Klara Obermüller empfiehlt
Lutz Seiler: Kruso
Suhrkamp, Berlin 2014, 484 S., Fr. 28.50, ISBN: 978-3-518-42447-6
Die letzten Tag der DDR auf der Insel Hiddensee: Ferienparadies seit eh und je, aber auch Ort des Rückzugs für Aussteiger und für Republikflüchtlinge Ausgangspunkt für den Sprung in den Westen, akribisch recherchiert, anspielungsreich beschrieben und poetisch überhöht von einem, der das Inselleben aus eigener Anschauung kennt. Lutz Seilers mit dem Deutschen Buchpreis 2014 ausgezeichneter Roman ist eins der bedeutendsten literarischen Zeugnis über die weltbewegenden Ereignisse des Sommers 1989 und den Untergang der DDR.
Katja Petrowskaja: Vielleicht Esther
Suhrkamp, Berlin 2014, 285 S., Fr. 28.50, ISBN: 978-3-518-42404-9
Eine junge Frau, in Kiew geboren, nach Deutschland emigriert, Kind jüdischer Eltern, vom Sozialismus geprägt, reist zurück in ein polnisches Dorf, um nach den Spuren ihrer versprengten, ausgelöschten Familie zu suchen. Sie schaut, sie fragt, sie forscht, sie erinnert sich und versucht durch ihr Schreiben etwas von dem wieder zusammenzufügen, was durch die Ereignisse der Zeit auseinandergerissen und zerstört worden war. Bilderstark und sprachmächtig lässt sie eine für immer versunkene Welt wieder aufleben und kommt dabei auch sich selbst und ihrer eigenen Identität auf die Spur.
Gertrud Leutenegger: Panischer Frühling
Suhrkamp, Berlin 2014, 221 S., Fr. 28.50, ISBN: 978-3-518-42421-6
Zwei Menschen begegnen sich auf der London Bridge in jenem Frühling, als der Ausbruch eines Vulkans auf Island den europäischen Flugverkehr lahmlegt. Sie erzählen einander ihre Geschichte, tauschen Kindheitserinnerungen aus, vertrauen einander ihre Geheimnisse an. Ein Fischerdorf in Cornwall, der Pfarrhof des Onkels in Schwyz, die bunten, lärmigen Strassen des Londoner East End treffen aufeinander, durchdringen sich und fügen sich zu einem Sprachgebilde von einer solchen Zartheit und Intensität, dass man noch gerne lange weitergelesen hätte.
__________________________________________________
- Ignaz Staub empfiehlt
Gerald Seymour: “Vagabond“
426 Seiten; Hodder & Stoughton 2014
Der „Daily Telegraph“ nennt Gerald Seymour schlicht „den besten Thriller-Autor der Welt“. So fragwürdig solche Einschätzungen sein mögen: Der Brite, obwohl weniger bekannt als andere seiner Zeitgenossen, gehört zweifellos zu den Versiertesten seines Faches. Ähnlich wie bei John Le Carré sind Seymours Handlungen und deren Akteure immer glaubhaft und lebensnah; Action und literarische Spezialeffekte sind ihm weitgehend fremd. „Vagabond“ spielt, wie 1975 sein erster Roman „Harry’s Game“, erneut in Nordirland, einer Provinz, die dem Friedensprozess zum Trotz noch nicht völlig zur Ruhe gekommen ist und in welcher, obwohl weniger virulent als früher, der Hass eines Teils der Bevölkerung auf die britische Regierung nach wie vor schwelt. Den Agenten des Geheimdienstes Ihrer Majestät und ihren Spitzeln obliegt der heikle Job, in mühsamer Kleinarbeit eine neue Explosion der Gewalt zu verhindern.
