosoph und Verfasser zahlreicher Biografien (Goethe, Schiller, Schopenhauer, Nietzsche, Heidegger hat er sich vorgenommen) Rüdiger Safranski bringt den Mut auf und scheut auch die Risiken nicht, wenn er Hölderlins Verse interpretiert und mit den Lebensumständen des ruhelosen Einzelgängers, der sein halbes Leben als psychisch Kranker in einem Tübinger Turmzimmer verbrachte, kombiniert. Kenntnisreich und sehr anschaulich wird den turbulenten Lebenswegen und Lebensbedingungen Hölderlins nachgegangen. Gespiegelt wird die Biografie des Dichters in den von der französischen Revolution initiierten stürmischen Zeitläuften.
Hanser Verlag, 2019, 400 S.
Charles Racine: Lichtbruch / Bris de lumière
Man konnte ihm ab den Sechzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts im Zürcher Niederdorf begegnen, mit ihm ein paar Gläschen leeren und wilde Gespräche über Gott und die Welt und die Literatur führen. Dass der Jurassier Charles Racine (1927–1995) damals schon im Begriff war, einer der bedeutendsten Lyriker der Schweiz zu werden, wussten wir, seine gelegentlichen Trinkkumpane, nicht. Paris, wo er sich oft aufhielt, hat ihn erkannt, in Frankreich hat er publiziert, dort wurde er auch mehrfach ausgezeichnet. Im Limmat Verlag ist jetzt eine Auswahl seiner Gedichte erschienen, aus dem Französischen übersetzt von Felix Philipp Ingold mit einem Nachwort von Gudrun Racine. „Lichtbruch / Bris de lumière“ heisst das Buch – ein edles Weihnachtsgeschenk! Racine schreibt Gedankenlyrik, vollbringt waghalsige verbale Akrobatenakte und lädt Leser und Leserin zum Mit- oder Weiterdenken ein. Ingold findet die richtigen Worte, um den Zauber von Racines Gedichten auch im Deutschen nachwirken zu lassen.
Limmat Verlag, 2019, 200 S.
- GISELA BLAU EMPFIEHLT
Balz Spörri, René Staubli, Benno Tuchschmid: Die Schweizer KZ-Häftlinge. Vergessene Opfer des Dritten Reichs
Das Buch des Jahres für alle, die sich für Schweizer Zeitgeschichte interessieren. Drei Journalisten recherchierten vier Jahre die haarsträubenden Geschichten von mindestens 391 Schweizer Bürgerinnen und Bürgern, die 1933 bis 1945 vom NS-Terrorregime an ihren Wohnorten in deutsch besetzten Ländern verhaftet und in KZs deportiert wurden. 200 überlebten die Torturen nicht. Sie waren Widerstandskämpfer, Juden, Sozialisten, Sinti und Roma. Das gleiche Schicksal erlitten 330 Personen, die ohne roten Pass in der Scheiz geboren und meist hier aufgewachsen waren. 250 von ihnen verloren in KZs ihr Leben. Die Autoren verurteilen klar den damaligen Bundesrat, der nichts oder zu wenig tat, um die Landsleute zu retten. Aktuell ist eine Gedenkstätte für diese bis jetzt vergessenen Opfer im Gespräch. Dieses Buch setzt ihnen ein erstes Denkmal.
Verlag NZZ Libro, 2019, 320 S.
Frederick Forsyth: Der Fuchs
Er kann es immer noch, der alte Fuchs. Forsyth ist 81 und behauptet, „Der Fuchs“ sei sein letzter Thriller. Es ist ein anderes Tier als „Der Schakal“ von 1972. Sein Protagonist ist diesmal kein gewiefter Auftragskiller, sondern ein 18-jähriger Autist in England, der sich digitalen Einlass in die versiegeltsten Datenbanken von Geheimdiensten verschafft – nur um zu zeigen, dass diese fehlerhaft geschützt sind. Das Buch beginnt gleich mit einem Team lautloser Special Forces, die statt eines Spionagerings einen schüchternen Jungen finden. Spannend und beängstigend aktuell.
Verlag C. Bertelsmann, 2019, 320 S.
