Während im Ausland die moralische Reputation von Aung San Su Kyi, der Friedensnobelpreisträgerin von 1991, wegen der Rohingya-Krise vernichtet ist, ist die Politikerin im eigenen Land nach einer ersten fünfjährige Amtszeit so beliebt wie kaum zuvor. Sie wird als «Mutter Su» oder als «The Lady» hochverehrt. Ihre Umfragewerte sind überzeugend.
Benoteten die Burmesinnen und Burmesen Su Kyi 2019 bereits mit 70 Prozent Zustimmung, waren es im laufenden Jahr satte 79 Prozent. Nicht von ungefähr kommt Aung Naing Oo, Direktor des Zentrums für Friede und Versöhnung, zum Schluss, dass die «Menschen in Myanmar mehr mit ihrem Herzen als ihrem Verstand» gestimmt haben.
Ziviler Anstrich
Dass in Burma überhaupt Wahlen stattfinden, ist nicht selbstverständlich. Bereits 1990 wurde nach fast dreissig Jahren harter Militärdiktatur erstmals wieder gewählt. Die NLD von Aung San Su Kyi siegte mit grosser Mehrheit. Doch die Militärs erklärten das Wahlresultat für null und nichtig und regierten weiter.
Aung San Su Kyi, Tochter des legendären Helden des Unabhängigkeitskampfes gegen die britischen Kolonialisten, General Aung San, lebte die nächsten zwanzig Jahre bis 2010 entweder im Gefängnis oder unter Hausarrest. 2011 gab sich das Militär, in Myanmar als Tatmadaw bekannt, einen zivilen Anstrich. General Thein Sein wechselte vom massgeschneiderten Uniformtuch in massgeschneiderte Zivilanzüge.
Komfortable Mehrheit
2015 dann die erste demokratische Wahl. Mutter Su gewann mit ihrer Nationalen Liga für Demokratie (NLD) gegen die vom Tatmadaw unterstützte Unionspartei für Solidarität und Entwicklung (USDP) mit grosser Mehrheit. Im Unterhaus errang die NLD mit 235 Sitzen und im Oberhaus mit 135 Sitze eine komfortable Mehrheit.
Doch die Militärs hatten mit ihrer Verfassung von 2008 vorgesorgt. Ein Viertel der Abgeordneten sind nichtgewählte Soldaten und Offiziere. Überdies ist für eine Verfassungsänderung eine Zweidrittel-Mehrheit erforderlich, und eine Verfassungsänderung ohne Zustimmung der Militärs nicht möglich. Das Militär hat nach Verfassung zudem die Ministerien für Inneres, Verteidigung und Grenzkontrolle inne. Und dies vor allem: mit einem Federstrich kann bis heute das Tatmadaw jederzeit die demokratische Ordnung aufheben.
Der General gibt sich grosszügig
Von den 55 Millionen Einwohnern waren bei der jetzigen Wahl 37 Millionen wahlberechtigt. Rund 90 Parteien warben um Stimmen, doch nur die beiden grossen NLD und USDP sind national von Bedeutung. Die Wahlbeteiligung war sehr hoch, allerdings konnten in Grenzregionen, vor allem im Rakhine-Staat an der Grenze zu Bangladesh, rund drei Millionen nicht wählen.
Obwohl das offizielle Resultat drei Tage nach der Wahl noch nicht vorliegt, gehen internationale Wahlbeobachter und burmesische Politiker davon aus, dass die NLD erneut, wenn auch möglicherweise weniger klar, in fairen Wahlen gewonnen hat. NLD-Sprecher Myo Nyunt: «Soweit ich das übersehe, haben wir genügend Sitze in beiden Häusern des Unionsparlaments gewonnen, um eine Regierung zu bilden.» Der Chef der Armee, General Nummer 1 Min Aung Hlaing, gab bei der Stimmabgabe demokratisch grosszügig zu Protokoll, dass er das Wahlresultat akzeptieren werde.
De facto Ministerpräsidentin
Die 75 Jahre alte «Lady», die ihren Unterhaussitz in Yangon, dem Wirtschaftszentrum des Landes, mit einem Erdrutschsieg bestätigen konnte, wird weiter als Staatsrätin – De-facto-Ministerpräsidentin – das Land anführen. Die Tatmadaw hat eigens für Su Kyi diesen Posten geschaffen, weil sie mit einem Ausländer verheiratet war und zwei Söhne mit britischem Pass hat und so laut Verfassung nicht Präsidentin werden konnte. Ihre erste, fünfjährige Amtszeit endete mit durchzogenem Erfolg. Viele Reformen wurden schon im Ansatz verwässert. Die erhoffte Pressefreiheit ist noch lange nicht erreicht.
Wachstum
Nachdem die USA und die Europäische Union 2015 Sanktionen aufgehoben haben, ist das Wachstum des Brutto-Inlandprodukts zunächst mit über fünf Prozent pro Jahr gestiegen. Investitionen aus dem Ausland in Milliardenhöhe überfluteten nach der Liberalisierung des Banken- und Versicherungswesens das Land. 2019 verlangsamte sich das Wachstum auf knapp noch drei Prozent. Noch immer lebt ein gutes Drittel der Bevölkerung in absoluter Armut.
