Während sich die einen an der frischen Bergluft und der traditionellen Holzarchitektur des neuen Ankunftsgebäudes erfreuen konnten – ein Klein-Kloten im Chalet-Stil – schauten jene in der Halle betroffen auf eine grosse Anzeige: Wer Zigaretten auf sich trägt und keine Kaufquittung aus dem Ausland vorweisen kann, muss mit einer zweijährigen Gefängnisstrafe rechnen.
Vor zehn Jahren waren Bhutan-Reisende noch an den Händen abzuzählen, heuer werden 40‘000 erwartet. Sind es Pilger ins Land des Glücks? Im Jahr 2008 führte das Parlament den Begriff der ‚Gross National Happiness‘ (GNH) als nationales Ziel ein, und es meisselte ihn gleich in die Steinplatten der Verfassung. Weltweit merkte man auf – und fiel in ein mildes Lächeln, über das luftige Wort und das putzige Shangri La, wo es erfunden wurde.
‚GNH‘ würde, so die Kommentare, etwa den gleichen Stellenwert haben wie der Herrgott in der Bundesverfassung – ein gestelzter Bückling an die Adresse von Unbekannt. War es denn mehr als ein ironisches Wortspiel – Bruttosozialglück statt Bruttosozialprodukt? Dabei hatte die polemische Gegenformel eine konkrete Spitze, und diese sass: Wir müssen ernsthaft darangehen, Entwicklung und Wohlstand breiter zu messen als nur mit ökonomischen Parametern.
Die Stille des Landes wahren
Niemand rechnete damit, dass sich dieses kleine zähe Bergvolk ernsthaft daran machen würde, das Wort auseinanderzunehmen, zentrale Eigenschaften herauszustellen, operationelle Ziele zu setzen und quantitative Parameter festzulegen. Genau das aber tat es. GNH wird auf vier Säulen verteilt, in neun Bereiche gegliedert und auf 72 Indikatoren heruntergebrochen. Gute Regierungsführung, ökonomische Entwicklung, Umwelterhaltung und Förderung der Kultur sind die vier gleich gewichteten Hauptpfeiler. Jeder Gesetzesvorschlag, jede Verfügung muss darauf abgeklopft werden, ob sie eines dieser Hauptziele erfüllt – und keines verletzt . Die Frage etwa, ob Bhutan – zerklüftet, mit tiefen Taleinschnitten, wenigen Strassen – im Interesse des Tourismus (und von Ambulanzdiensten) auch Helikopterflüge zulassen soll, beantwortete das Parlament negativ. Kein Rotorenflattern lässt sich in der weiten Stille des Landes hören. Als im letzten Jahr im zentralen Bezirk Bumthang der Bazar von Jakar fast vollständig ausbrannte, fuhr der König in sieben Stunden von Thimphu mit dem Auto hin; und er blieb gleich eine Woche und half beim Aufbau von Notsiedlungen.
Gerade für Touristen sind solche kleinen ‚Indikatoren‘ eine Wohltat. Meine Frau, für die der Autositz normalerweise ein Nadelkissen ist, schlief ein, als wir von Paro nach Thimphu fuhren. Kein Autofahrer hinter uns meldete lautstark seine Absicht, uns zu überholen. Es war unser Fahrer, der beim Blick in den Rückspiegel jeweils den Blinker betätigte und damit signalisierte, dass er überholt werden konnte. Ich fragte mich schon, ob auch wir einmal ein Überholmanöver durchführen würden. Wir taten es: Kurz vor Thimphu fuhren wir an einem Mönch vorbei, in buddhistischer Robe und einem Kissen in den Händen. Er war auf Pilgerschaft und streckte sich bei jedem Schritt nach vorn flach auf dem Boden aus.
Gute Regierungsführung ist das Ziel
Es war aber nicht nur die Stille und Ruhe, die uns – nach dem Zwölfton-Hornkonzert von Kolkata – wie eine Erlösung erschienen. Noch stärker fiel uns die Höflichkeit der Beamten auf. In Indien weiss man immer, wer Herr und Diener ist; auch in Bhutan ist es so, nur umgekehrt. Ich beobachtete unseren Fahrer, als er einige Tage später bei einer Kontrollstelle seine Papiere unter das Trennglas schob. Der Beamte auf der anderen Seite machte mit seinem Kopf einen kleinen Knicks, bevor er unser ‚Lascia-Passare‘ – mit beiden Händen – entgegennahm, abstempelte, und es, wieder beidhändig und mit einer leichten Verbeugung, zurückgab.