- IGNAZ STAUB EMPFIEHLT
Lauren Walsh: Conversations on Conflict Photograpy
An professionellen Bildern aus Kriegen und Konflikten mangelt es nicht. Besonders guten Aufnahmen mag es gelingen, uns aufzurütteln, durchschnittliche Fotografien lassen uns, abgestumpft und gesättigt wie wir sind, eher kalt. Als zeitgeschichtliche Dokumente aber sind sie alle wichtig, auch wenn ihnen im Zeitalter sozialer Medien seitens von Bildern Direktbetroffener zunehmend Konkurrenz erwächst. In Gesprächen mit Fotojournalisten, Bildredaktoren und humanitären Helfern will Lauren Walsh ergründen, was genau Aufgabe und Funktion moderner Konfliktfotografie heute sind.
Bloombury Visual Arts, London 2019, 345 S.
Matt Taibbi: Hate Inc.
Den Buchumschlag zieren die Köpfe von Rachel Maddow (MSNBC) und Sean Hannity (Fox News). Beide Fernsehmoderatoren, sie von links und er von rechts, pflegen ihr Publikum in der Meinung zu bestärken, die je andere Seite Amerikas sei des Teufels. Grautöne sind ihnen fremd. Für Matt Taibbi, den erfahrenen Reporter des „Rolling Stone“, sind Maddow und Hannity typische Vertreter jener nach Auflagen und Klicks gierenden Medien, die „uns gegenseitig verachten lassen“. Taibbis scharfe Gesellschaftskritik verschont niemanden, weder Journalisten noch Politiker, weder Demokraten noch Republikaner – und auch nicht sich selbst.
OR Books, New York 2019, 294 S.
John Le Carré: Agent Running In The Field
Nach wie vor hat der britische Autor den Finger am Puls der Zeit – seinen 88 Jahren zum Trotz. Nach dem Ende des Kalten Krieges von einigen Kritikern totgesagt, findet John Le Carré stets zielsicher neue Bühnen, auf denen seine treffend gezeichneten Akteure ihre Rollen spielen, häufig als Toren, selten als Helden. Hintergrund der Handlung, die im Umfeld des Secret Intelligence Service in London spielt, sind das Erstarken Russlands, der Brexit und die Präsidentschaft Donald Trumps – Phänomene, denen der Autor, ein engagierter Europäer, mit Skepsis oder Verachtung begegnet.
VIKING, London 2019, 282 S.
- HEINER HUG EMPFIEHLT
Edward Carey: Das aussergewöhnliche Leben eines Dienstmädchens namens PETITE, besser bekannt als Madame Tussaud
Vor und während und nach der Französischen Revolution fielen in Paris die Köpfe. Viele der Enthaupteten erlebten später eine Renaissance – als Wachsfiguren: so Ludwig XVI., Marie Antoinette, Danton und Robespierre. Das Buch erzählt auf charmante, manchmal schräge Art das Leben der wohl berühmtesten Wachsbildnerin: Maria Grosholtz, der späteren Madame Tussaud. Gelernt hatte die Elsässerin ihr Metier in Bern bei einem Arzt, der als Anschauungsunterricht menschliche Organe aus Wachs herstellte. Später gelangte Madame Tussaud nach Paris, wo sie Politiker, Könige, Adlige, Philosophen und Gangster modellierte. Ein fröhliches Buch.
Roman, C.H. Beck, 2019, 492 S.
Johannes Willms: Der General. Charles de Gaulle und sein Jahrhundert
Für die älteren Franzosen ist de Gaulle nach wie vor ein Held, ein Retter. Die Jüngeren sehen ihn kritischer: Ein Egomane, ein Pfau, der wenig von Demokratie hält. Der „Gaullismus“ ist für viele fast schon ein Schimpfwort. Der deutsche Historiker Johannes Willms lässt sich weder von de Gaulles Bewunderern noch von seinen Kritikern vereinnahmen. Er zeichnet einen eigensinnigen Menschen, der sich für einen der ganz Grossen hielt, der tragisch endete und erkennen musste, dass die Grandeur der „Grande Nation“ verblasste. Anderseits wird de Gaulle dargestellt als Figur, der die französische und europäische Nachkriegsgeschichte wesentlich mitprägte. Willms zerpflückt einige Heldengeschichten, die um „le général“ kreisen, ohne sein wichtiges Vermächtnis zu zerstören.
C.H. Beck, 2019, 640 S.
