Welche Bücher möchten Sie schenken, welche möchten Sie selber lesen? Autorinnen und Autoren von Journal21.ch empfehlen Ihnen mehrere Werke.
- STEPHAN WEHOWSKY EMPFIEHLT
Steve McCurry: Devotion. Hingabe
Gerade rechtzeitig vor Weihnachten ist ein geradezu spiritueller Band erschienen. Steve McCurry berührt mit seinen Bildern eines der wichtigsten Geheimnisse des Menschen: die Hingabe. Wir denken zunächst an die Religion, aber Steve McCurry spannt den Bogen viel weiter. Hingabe ereignet sich auch dort, wo sich der Mensch ganz einer Aufgabe widmet. Oder einer Begegnung. Dann ist er ganz bei sich. McCurry hat die Gabe, mit seiner Kamera den Menschen ganz nahe zu kommen, ohne zudringlich zu sein. Seine Bilder entstanden in mehreren Jahrzehnten auf seinen zahlreichen Reisen.Der Verlag hat seine eindringlichen Bilder hervorragend reproduziert und mit kurzen meditativen Texten versehen.
Prestel Verlag, München 2023, 208 Seiten, 150 farbige Abbildungen
Guy de Maupassant: Claire de Lune
In der menschlichen Seele lauern auch Abgründe. Ihnen entsteigen Gespenster, die dann von aussen zu kommen scheinen. So entsteht das pure Grauen. Oder das pure Glück. In der ersten Geschichte geht es um ein Liebeserlebnis im Zeichen des Mondlichts am Vierwaldstättersee. Und in einer anderen Geschichte versinken alle Gewissheiten des Alltags in der damals noch neuen Hypnose. Das Wunderbare an diesen und den anderen Geschichten von Guy de Maupassant liegt nicht nur in der Sprache, die auch dank der Übersetzer vom Steidl Verlag betörend ist. Es liegt auch darin, dass uns in etwas altmodischer Manier Geschichten erzählt werden, die man am besten ganz allein in einer langen Mondnacht liest.
Steidl Nocturnes, Göttingen 2023, 128 Seiten
«DDR-Alltag in 200 Objekten». Aus der Sammlung des DDR Museums
Bis heute klagen ehemalige Ostdeutsche über seelische Verletzungen aufgrund der mangelnden Wertschätzung seitens des Westens. Der Band aus dem Alltag der DDR könnte eine ganz andere, allerdings erst zart entwickelte Wahrnehmung zum Ausdruck bringen: Könnte es sein, dass heute einige der damals von westlicher Seite gnadenlos belächelten Produkte der DDR Gefühle der Nostalgie wecken? Beim Blättern durch diesen Band stellen sich solche Gefühle ein. Der Osten liebte und reparierte seine Produkte, während der Westen seine nicht schnell genug veralten und verrotten lassen konnte. Aber es springen auch skurrile Waren ins Auge wie zum Beispiel der «Kunsthonig Elbdom», dessen Dose Schlimmes ahnen lässt.
DDR Museums Verlag, Berlin 2023, 256 Seiten
- URS MEIER EMPFIEHLT
Iris Bruderer-Oswald: Der innere Klang der Kunst. Wilhelm Wartmann und das Kunsthaus Zürich
Der erste Direktor des Kunsthauses Zürich hat in seinem von 1909 bis 1949 dauernden Wirken die Fundamente gelegt, auf denen das Museum Weltgeltung erlangt hat. Diesem Wilhelm Wartmann, dem leidenschaftlichen Kunsthistoriker und begabten Kulturmanager, widmet Iris Bruderer eine materialreiche und anschauliche Monographie. Die im damals provinziellen Zürich erkämpfte Öffnung für die selbst bei Kunstinteressierten abgelehnte Moderne gehört ebenso zu Wartmanns Leistungen wie sein Geschick bei der Vermittlung zeitgenössischer Kunst an eine breite Öffentlichkeit. Heute ist es neben den notwendigen Auseinandersetzungen um die Sammlung Bührle angezeigt, auch die Erinnerung an diese Gründerfigur einer der wichtigsten Kulturinstitutionen der Schweiz wachzuhalten.