Am zweiten Tag hatten wir den Chief Election Commissioner getroffen, in der neuen Demokratie einer der ranghöchsten Beamten des Landes. Er war überhaupt kein Gefangener seiner Rolle, im Gegenteil. Er machte deutlich, dass er der Demokratie, die das Parlament 2008 – auf Druck des Königs, notabene – eingeführt hatte, wenig abgewinnen konnte. „Demokratie ist kein absolutes Gut. Gute Regierungsführung ist das Ziel. Und diese hatten wir in der Monarchie“. Dann schweifte er ab und erzählte von zwei ‚Reinkarnationen‘, die er am Vortag getroffen hatte. Eine, sagte er, war ein 14-jähriger junger Mönch, „und ich erkannte ihn wieder, weil ich seinen Vorgänger gekannt hatte“. Vorgänger fürwahr!
Auch den Innenminister trafen wir bei einem Nachtessen, auch er ein Skeptiker des Parlamentarismus. Er setzte sich zu uns an den Tisch und erzählte, wie er gegen seinen Willen zum Kandidaten gekürt wurde. Er habe sich aus seinem Distrikt verzogen und war drei Wochen in Indien untergetaucht – vergeblich: „Als ich wieder nach Trashigang kam, verschleppten sie mich nach Thimphu, bis ins Büro der Kandidatenregistrierung“. Nun war er Innenminister und konnte nicht warten, bis er den Hut nehmen würde. „Ich zähle die Tage. Noch zwei Jahre und siebzehn Tage dauert es!“
Ein Mönch als Unglücksvogel
Ob er für uns ein bisschen geschauspielert hatte? Vielleicht. Sicher ist nur, dass der Begriff des ‚Bruttosozialglücks‘ nicht an George Orwell und seinen totalitären ‚Newspeak‘ denken lässt. Die Bhutaner sind keine Gutmenschen, auch wenn es schwer ist, nicht beschämt, belustigt, bezaubert zu sein, wenn man ihnen beim Gespräch zuschaut: Die Männer im Kurzrock, die Frauen in der fusslangen Kira, lächelnd, den Kopf leicht nach vorne geneigt, mit ausgesuchter Courtoisie, Relikte aus einer längst vergangenen Zeit, mit Schalk bis hinter die Ohren.
Es ist auch nicht so, dass der Staat der Durchsetzung des kollektiven ‚Glücks‘ mit dem ihm zur Verfügung stehenden Machtmonopol allzu heftig nachhilft. Internet und ausländische Fernsehkanäle lassen sich über Satellitenschüsseln ins Wohnzimmer beamen, und in den – viel zu vielen – Läden von Thimphu sind die jüngsten Musikvideos zu haben. Die Ex-Singapurerin Siok Sion Pek, mit einem Bhutaner verheiratet, erzählt, wie die Regierung gezittert hatte, als plötzlich 45 Fernsehprogramme auf das Land herunterregneten, kaum war es aus dem Dornröschenschkaf erwacht. Viele Leute waren verstört, als sie die Bilder der ‚World Wrestling Federation“ erblickten. Ein Junge aus Bumthang habe einen Leserbrief geschrieben und die Zeitung ‚Kuensel‘ gefragt, was denn diese Erwachsenen im Sinn hätten, sich gegenseitig auf den Boden zu werfen und wehzutun?
Dennoch, ganz so einfach ist es mit dem Bruttosozialglück nicht. Die Hauptstadt Thimphu wird immer hässlicher wegen der Monotonie der vorgeschriebenen Baustil-Regeln. Ein amerikanischer Professor erzählt, in seinen zwei Jahren in Thimphu habe er 140 Bewilligungen einholen müssen, um sein Privatleben und seine Reisen zu organisieren. Und à propos strenges Rauchverbot: auch dies ein verordneter Glücksbringer. Bereits sitzen drei Bhutaner im Gefängnis, weil sie mit einem Pack Zigaretten erwischt wurden, das ihnen wohl Jemand geschenkt hatte. Der erste Unglücksvogel, den die Polizei erwischte, war ein buddhistischer Mönch gewesen.