Geoff Dyer: „Another Great Day at Sea“
Life aboard the USS George H.W. Bush”; 162 Seiten (Fotos von Chris Steele-Perkins); Visual Editions 2014
Im Rahmen der Organisation “Writers in Residence”, die erstklassigen Autoren Gelegenheit bietet, “Schlüsselinstitutionen der modernen Welt” zu beschreiben, lässt sich der Brite Geoff Dyer auf dem Flugzeugträger George H.W. Bush „einbetten“. Wie keine zweite Plattform projiziert der nuklear getriebene Gigant mit seiner 5000-köpfigen Besatzung Amerikas Macht gegenüber der Welt, als Domizil einer Armee auf See, mit all ihren Eigen- und Ungereimtheiten. Seinem Ruf als Salonlinker zum Trotz schlüpft der 56-jährige Dyer mit jungenhaftem Enthusiasmus und einer Prise Naivität in die Rolle des Beobachters an Bord und beschreibt detailliert einen Alltag, der jenem der britischen Klassengesellschaft nicht unähnlich ist: eine kleine Oberschicht von Piloten und Marineoffizieren hier, der grosse namenlose Rest da. Doch beide Schichten vertragen sich, denn ohne klare Kommandostrukturen und akribisch eingeübte Teamarbeit kann ein komplexer Organismus wie ein Flugzeugträger nicht funktionieren.
Kate Kelly: “The Secret Club That Runs The World”
Kate Kelly: „The Secret Club That Runs The World – Inside The Fraternity of Commodity Traders”; 264 Seiten; Penguin Books 2014
Rohstoffhändler gelten als geldgierig, geheimnisumwittert und verschlossen. Und sie gehören nicht zu jener Spezies Menschen, die sich im Allgemeinen grosser Beliebtheit erfreuen. Der Durchschnittsverbraucher begegnet den „Traders“ meist mit einer Mischung aus Misstrauen und Neid – Misstrauen gegenüber angeblich finsteren Machenschaften und Neid ob extravaganten Salären. Doch CNBC-Reporterin Kate Kelly lässt sich vom dubiosen Ruf der Branche nicht abschrecken. Der Umstand, dass die Medien, anders als im Fall von Banken, nur relativ wenig über den Rohstoffhandel berichten, stachelt sie dazu an, „die Bruderschaft“ genauer unter die Lupe zu nehmen, so gut das geht und und die Akteure das zulassen. Kelly porträtiert die grossen globalen Rohstoffhandelsfirmen sowie deren Schlüsselfiguren in grossen Zügen und erläutert die umstrittenen Geschäftspraktiken einzelner „Players“. Dass dabei Fragen offen bleiben, erstaunt angesichts der Materie nicht.
______________________________________________
- Christoph Kuhn empfiehlt
Thomas Hettche: Pfaueninsel
Kiepenheuer & Witsch Verlag, 2014, Fr. 28.90
Die Pfaueninsel, in der Nähe von Potsdam gelegen, die gibt es und Marie, die Zwergin, die dort als preussisches Hoffräulein lebt und aus deren Perspektive Teile des Romans geschrieben sind, die hat ein historisches Vorbild. Brillant spielt der deutsche Autor Thomas Hettche in diesem Roman mit der Historie, der preussischen, im 19. Jahrhundert. Das Schicksal der liebenswerten, traurigen Zwergin, die Opfer einer unglücklichen Liebesgeschichte wird und über einen Blick verfügt, der tief ins Innere ihrer Mitmenschen zu dringen vermag, ist eingebettet in die Themen der Zeit: königlicher Absolutismus und erwachende Demokratie, Industriealisierung, technischer Fortschritt. Präzise Recherche und blühende Fantasie vereinigen sich in einer Kunstsprache, die mal rasant modern klingt, mal kurios altmodisch.
Roberto Bolaño: Mörderische Huren
Aus dem Spanischen von Christian Hansen, Hanser Verlag, 2014, Fr. 28.90
Der chilenische Autor Roberto Bolaño (1953 – 2003), einer der Grossen der Literatur aus Lateinamerika, ist so richtig bekannt in unseren Breitengraden erst nach seinem Tod geworden. Seinen Riesenroman „2666“, den er kurz bevor er starb abgeschlossen hatte, machte seinen Namen weltberühmt. Seither wird eifrig übersetzt und publiziert, was zu seinen Lebzeiten gar nicht oder nur im spanischsprachigen Raum zu lesen war. Dem Uebersetzer Christian Hansen verdanken wir jetzt einen Bolaño-Erzählband, „Mörderische Huren“, der uns den Chilenen auf der Höhe seiner abenteuerlichen Kunst zeigt. Randfiguren, Literaturbesessene, extreme Charaktere führt er uns in Fragmenten vor, führt sie durch Höllen und Paradiese, durch unglaubliche Geschichten und mischt sich selber gelegentlich unter sie. Sarkasmus, schwarzer Humor gehören zu seinen üppig eingesetzten Stilmitteln – und lassen uns beim Lesen erschauernd lachen.