NZZ Libro, Zürich 2023, 431 Seiten
Richard Ford: Valentinstag, Roman
Ford-Leser konnten es kaum erwarten, dem ihnen aus mehreren Romanen bereits vertrauten Frank Bascombe erneut bei seinem durchaus normalen Leben zuzuschauen. Und beides ist wieder da: der unverwechselbare amerikanische Sound und die unverblümte Menschlichkeit, die Fords Figuren auszeichnet. Franks schwerkrankem Sohn Paul bleibt mit Ende vierzig nur noch eine kurze Spanne seines schon zuvor verkorksten Lebens. Zwischen den Spitalaufenthalten pflegt ihn der verwitwete und geschiedene Frank bei sich zuhause. Solche Nähe fällt den zwei kauzigen Männern nicht leicht, aber beide haben niemanden sonst. Als Pauls Ende naht, unternimmt Frank mit ihm rund um den Valentinstag eine letzte Reise: im Wohnmobil zum winterlichen Mount Rushmore, diesem Wallfahrtsort des US-amerikanischen Patriotismus. Aber nicht aus patriotischen Gründen, sondern um diesem Abschied eine Form zu geben, die keiner Sentimentalität verdächtig ist.
Hanser, München 2023, 383 Seiten
Karl Schlögel: American Matrix. Besichtigung einer Epoche
Schlögel, bekannt als Osteuropa-Historiker, ist auch ein langjähriger Kenner der USA. Er nutzt seine Vertrautheit mit Russland, um immer wieder den Blick auf die gegenseitige Faszination der beiden Riesen zu richten. Sein voluminöses Amerika-Buch ist klug aus einzeln lesbaren Kapiteln aufgebaut, in denen das amerikanische Jahrhundert neu gelesen werden kann. Schlögel folgt den Spuren der Amerikareisenden Alexis de Tocqueville und Max Weber, beschreibt identitätsstiftende technische Leistungen wie den Hoover Dam und die Brooklin Bridge, das Eisenbahn- sowie das Autobahnnetz, ergründet die nationale Bedeutung des Grand Canyon, zeigt die nachwirkende Geschichte der Sklaverei und den Genozid an der Urbevölkerung. Ebenso beschäftigt er sich mit Entwicklung und Niedergang der Malls, mit dem Nationalsport Baseball und den American Manners als wohltuender Praxis zivilen Verhaltens.
Hanser, München 2023, 831 Seiten
- KLARA OBERMÜLLER EMPFIEHLT
Anne Glenconner: Der Tote auf der Treppe
Wenn sich jemand mit den Gepflogenheiten des englischen Hochadels auskennt, dann sie: Anne Glenconner, älteste Tochter des 5. Earl of Leicester und bis zu deren Tod Hofdame von Princess Margaret, der Schwester von Königin Elisabeth II. Nach autobiografischen Berichten, die sowohl ihr Leben im Schatten der Krone als auch ihre triste Ehe an der Seite eines übergriffigen Ehemannes zum Thema hatten, entdeckte sie im zarten Alter von 90 Jahren das Genre des Kriminalromans. «Der Tote auf der Treppe» ist schon ihr zweiter Wurf. Angesiedelt auf eben jenem Schloss in Norfolk, auf dem sie ihre Kindheit und Jugend verbrachte, verbindet er verbrecherisches Tun mit adeliger Lebensweise, und dies so kenntnisreich und atmosphärisch dicht, dass man wünscht, die Autorin hätte schon viel früher mit dem Krimischreiben begonnen.
