Mein Blick fällt auf meinen wie immer reich bepackten Büchertisch. Beruhigende Aussichten für sechs Wochen Rekonvaleszenz nach einer Operation. Vorher noch habe ich mit wärmster Empfehlung die folgenden Hinweise auf jüngst abgetragene Preziosen loszuwerden.
Andere Blicke auf Corona
Laura Spinneys „1918. Die Welt im Fieber. Wie die Spanische Grippe die Gesellschaft veränderte“ ist keine Neuerscheinung aus gegebenem Anlass, sondern die 2018 von Hanser sehr schön gestaltete deutsche Übersetzung des im Vorjahr erschienenen „Pale Rider: The Spanish Flu of 1918 and How it Changed the World”. Es geht darin um 50 bis möglicherweise 100 Millionen Tote, eventuell mehr als in beiden Weltkriegen zusammen. Anders als diese blieben sie für den Rest des Jahrhunderts in tiefer Vergessenheit und wurden erst in den letzten zwanzig Jahren zu einem Forschungsgebiet. Die Katastrophe des Grossen Kriegs von 1914 bis 1918 tritt bei Laura Spinney nur durch ihr völlig neuartiges Personenverkehrsaufkommen in den Blick, mit den von Kontinent zu Kontinent verschobenen Hunderttausenden von Truppen aus den USA, China und Südafrika und allen erdenklichen Kolonien zur europäischen Westfront. Aber mit seinen bis heute gänzlich unbekannten Ansichten eröffnet uns dieses in jeder Hinsicht aussergewöhnliche Buch ein völlig neues Tor zum 20. Jahrhundert. Es befördert uns buchstäblich in die Welt von 1918, im Lehnstuhl mehrmals um den Erdball, von Rio nach Russland, von Alaska und den Eskimos nach Persien, Indien und von der anderen Seite wieder zum Pazifik, und dies überall mitten unter den Menschen.
Bei Kriegen wird die Erinnerungsarbeit durch die Geschichtsschreibung der Sieger orchestriert. Die drei Wellen der Spanischen Grippe zogen ohne Sieger um den Globus. Es war keine Heilkunst zur Stelle, deren Vertreter sich an nennenswerte Erfolge im Kampf gegen die unverstandene Seuche hätten erinnern können. Ein gutes halbes Jahrhundert nach der Entdeckung der Mikroben liessen die Anfänge der Virologie weitere zehn Jahre auf sich warten, und eine Epidemiologie nach heutigem Verständnis war erst noch zu erfinden.
Zu Laura Spinneys Buch lassen sich noch heute keine Rivalen aufspüren. Allem Anschein nach bietet der Stoff allein Gewähr dafür, ohne die literarische Meisterschaft der Reporterin. In der deutschsprachigen Welt ist auf eigenem Mist an Reportagekunst noch nichts Gleichwertiges gewachsen. Die Wissenschaftsjournalistin, die u. a. für „Nature“, „The Economist“, „Natural Geographic“ tätig ist, hat auch Romane geschrieben (und „Derborance“ von C. F. Ramuz neu ins Englische übersetzt). In ihrem Buch zur Spanischen Grippe führt sie vor, wie Erzählung in sozialen Mikrokontexten zur leistungsstärksten Form von Analyse werden kann.
Nathan Wolfe, vor zehn Jahren von Jared Diamond zum „rising star of the medical world“ gekürt, begnügte sich nicht damit, seit zehn Jahren vor Pandemien wie der gegenwärtigen und wesentlich schlimmeren zu warnen. Mit der „Global Viral Forecasting Initiative“ hat er auch ein avanciertes internationales Beobachtungs- und Frühwarnnetzwerk aufgebaut. Er wurde vom WEF zum „Young Gobal Leader“ gekürt und vom „Time Magazine“ 2011 unter die hundert einflussreichsten Persönlichkeiten der Welt aufgenommen. Nach seinem Buch „Virus. Die Wiederkehr der Seuchen“, 2012 von Rowohlt verlegt, ist bis heute zumindest auf Deutsch kein aktuelleres aufgetaucht.