Patrick Modiano: Pour que tu ne perdes pas dans le quartier
Éditions Gallimard, 2014, 16.90 Euro
Den jüngsten Roman des diesjährigen Nobelpreisträgers sollte man in der Originalsprache lesen. Erstens weil es noch keine deutsche Uebersetzung gibt und zweitens, weil das Buch einen besonders schönen Titel hat, den man sich übersetzt nicht vorstellen kann. Er trägt im übrigen die Essenz des gesamten bisherigen Werk Modianos in sich: das „se perdre“, sich verlieren der Figuren in den Quartieren, den Strassen und Plätzen von Paris, das macht vielfach die Handlung der einzelnen Romane aus, auch des neuesten. Auf raffinierte und subtile Art werden in diesem Werk Zeiten – eine bruchstückhaft erinnerte Kindheit, eine Szene im Leben des gerade erwachsen Gewordenen und die Versuche eines müden alten Mannes in der Gegenwart Vergangenes zu verstehen – übereinander gelegt und transparent gemacht. Ein verlorenes, dann wiederaufgetauchtes Adressbuch, fremd gewordene Namen darin verleiten den Protagonisten zu einer Spurensuche in nebliger Vergangenheit, die zu keinen konkreten Resultaten, dafür zu einer sehnsüchtigen, stimmungsvollen Geschichte führt.
______________________________________________
- Alex Bänninger empfiehlt
Dasein - Lukas Bärfuss, Koala
Wallstein Verlag, Göttingen 2014, ISBN 978-3-8353-0653-0, 182 Seiten
Ein sehr persönliches, tiefes und leidendes Nachdenken in einer immer wieder überraschenden Assoziationskette über den Suizid des eigenen Halbbruders. So sensibel wie nüchtern, so berührend wie sachlich. Vom Tod her eine Wegbeschreibung zum eigenen Dasein.
Dortsein - Matthias Zschokke, Die strengen Frauen von Rosa Salva Wallstein Verlag, Göttingen 2014, ISBN 978-8353-1511-2, 414 Seiten
Wer vergeblich hofft, während einiger Monate in Venedig zu leben, kann sich den Traum lesend erfüllen und gleich noch zweierlei lernen: Wie es gelingt, mit einer Stadt vertraut zu werden, und worin die Kunst besteht, spannende E-Mails zu schreiben.
Wegsein - Markus Brühlmeier, Verena Rotenbühler, André Salathé, Walter Strasser, Im Tobel der Busse
Verlag Historischer Verein des Kantons Thurgau, Frauenfeld 2014, ISBN 978-3-9524186-1-1, 222 Seiten
Keine weihnächtliche Lektüre im frohen Sinne, aber eine, die zur Botschaft der Menschenliebe passt. Hier in der Schilderung ihres Gegenteils, nämlich des Strafvollzugs im 19. und weit bis ins 20. Jahrhundert hinein. Die Faktengenauigkeit geht unter die Haut.
_______________________________________________
- Stephan Wehowsky empfiehlt
James Salter: „Jäger“
Aus dem Amerikanischen von Beatrice Horweg. Berlin Verlag, Berlin 2014
James Salter gehört zur 1. Liga der amerikanischen Literatur. Sein Stil ist nüchtern, sachlich. Aber er kann erzählen. Jetzt ist sein Debüt, „The Hunters“ von 1956, erstmals auf Deutsch unter dem Titel, „Jäger“, herausgekommen. Salter, der selbst Jagdflieger war, schildert in diesem Roman eine Kampffliegereinheit im Koreakrieg. Es geht um das „Jagdglück“: Wer hat es und wer nicht? Wie immer in seinen Romanen und autobiographischen Skizzen gelingen Salter Passagen, die man nicht wieder vergisst.