Rowohlt, Hamburg 2023, 400 Seiten
Hans von Trotha: Pollaks Arm
Wie man auf so knappem Raum einen solchen Reichtum an Ideen entfalten kann, das muss dem Historiker Hans von Trotha erst einer nachmachen. Sein auf historischen Fakten beruhender Roman über den jüdischen Antikenhändler Ludwig Pollak ist ein literarisches Kleinod. Ort der Handlung: ein Palast in Rom, Zeit: der Vorabend jenes 18. Oktobers 1943, an dem die Juden Roms in Richtung Auschwitz deportiert wurden. Wie in einer antiken Mauerschau berichtet Studienrat K. einem gewissen Monsignore F. von seinem vergeblichen Versuch, Pollak und seine Familie zur Flucht in den Vatikan zu bewegen. Statt sich und die Seinen in Sicherheit zu bringen, erzählt Pollak dem Fremden seine Lebensgeschichte, darunter auch jene Episode – der Fund des fehlenden Arms der Laokoon-Gruppe –, die dem Buch den Titel gegeben hat. Die alles entscheidende Frage aber, warum Pollak das lebensrettende Angebot des Vatikans ausschlug, löst der Roman nicht auf. Sie beschäftigt weit über das Ende der Lektüre hinaus.
Wagenbach, Berlin 2021, 144 Seiten
Paul Auster: Baumgartner
Bei aller Verschiedenheit der Themen und Stile haben Pau Auster und seine Frau Siri Hustved eines gemeinsam: Sie lieben das Verwirrspiel mit Realität und Fiktion und geben sich gerne in Identitäten zu erkennen, die nicht die ihren sind. Und so enthält auch «Baumgartner», Austers jüngster und vielleicht letzter Roman, viel Autobiografisches, das sich letztlich als Verkleidung herausstellt. Das schmale Buch handelt von Sy Baumgartner, einem alten Philosophieprofessor, der auch nach 10 Jahren noch immer unter dem Verlust seiner geliebten Frau wie unter einem Phantomschmerz leidet. Er handelt von einem Mann, der alt wird, der einsam ist und sich in Erinnerungen verliert, von denen er längst nicht mehr weiss, ob sie der Wirklichkeit oder seiner Phantasie entsprungen sind. In verwirrender Umkehr der Tatsachen imaginiert Paul Auster hier den Tod seiner Frau, wohl wissend, dass sie wohl bald seinen eigenen zu beklagen haben wird.
Rowohlt, Hamburg 2023, 208 Seiten
- CHRISTOPH KUHN EMPFIEHLT
Jon Fosse: Trilogie
Drei längere Erzählungen hat der diesjährige Nobelpreisträger, der Norweger Jon Fosse, unter dem Titel «Trilogie» zusammengefasst. Man liest sie und wird in Bann geschlagen von dieser Prosa, die mit einfachsten Mitteln grösste Wirkung erzielt. Zeitlos muten die drei miteinander verbundenen Geschichten an. Eine grosse Liebe endet in der Katastrophe, ein mutmassliches Verbrechen wird gesühnt. Jon Fosse verfügt über eine einzigartige Sprache und der Uebersetzer, Heinrich Schmidt-Henkel, hat für diese Sprache im Deutschen eine Entsprechung gefunden, die es in sich hat. Fosse kommt mit einem sehr bescheidenen Vokabular aus und diese Sprache, die Alltägliches und Tiefschürfendes, Mystisches, Traumhaftes und krude Realistisches vereint, buchstäblich und über weite Strecken ohne Punkt auskommt, diese Prosa tönt wie Musik: schwere, düstere Klänge wiederholen sich endlos.