Corona
Wirtschaftlich ist insgesamt dennoch einiges erreicht worden. Die Inflation ist besiegt, die Infrastruktur und das Erziehungswesen sind deutlich verbessert worden. Trotz ansprechenden Wachstumszahlen freilich hat sich die Produktivität nicht nach Wunsch erhöht. Der mächtige nördliche Nachbar China ist mittlerweile der grösste Handelspartner und ein Investor von Grossprojekten. Auch Thailand und Singapur sind mit Myanmar wirtschaftlich eng verknüpft.
Erfolge konnte die Administration von Aung San Su Kyi auch in der Bekämpfung des Corona-Virus verbuchen. Bis zum Wahltag, dem 8. November, verzeichnete Myanmar 61’377 Fälle und 1’420 Tote seit März. Die Hygiene-Vorschriften bei den Wahllokalen wurden, für ein armes Entwicklungsland nicht selbstverständlich, vorbildlich eingehalten.
In der Rohingya-Frage versagt
In einem wichtigen Bereich allerdings hat Staatsrätin Su Kyi versagt. In der Minoritäten- und Autonomie-Politik sind keinerlei Fortschritte erzielt worden. Nach wie vor kommt es zu bewaffneten Auseinandersetzungen in verschiedenen Grenzregionen. Die Bamar – Burmesen – sind mit 70 Prozent die grösste Bevölkerungsgruppe. 132 Ethnien oder Minoritäten teilen sich in die übrigen 30 Prozent. Rund 95 Prozent aller burmesischen Einwohner allerdings sind Buddhisten.
Das erklärt auch, warum den muslimischen Rohingyas so übel mitgespielt wurde und wird. Die Rohingya sind nicht als Minorität anerkannt, sie sind rechtlos in jeder Beziehung. 2017 verübten die Militärs nach einem Angriff von Rohingya-Kämpfern auf eine Polizeistation Greuel, welche Friedensnobelpreisträgerin Su Kyi 2019 vor dem Internationalen Gerichtshof in Den Haag rundweg arrogant bestritt. Allerdings sind Vernichtung von Rohingya-Dörfern, Massenvergewaltigungen, Folter und Massenerschiessungen belegt.
Burmesische Soldateska
Bereits vor dem Wüten der burmesischen Soldateska flohen Hundertausende. Nach dem wüsten Treiben des Militärs 2017 flohen 740’000 Rohingyas ins nahe Bangladesh. Dort leben jetzt über eine Million Flüchtlinge unter unsäglichen Bedingungen in Lagern in Cox’s Bazar. Es gibt zwar seit zwei Jahren ein Abkommen mit Myanmar für die Rückkehr der Flüchtlinge.
Doch niemand will zurückkehren, denn in Burma sind Rohingyas nach wie vor staatenlos und rechtlos. Die in Myanmar verbliebenen Rohingyas leben eingesperrt in Lagern und Dörfern, dürfen sich nicht bewegen und haben kaum Aussicht auf staatliche Dienstleistungen wie Gesundheitsvorsorge oder Erziehung.
«Bengali»
Die Rohingyas werden in Myanmar despektierlich als «Bengali» bezeichnet, obwohl sie seit Generationen, zum Teil seit weit über 200 Jahren im Lande leben. Selbst vor dem Gerichtshof in Den Haag sprach Aung San Su Kyi abschätzig nur von «Bengali». Sie machte das, was sie in den letzten Jahren mit grossem Erfolg getan hat. Sie unterstützte in Burma einen radikalen buddhistischen Nationalismus. Buddhistische Mönche hetzen so auf Flugblättern und im Internet hemmungslos gegen Moslems.
Die Buddhistin und Friedensnobelpreisträgerin Su Kyi zeigt damit, was längst bekannt ist: auch der Buddhismus ist entgegen westlicher Wahrnehmung keine friedliche Religion, sowenig wie der Hinduismus, der Islam, das Christentum oder andere Religionen.
Rhetorik der Hoffnung
Uno-Generalsekretär Antonio Guterres hofft – als Politiker doch wohl etwas naiv –, dass die Wahl «den Weg ebnen wird für eine Rückkehr der Flüchtlinge in Würde und Sicherheit». Selbst ein Flüchtlings-Sprecher im Lager von Cox’s Bazar in Bangladesh gibt sich hoffnungsvoll: «Die Wiederwahl von Su Kyi ist eine gute Entscheidung für uns.» Auch Abdur Rahman, Vizepräsident der Arakan Rohingya Gesellschaft für Frieden und Entwicklung glaubt, dass «wir während der zweiten Amtszeit in unser Heimatland zurückkehren können».
Die buddhistische Nationalistin Aung San Su Kyi freilich sieht das wohl anders. Denn sie wird ja, wie NLD-Sprecher Myo Nyunt nach der Wahl zu Protokoll gab, auch in Zukunft «mit den Militärs Hand in Hand arbeiten». Und die Militärs werden nach ihrem Vernichtungsfeldzug gegen die muslimischen «Bengali» gewiss nicht klein beigeben. Mutter Su muss sich zwischen buddhistischem Nationalismus und Friedensnobelpreis entscheiden. Besser früher als später.