Jack El-Hai: „Der Nazi und der Psychiater“
Aus dem Amerikanischen von Henriette Heise. Verlag Die Andere Bibliothek, Berlin 2014
Es ist ein Sachbuch, aber es ist geschrieben wie ein Roman von Stephen King. Protagonist ist Douglas M. Kelley, jener Psychiater, der während der Nürnberger Kriegsverbrecherprozesse die angeklagten Nazi-Grössen daraufhin untersuchte, ob bei ihnen irgendwo eine Anomalie zu finden ist, aus der ihr böses Tun hervorging. Der Autor Jack El-Hai wiederum hat Kelley sehr genau kennengelernt. Entstanden ist eine packende Schilderung menschlicher Abgründe jedweder Hinsicht. Endlich ist dieses Buch auf Deutsch erschienen.
Sebastião Salgado. Genesis
Trade Edition. Taschen 2013
Wer genug hat von dem, was sich Menschen gegenseitig antun, der kann sich in eine Therapie begeben, die der Fotograf Sebastião Salgado sich selbst verordnet hat. Nach all dem Elend, das er gesehen und fotografiert hatte, wandte er sich den Teilen des Planeten zu, die der Mensch noch nicht ruiniert hat. 10 Jahre ist er gereist. In diesem Jahr ist dazu der Film von Wim Wenders, „Das Salz der Erde“, herausgekommen. Der voluminöse Band, der die Farbenpracht der Welt ganz puristisch in Schwarz-Weiss-Fotografien zum Ausdruck bringt, kann dem Betrachter heilsame Momente des Verweilens bieten.
__________________________________________________
- Reinhard Meier empfiehlt
Botho Strauss: Herkunft
Carl-Hanser-Verlag, München, 96 Seiten
Botho Strauss, der einzelgängerische deutsche Autor und gerade 70-jährig geworden, hat Erinnerungen aus seiner Kindheit und Jugend in Bad Ems an der Lahn (Rheinland-Pfalz) verfasst. Keine kompakte Geschichte, sondern Vergangenheitssplitter aus einer kleinbürgerlich-behüteten Welt, die Strauss als Einzelkind erlebte. Der Vater, der im 1. Weltkrieg ein Auge verlor, arbeitet zu Hause, nie ohne Anzug und Krawatte. Strauss erinnert sich an dieses versunkene „Weltlein“ mit Wärme, ohne Sentimentalität oder rückblickender Besserwisserei. Der schmale Band ist kein Pageturner, aber er wird beim Leser unweigerlich eigene Kindheitserlebnisse wachrufen.
Thomas Mann: Der Zauberberg
Fischer Taschenbuch 2008, 1037 S.
Thomas Manns tausendseitiger Roman ist 1924 erschienen, also vor genau 90 Jahren. Warum ihn heute als Geschenktipp empfehlen? Weil ich der Meinung bin, dass es gut tut, sich ab und zu vom hektischen Markt der Neuerscheinungen abzuwenden und in Ruhe einen von der Zeit geprüften Klassiker zu lesen – oder ihn nach ein paar Jahrzehnten wieder zu lesen. Der „Zauberberg“ spielt in der entschwundenen Welt eines Davoser Lungensanatoriums. Es entfaltet sich ein eigener Kosmos kurios-hintergründiger Figuren, ihrer Beziehungen, Weltanschauungen und Schicksale. Wer sich geduldig auf den epischen Erzählfluss des Autors einlässt, wird Namen und Charakterzüge einiger Protagonisten wie Hans Castorp, der Russin Madame Chauchat oder des italienischen Humanisten Settembrini unvergesslich im Gedächtnis behalten.
__________________________________________________
- Gisela Blau empfiehlt
Martin Walker: Brunos Kochbuch Rezepte und Geschichten aus dem Périgord
Diogenes Verlag, Zürich, Übersetzung Michael Windgassen, Hardcover Leinen, 320 Seiten, ISBN 978-3-257-06914-3
Es war höchste Zeit, dass die wundersamen Mahlzeiten von Bruno, Chef de Police in einem Städtchen im Périgord, nicht nur beiläufig in Martin Walkers spannenden Kriminalromanen beschrieben werden. Nun gibt es endlich ein Kochbuch, wie man es sich wünscht, mit handfesten, funktionierenden Rezepten und Tipps, garniert mit traumhaften Fotos aus dem Périgord, die zum Hinfahren. animieren.