Rowohlt, Hamburg 2023,
Robert Seethaler: Das Café ohne Namen
Es passiert wenig bis gar nichts im neuen Roman des österreichischen Erfolgsautors Robert Seethaler. «Das Café ohne Namen», das Robert Simon in einem schäbigen Viertel Wiens Ende der Sechzigerjahre gepachtet hat und das er am Schluss des Romans verliert, bringt Quartierbewohner zusammen, wird zum Schauplatz von kleinen Geschichten, die oft traurig enden, und ist doch ein Ort, an dem momentelang so etwas wie Glück aufflackern kann. Seethaler ist ein Meister der feinfühligen, eher wortkargen Personen- und Milieubeschreibung. Anekdotisch und bewusst chaotisch treffen die Figuren aufeinander, teilen sich mit, häufig eher beiläufig. Es sind vom Leben nicht verwöhnte, oft in Bitternis versunkene Männer und Frauen, die sich in Simons Café treffen und der Protagonist des Romans, Gastwirt im Sinne des Wortes, lässt sich erzählen, was ihnen auf den Lippen brennt und kümmert sich um sie. Ein Roman ist das, der in lauter Kleinigkeiten zerfällt, keine grössere Handlung kennt. Gerade das, die Liebe und Sorgfalt, die der Autor dem Detail angedeihen lässt, macht seinen Reiz aus.
Claassen Verlag, Hamburg 2023, 480 Seiten
Daniel Kehlmann: Lichtspiel
Daniel Kehlmanns Roman «Lichtspiel» beleuchtet ein Stück spannender Film- und Zeitgeschichte. Im Zentrum des Buchs steht der einst berühmte österreichische Filmregisseur Georg Wilhelm Pabst, der in der Stummfilmzeit Triumphe feierte, sich mit den Nazis einliess und in der Nachkriegszeit in Vergessenheit geriet. Raffiniert mischt Kehlmann Fakten und Fiktion – er recherchiert akribisch und erfindet zusätzlich Figuren, Situationen, die sich nahtlos in die Handlung einfügen. Das Buch ist mit filmischer Technik geschrieben – der Schnitt, die einzelne Szene, der Dialog spielen wichtige Rollen. Traumhafte, surreal anmutende Abschnitte reichern den Stoff an. Die Erzählperspektive ändert ständig. Pabst, der sich vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs in Hollywood befindet, aber dort nicht zu reüssieren vermag, kehrt nach Österreich zurück und lässt sich mit den Nazis ein. In Hitlerdeutschland bekommt Pabst verlockende Angebote und verstrickt sich tiefer und tiefer in nationalsozialistische Machenschaften. Kehlmann beschreibt den Abstieg des Regisseurs mit eingängigen Szenen, die man sich wie ein Puzzle zusammensetzen muss. Entstanden ist ein facettenreicher, spannender Roman, kenntnisreich und brillant geschnitten.
Rowohlt, Hamburg 2023, 480 Seiten
- REINHARD MEIER EMPFIEHLT
Amos Oz: Liebe Fanatiker
Amos Oz ist unter den Schriftstellern Israels immer noch die gewichtigste Stimme. Sein wohl bewegendstes Buch ist sein autobiographischer Roman «Eine Geschichte von Liebe und Finsternis». Er verstarb im Jahr 2018. Kurz vor seinem Tod ist sein schmales Büchlein mit dem Titel «Liebe Fanatiker» erschienen. Es ist eine Auseinandersetzung mit dem Unheil des religiösen und politischen Fanatismus. Und es versteht sich, dass er hauptsächlich den Fanatismus ins Visier nimmt, der auf beiden Seiten des israelisch-palästinensischen Konflikts grassiert. Vor dem Hintergrund des laufenden, in jeder Hinsicht katastrophalen Gaza-Krieges ist diese scharfsichtige Sezierung der unversöhnlichen Rechthaber und gnadenlosen Militanten in beiden Lagern aktueller denn je zuvor. Oz ist kein rabenschwarzer Pessimist, schliesslich hat er auch nahöstliche Friedensfortschritte erlebt, die in seiner Kindheit noch undenkbar schienen. Aber er schreibt ebenso, dass er «Angst habe vor der Politik der Regierung» (gemeint ist Netanjahu) «und ich schäme mich für sie».