Marcel A. Boisard: Aventurier de l’humanitaire: Souvenirs d’un délégué du Comité international de la Croix-Rouge, au cours de dix ans dans le monde arabo-musulman
Der algerische Unabhängigkeitskrieg, der Bürgerkrieg in Jemen, der Sechstage-Krieg, der „Schwarze September“, der Jom-Kippur-Krieg: immer war er dabei und versuchte zu vermitteln, Menschen zu schützen, den Konflikt zu entspannen und verhandelte mit Spitzenpolitikern, Generälen, Königen, Ärzten und Kriegsverbrechern. Der Genfer Spitzendiplomat Marcel Boisard, Delegierter des IKRK, gehörte zu den wichtigsten Vermittlern in den blutigen Konflikten des Nahen Ostens. Boisard, später Unter-Generalsekretär der Uno (der drittwichtigste Posten in den Vereinten Nationen), berichtet in seinem Buch „Abenteurer des Humanitären“ (auf Französisch) von seinen aufregenden und oft abenteuerlichen Einsätzen.
Éditions du Panthéon Paris, 2019, 164 S.
- ROLAND JEANNERET EMPFIEHLT
Wienachtsgschichte von Klaus Schädelin bis Pedro Lenz
Es geht nicht um DIE Weihnachtsgeschichte, sondern um private Weihnachtgeschichten und die Mehrheit der 15 Autorinnen und Autoren sind uns bekannt. Die meisten von ihnen leben noch, aber der Cosmos-Verlag hat auch Erzählungen von bereits verstorbenen Promis aufgenommen. Ein Teil der Texte wurden auf Hochdeutsch geschrieben, andere erhalten einen heimeligen Charme durch die regionalen Mundart ihrer Schreibenden. Darunter Mundart-Schriftsteller Ernst Burren, Bühnenautor Guy Krneta, die frühere Radiomoderatorin Margrit Staub-Hadorn, Krimiautor Alexander Heimann, der Spokenworder Achim Parterre, der frühere Liedermacher Fritz Widmer, oder die im Titel erwähnten Klaus Schädelin oder Pedro Lenz – „der Goalie bin ig“. Weihnachtserlebnisse aller Art, gefreute und ärgerliche, lustige und eher traurige. „Zytlupe“-Stefanie Grobs Kindern gelingt es, in der heiligen Krippe Barbie und Donald Duck zu integrieren. Andere verbringen eher ungeplant ihr Weihnachtsfest auf Bahnhofperron 2 im Wartehäuschen…
Cosmos Verlag, 2016/2019, 143 S.
Adriana Popescu: Goldene Zeiten im Gepäck
Lange Zeit bleibt der Deal unbemerkt: Karla, die Pflegehelferin im Altersheim, handelt zwischendurch mit selbstangepflanztem Hanf. Die rüstige Insassin Frau Kaiser kommt ihr mit der Zeit auf die Schliche. Sie verpetzt zwar Karla nicht, aber sie erpresst sie: Sie soll Frau Kaiser mit einem alten Renault einmal quer durch Ost-Europa fahren. So bleibt der Pflegerin nichts mehr anderes, als Urlaub einzureichen und die verschlagene Alte mit auf eine abenteuerliche Reise zu nehmen. Doch es ist nicht bloss Abenteuerlust von Frau Kaiser, die sie antreibt. Seit langem hat sie nämlich etwas Wichtiges zu erledigen – jetzt bietet sich endlich die Gelegenheit dazu. Ein warmherziger Frauenroman mit viel Herz und Humor, der filmreif sein könnte…
Piper-Verlag, 2019, 512 S.
Frida Skybäck: Die kleine Buchhandlung am Ufer der Themse
Charlotte, eine junge, erst kürzlich verwitwete Frau, vernimmt, dass sie von einer entfernt verwandten Tante in London eine Buchhandlung geerbt hat. Kurz entschlossen fliegt sie nach England mit der Absicht, das Haus zu verkaufen. Aber auf sonderbare Weise fühlt sie sich plötzlich mit diesem Laden eng verbunden – genauso wie mit den beiden warmherzigen Mitarbeiterinnen, dem Kater Tennyson und dem Schriftsteller William. Doch gleichzeitig muss sie versuchen, das fast bankrotte Geschäft zu retten. Dabei stößt sie auf Widersprüche und Rätsel: Warum hat sie ihre Tante Sara nie getroffen, warum hat ihre Mutter nie von ihrer Vergangenheit erzählt? Und was ist das dunkle Geheimnis der beiden Schwestern?
Insel Verlag, 2019, 534 S.
(J21)