Andreas Schumann: Familie de Maizière Eine deutsche Geschichte
Orell Füssli Verlag Zürich, Hardcover Leinen, 384 Seiten, ISBN 978-3-280-05531-1
Geteiltes Land - geteilte Familie. Anders als bei den meisten deutschen Polit-Dynastien gab es auch einen Zweig im Osten. Die de Maizières waren Hugenotten, die aus dem Elsass nach Deutschlad flohen und auf ihre Weise Karriere machten. Auf beiden Seiten gab es Anpassung, aber keinen Widerstand. Ulrich de Maizière, einst Offizier der wWehrmacht, brachte es zum Chef der Bundeswehr. Sein Bruder Clemens im Osten war Informant der Stasi. Die Söhne schafften es ganz nach vorne: Lothar war der erste frei gewählte und gleichzeitig der letzte Ministerpräsident der DDR; auch ihn veerfolgt eine Stasi-Vergangenheit. Cousin Thomas ist deutscher Innenminister. Der Biograf, früher Mitarbeiter von Thoas de Maizière, ist kein Profi-Schreiber. Aber die Familiengeschichte rundet die Feiern der ersten 25 Jahre seit demr Mauerfall ab.
Charles Lewinsky: Kastelau
Roman, 400 Seiten; Verlag Nagel & Kimche, Zürich; ISBN 978-3-312-00630-4
Der Starautor Charles Lewinsky hat wieder einen zeithistorischen Roman geschrieben, der auch eine Dokumentation sein könnte. Der Plot erinnert entfernt an ähnliche Scharaden, die während der NS-Zeit gerade noch das Überleben sicherten und ebenfalls den Vorteil haben, auf wahren Geschichten zu beruhen. Charles Lewinsky beschreibt die wahnwitzige Rettungsaktion einer Film-Crew der UFA, 1944 weit weg von Berlin angeblich einen Nazi-Propaganda-Film zu drehen. Das Projekt ist ist eine ernsthaft betriebene Farce und für Lewinsky die Vorlage für einen abgründig spannenden Roman.
__________________________________________________
- Urs Meier empfiehlt
Anna Stüssi: Ludwig Hohl. Unterwegs zum Werk. Eine Biographie der Jahre 1904 bis 1937
Wallstein Verlag, Göttingen 2014, 400 S., CHF 40.00
Hohl war lange verkannt, wurde dann von den 68ern heroisiert – und später vergessen. Keine dieser Haltungen wird ihm gerecht. Die Berner Germanistin und Psychologin Anna Stüssi widmet sich Hohls Werdegang bis zum schriftstellerischen Durchbruch mit der Fertigstellung der berühmten «Notizen». Sie nähert sich dem ruhelosen Sucher und Denker auf ebenso nüchterne wie respektvolle Weise. Ihre sorgfältig dokumentierte und wunderbar geschriebene Biographie führt zur Begegnung mit einem der bedeutenden Schweizer Schriftsteller und skizziert ein Zeitbild vom ersten Drittel des 20. Jahrhunderts.
Esther Kinsky: Am Fluss. Roman
Matthes & Seitz, Berlin 2014, 387 S., CHF 31.80
Die Lyrikerin und Übersetzerin (Polnisch, Russisch, Englisch) Esther Kinsky hat es mit den Flüssen, so bereits in ihrem ersten Roman («Banatsko», 2011) und nun erst recht mit «Am Fluss». Hauptprotagonist ist der River Lea, der unspektakulär dort durch London fliesst, wo die Autorin vierzehn Jahre gelebt hat. Ihr neuer Roman schildert den Alltag der Menschen in der Randzone der Metropole, beschreibt das Niemandsland der Flussufer, Expressstrassen und Bahnviadukte. Esther Kinskys Gänge und Schilderungen sind Exerzitien des unvoreingenommenen Blicks und der unverbrauchten Sprache. Das Buch, in dem die Geschehnisse fast stillstehen, ist ein unvergleichliches Lese-Abenteuer.
Hans Pleschinski (Hg.): Nie war es herrlicher zu leben Das geheime Tagebuch des Herzogs von Croÿ
C. H. Beck, München 2011, 428 S., CHF 36.90
Die Auswahl aus dem umfangreichen Nachlass des Herzogs von Croÿ (1718 – 1844), der es als deutscher Adliger zum französischen Marschall brachte, liest sich wie ein Roman. Er schildert höfische Intrigen, wirtschaftliche und militärische Belange sowie internationale Politik aus nächster Nähe. Der Herzog ist sowohl Kind seiner Zeit und Vertreter seines Standes wie auch überraschend kritischer Beobachter und unabhängiger Geist. Auf zuweilen schockierende Art wird klar, was absolutistische Herrschaft bedeutet. Es wird aber auch deutlich, welchen Zwängen der Monarch und seine Entourage unterliegen. Ein historisch-literarisches Highlight!