Drei Plädoyers, Suhrkamp, Berlin 2018, 140 Seien
Lion Feuchtwanger: Die Jüdin von Toledo
Lion Feuchtwanger gehörte in der Weimarer Republik zu den meistgelesenen deutschen Schriftstellern. Er starb 1958 im kalifornischen Exil. «Die Jüdin von Toledo» ist ein historischer Roman. Er erzählt die Legende von der Liebesbeziehung des kastilischen Königs Afonso VIII. mit Raquel, der schönen Tochter seines jüdischen Ministers Jehuda in Toledo im 12. Jahrhundert. Alfonso will gleichzeitig seinen Ruf als christlicher Ritter verteidigen. Er unternimmt einen überstürzten Angriff auf das muslimische Heer im Süden und wird vernichtend geschlagen. In den folgenden Wirren werden Raquel und ihr Vater vom Mob als angeblich Schuldige erschlagen. Feuchtwanger hat mehrere zeitlich auseinanderliegende Ereignisse zu einer hintergründigen Geschichte verdichtet. An die Frau von Thomas Mann, Katja, schrieb er, es sei sicher, dass er sich mit diesem Roman aus dem mittelalterlichen Spanien «sowohl bei Katholiken und Juden wie bei Arabern in die Nesseln setzen» werde.
Aufbau Taschenbuchverlag, Berlin 2008, 510 Seiten
Arthur Weigandt: Die Verräter
Der junge Autor und Journalist Arthur Weigandt ist im Dorf Uspenska in Kasachstan geboren. Seine Familie übersiedelte nach dem Zerfall der damaligen Sowjetunion nach Deutschland. Sein schmales Buch schildert autobiographische Erfahrungen und es ist zugleich ein Essay über «die Kinder des Ostens», die in den neunziger Jahren nach Deutschland kamen. Im Osten galten sie damals als «die Deutschen» und in Deutschland summarisch als «die Russen». Für Weigandt ist der Angriff Russlands auf die Ukraine ein Schock. Aber viele Verwandte und Bekannte glauben aus nostalgischer Bindung an die verklärte Vergangenheit der Moskauer Propaganda. Beide Seiten halten sich gegenseitig offen oder unterschwellig für Verräter. Das Buch bietet interessante, oft mit trockenem Humor formulierte Einblicke in eine vielschichtige, aber wenig bekannte Nische des postsowjetischen Kosmos.
Hanser, Berlin 2023, 155 Seiten
- ROLF APP EMPFIEHLT
Hans Platzgumer: Grosses Spiel
Wie kippt eine Demokratie in Diktatur? In seinem beeindruckenden Roman «Grosses Spiel» schaut Hans Platzgumer nach Japan, wo am 1. September 1923 die Erde bebt – und Militär und Polizei die Katastrophe als Deckmantel benutzen für breit angelegte Verfolgungen oppositioneller, demokratisch gesinnter Kräfte. Mit dabei ist Polizeihauptmann Masahiko Amakasu, den Platzgumer erzählen lässt, wie er den Anarchisten Sakae Ôsugi beobachtet, ihn heimlich bewundert – und ihn im Moment der Katastrophe schliesslich ermordet. Derweil sitzt in seinem Palast Kaiser Yoshihito, ein Feingeist, der gern von Versöhnung spricht, während seine Generäle etwas ganz anderes im Sinn haben.
Zsolnay, Wien 2023, 332 Seiten
Cordelia Edvardson: Gebranntes Kind sucht das Feuer
Daniel Kehlmann hat schon recht, wenn er im Nachwort schreibt: Dieses lange vergriffene Buch darf nicht vergessen werden. Nicht in erster Linie, weil da eine Mutter – die Schriftstellerin Elisabeth Langgässer – ihr mit einem Juden gezeugtes Kind im Stich lässt und es dem Holocaust überantwortet. Sondern weil Cordelia Edvardson die Hölle, die sie in Auschwitz überlebt, in all ihrer Schrecklichkeit und dabei in kühlen Farben beschreibt. Als eine Abfolge von Szenen, in denen sie aus der Gesellschaft ausgeschlossen, dann erniedrigt, schliesslich entmenschlicht und zu einer jener Nummern wird, die jederzeit ins Gas geschickt werden können. Noch einmal hat Kehlmann recht: Es ist eine furchtbare Lektüre.