__________________________________________________
- Heiner Hug empfiehlt
Henry Kissinger: Weltordnung
Bertelsmann, 2014, aus dem Amerikanischen von Karlheinz Dürr, Enrico Heinemann, 480 Seiten, ISBN: 978-3-570-10249-7, CHF 35.50
Für die einen ist er ein Kriegsverbrecher – wegen Vietnam, Kambodscha, Pinochet etc. Für andere ist er der weitsichtige Stratege und Welterklärer. Kaum ein US-Präsident war wohl in den letzten 50 Jahren so mächtig wie er. Das 17. Buch des heute 91-Jährigen macht deutlich: er ist noch immer da, intelligent wie eh und je. Es ist ein pessimistischer Ausblick, den er gibt. Die westliche Weltordnung ist bedroht, der Nahe Osten kaputt, religiöser Fanatismus. „Die USA müssen künftig lernen, nicht nur ihre eigenen Ziele zu verfolgen, sondern auch das zu verstehen, was andere Gesellschaften wollen.“ Die USA seien allein nicht mehr stark genug. Die Amerikaner bräuchten Verbündete. Neue Töne von jemanden, der früher mit Bomben, Entlaubungsmitteln und geschürten Staatsstreichs die Führungsrolle der USA à tout prix zementieren wollte. “Weltordnung” heist das Buch, eigentlich sollte es “Welt-Unordnung” heissen. Es ist ein Must für alle, die sich für international Politik interessieren.
Kerstin Bund: Glück schlägt Geld Generation Y: Was wir wirklich wollen
Murmann Publishers, 200 Seiten, 2014, ISBN: 978-3-86774-339-6, CHF 24.90, auch als E-Book
Das sind keine Hippies, das sind auch keine Langweiler – und faul sind sie schon gar nicht. Die Generation Y, also die nach 1980 geborenen, drängen nach oben. Für die etablierten Chefs sind sie eine Horrorvorstellung. Denn die Y-Leute tanzen nicht nach ihrer Pfeife. Sie sagen, wo’s langgeht. Sie sind keine Sklaven des Establishments. Sie wollen Geld verdienen, aber auch Spass und Freude am Leben haben. Sie machen ihre Arbeit, aber nicht nine to five. Und die Wirtschaft braucht sie. Bei dem Buch handelt es sich nicht um einen abgehobenen, gescheiten Text eines gescheiten Soziologen, der ja dann doch nichts versteht. „Was wir wirklich wollen“, heisst der Untertitel. Kerstin Bund ist selbst eine Y-Frau und Redaktorin bei der „Zeit“. Sie beschreibt auf eindrückliche und hautnahe Art, wie Y die Berufswelt verändern wird.
Julian Barnes: Unbefugtes Betreten
btb, aus dem Englischen von Thomas Bodmer, Gertraude Krueger, Taschenbuch, 2014, 304 Seiten, ISBN: 978-3-442-74722-1, CHF 14,90
Very British. Wunderbar sarkastisch, zynisch, schnoddrig und vulgär manchmal. Alltägliche Dialoge, geschraubter Smalltalk an Partys. Was doch intelligente Leute so dahinquatschen können! Julian Barnes, der Booker-Preisträger, ist ein Meister der Beobachtung, des Alltäglichen. Alles witzig dargestellt in 14 Kurzgeschichten. Da parlieren alte Schriftstellerinnen oder ein Immobilienmakler, der sich in eine Kellnerin verliebt. Oder Phil und Joanna, die bei Nachbarn eingeladen sind. Sie fabulieren über Gelenkautobusse, Prostatakrebs, künstliche Hoden, König George VI., warmen Hundekot, den man auflesen muss, den Buckingham Palace und: „Was Bill Clinton mit Zigarren angestellt hat, wissen wir ja“ – alles durcheinander, alles intellektuell verbrämt. Ein Leseschmaus.