Hanser, München 2023, 142 Seiten
Wolfgang Behringer: Der grosse Aufbruch
Viel ist in den politischen Debatten vom Kolonialismus die Rede, meist verkürzt auf die Rolle des Westens. Umso verdienstvoller deshalb, was der Historiker Wolfgang Behringer in «Der grosse Aufbruch», seiner Globalgeschichte der Frühen Neuzeit vorlegt: Ein breites, wohlabgewogenes und farbiges Panorama, angefangen bei Kolumbus’ Expeditionen ab 1492 und endend mit dem Wiener Kongress 1815, das auch den Blick wirft auf das Osmanische Reich, auf Russland, China, Indien. Entdeckerfreude und Wohlstand stehen da neben blutigen Eroberungszügen und drückender Sklaverei – an der die afrikanischen Königreiche tüchtig mitverdienen. Wer in den Debatten mitreden will: Hier hat er das nötige Grundlagenwissen.
C. H. Beck, München 2023, 1319 Seiten
- IGNAZ STAUB EMPFIEHLT
Adam Nagourny: The Times
Zwar mangelt es nicht an Büchern über die «New York Times»: Unvergessen Gay Taleses episches «The Kingdom and the Power». Doch erst jetzt hat «Times»-Reporter Adam Nagourney die jüngere Geschichte des Weltblatts aufgearbeitet: von der Ernennung A. M. Rosenthals zum Chefredaktor 1977 bis zur Wahl Donald Trumps zum Präsidenten 2016, welche die Neugier der Leserschaft enorm anstachelte und dem digitalen Auftritt des Blattes starken Auftrieb verlieh. Nagourney schildert journalistische Spitzenleistungen wie die Berichterstattung über die Anschläge an 9/11 oder die Explosion des Space Shutttle «Challenger» 1986, verschweigt aber auch peinliche Misstritte wie die Artikel Judith Millers im Vorlauf des Krieges im Irak 2003 oder die zu lange übersehenen Plagiate des jungen Reporters Jayson Blair nicht. Nagourneys Buch basiert auf Hunderten von Interviews und Tausenden von Dokumenten und Briefen, die alle ein Licht auf das Innenleben einer Zeitung werfen, die mit einer Redaktion von nahezu 2’000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern als die beste der Welt gilt.
Crown, New York 2023, 563 Seiten
Kevin Powers: A Line in the Sand
«Die Vergangenheit ist nie tot», schreibt William Faulkner: «Sie ist nicht einmal vergangen.» Wie wahr das sein kann, erfährt in Virginia Arman Bajalan, der während des jüngsten Krieges im Irak als Übersetzer für die US-Army gearbeitet hat und miterleben musste, wie im Verlauf der Kämpfe amerikanische Söldner seine Familie töteten. Da er jedoch die Täter von damals identifizieren könnte, sieht er sich unvermittelt im Visier des Besitzers eines skrupellosen Söldnerunternehmens, dem das Bekanntwerden von Kriegsverbrechen höchst ungelegen käme, weil es kurz davor steht, einen milliardenschweren Auftrag der US-Regierung zu ergattern. Doch mit Detektive Catherine Wheel steht dem Exiliraker eine erfahrene und unbestechliche Polizistin zur Seite, die teils mit Hilfe modernster Technik im Fall des rätselhaften Mordes am Auftragskiller ermittelt, der Bajalan hätte umbringen und zum Schweigen bringen sollen. Mit von der Partie ist auch die Lokaljournalistin Sally Ewell, die anlässlich eines Hearings im Kongress hartnäckig über die zwielichtige Söldnerfirma recherchiert.
Little, Brown & Company, New York 2023, 353 Seiten
Inge Bondi: Ernst Haas – Letters & Stories
Der Österreicher Ernst Haas (1921–1986), frühes Mitglied der renommierten Kooperative «Magnum», gilt als Pionier der modernen Farbfotografie. Im September 1953 publizierte die Zeitschrift «Life» in zwei Ausgaben über 24 Seiten seinen Fotoessay «Images of a Magic City», der New York, das vor allem durch Schwarzweissaufnahmen bekannt war, in völlig neuem Licht erscheinen liess. Die Ausstellung «Ernst Haas: Color Photography» im Museum of Modern Art war 1962 die erste Einzelausstellung, die allein der Farbfotografie gewidmet war. Viel beachtete Fotobände wie «The Creation» (1971), «In America» (1975) und «In Germany» (1977) folgten. Bekannt sind auch Ernst Haas’ Aufnahmen amerikanischer Landschaften, die das Image der Zigarettenfirma «Marlboro» prägen halfen. Nun zeichnet Inge Bondi, die ab 1950 für «Magnum Photos» in New York zu arbeiten begann und dort zur «Director of Special Projects» aufstieg, die faszinierende Vita des befreundeten Fotografen anhand von privaten Briefen und Anekdoten nach – von der Jugend im kriegsverseuchten Wien über den Umzug ins dynamische New York bis hin zum späteren Interesse für Spiritualität und stillere Motive.
Damiani, Bologna 2023, 159 Seiten
- HEINER HUG EMPFIEHLT
Herfried Münkler: Die Welt in Aufruhr
Wir leben in schwierigen, teils chaotischen Zeiten. Unsere alte Weltordnung bricht zusammen. Wird alles noch schlimmer? Steuern wir auf eine Katastrophe zu? Ist die Demokratie erschöpft? Wird die neue Welt eine Welt der Diktaturen? Hat der «Weltpolizist» USA endgültig ausgedient? Herfried Münkler, einer der angesehensten deutschen Politikwissenschaftler, versucht aufzuzeigen, wie eine neue Weltordnung aussehen könnte. Er rechnet damit, dass es künftig fünf Machtzentren geben wird: Die USA, China, Indien, Russland – und die EU. Und ganz so pessimistisch sieht er die Zukunft nicht. Ein dickes, wichtiges, verständlich geschriebenes Buch, das etwas Ordnung (und vielleicht sogar etwas Hoffnung) in unsere turbulenten Zeiten bringt.
Rowohlt, Hamburg 2023, 528 Seiten
Simon Sebag Montefiore: Geschichte schreiben, Briefe, die die Welt veränderten
Eine Weltgeschichte, erzählt anhand von über hundert Briefen. Sie stammen aus verschiedenen Epochen, Kulturen und Weltgegenden. Verfasst wurden sie von wichtigen Persönlichkeiten, die die Politik, die Geschichte und die Kultur beeinflussten. Maria Theresia ist dabei, Eisenhower, Michelangelo, Stalin, Mao, Katharina die Grosse, Mandela, Lucrezia Borgia. Es geht um Liebe und Macht, auch um Intrigen. Die Texte sind zum Teil sehr persönlich. Trockene, abgehobene Geschichtsschreibung wird hier plötzlich privat und teils sehr intim.
Klett-Cotta, Stuttgart 2023, 368 Seiten
ERICH PFEIL: AZZURRO
«Lasciatemi cantare – sono un italiano». Wieso nicht schon an kalten Wintertagen vom nächsten Sommer, von lauen italienischen Sommernächten träumen. Und von vielen der wunderbaren italienischen Songs. Der Autor stellt uns, angehäuft mit herrlichen Anekdoten, hundert grosse italienische Canzoni vor. Alle wichtigen Cantautori sind dabei: Unter anderen: Lucio Dalla, Adriano Celentano, Jovanotti, Gianna Nannini, Lucio Battisti, Fabrizio De André, Francesco de Gregori. Und natürlich der in diesem Jahr verstorbene Toto Cotugno. Wer Italien liebt und die italienische Volksseele verstehen will, kommt ihr hier ein klein wenig näher. Doch ganz verstehen können wir Ausländer und Ausländerinnen die italienische Seele nie.
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2022, 368 Seiten
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