Von Schleim und Reinheit
Gehen wir weiter – wenn nicht direkt zum Schleim, so doch zu Susanne Wedlichs „Das Buch vom Schleim“, erschienen Ende letzten Jahres bei Matthes & Seitz in der schönen Reihe „Naturkunden“, auf die hinzuweisen ein Vergnügen und jede Gelegenheit gut genug ist. „Das Buch vom Schleim“ greift stofflich aus auf eine Universalität, die in unseren Tagen von der beklemmenden Fixierung auf Seuchen zumindest vorübergehend ablenken kann. An sich ein ebenso bescheidenes wie vielseitiges Material, aber eine schleimige Sache dennoch, wird man denken. Doch zunächst ist das Buch wie andere Bücher trocken und nur sehr grün, aussen herum wie innen in zahlreichen Illustrationen und den Kapitelüberschriften. Ein appetitliches Grün wie das eines unschuldigen Apfels, Granny Smith, eine Spur heller vielleicht.
Für einmal zitiere ich, da ich nichts Wichtigeres zu sagen wüsste, aus dem Klappentext. Die Autorin „folgt (...) den schillernden Spuren des Schleims durch Kunst, Kultur, Medizin und Wissenschaft: Der Bogen reicht vom Ekel als Emotion (...) bis zum Menschen als Schleimfestung und von Ernst Haeckels Urschleim, der kurz Gott spielen durfte, über fiktive Schleimmonster bis hin zu realen Schleimkreationen aus der Forschung, die sich von der Natur inspirieren lässt. Schliesslich kennt jede evolutionäre Frage auch eine Antwort aus Schleim, ohne den kein Leben möglich ist.“
Damit dürften wir vorbereitet sein für ein Thema, das es an Gruseligkeit in sich hat wie kein zweites. Sie haben richtig gehört: Es handelt sich um die Reinheit. Valentin Groebner, Geschichtsprofessor für Mittelalter und Renaissance an der Universität Luzern, hat darüber einen seiner brillanten Buchessays geschrieben: „Wer redet von der Reinheit? Eine kleine Begriffsgeschichte“ (106 S., Passagen, Wien 2019).
Diese kleine Geschichte reicht ziemlich weit zurück, mindestens zu den Bettelorden des 13. und 14. Jahrhunderts, den Erfindern der Reinheit in Gestalt ihres asketischen Ideals, aus welchem im Hochmittelalter die neuartige Gestalt des Intellektuellen, sowohl als Philosoph wie als Gottesmann, Pastor und geistlicher Lehrer, seine Beglaubigung bezog. Für ihren liturgischen Zweck war die Reinheit materialisiert in der geweihten Hostie, als dem sogar von der Erbsünde reinen Leib des Herrn. Als Reinheit der deutschen Seele derweil zog sich der Schweif ihrer grossen Karriere über Luther, Lessing, Schiller zu Richard Wagner, mutierte zu dessen deutschem Antisemitismus und schliesslich zu den Rassentheorien des späten 19. Jahrhunderts.
Seit Galenos von Pergamon hat die Medizin während eineinhalb Jahrtausenden den menschlichen Körper als Mischverhältnis seiner Säfte gedacht. Mit einem Mal geht es jetzt um reine Körper – rein nach einer neuen Art von Zugehörigkeit zu einem „reinen“ Kollektiv. Und diese reinen Körper treten hinaus in die frühe Morgendämmerung der Produktewerbung – am Anfang waren die Kosmetika! –, die um die folgende Jahrhundertwende dank dem neuen Vehikel der Fotografie springflutartig alle Lebensbereiche überschwemmt haben. Ausgeklinkt aus den ideengeschichtlichen Betrachtungen, wird Reinheit in der Folge „allgegenwärtig, und zwar als ein erstrebenswertes, wunderbares, schlechthin unwiderstehliches Ideal. Auf praktisch jedem Produkt der modernen Warenwelt, das mit dem menschlichen Körper in Berührung kommt oder für den Verzehr bestimmt ist, findet sich auf der Packung ein Hinweis auf Reinheit. ‚Aus reiner Alpenmilch’ (Schokolade). ‚Hergestellt aus reinen Bio-Ölen’ (Shampoo). ‚Quality, Purity, Potency’ (Vitamintabletten) ... “
Diese Idiotie der Reinheit malträtiert in ungebrochener Wirksamkeit den globalen Gemeinverstand noch unseres 21. Jahrhunderts. Zum Beispiel hindert sie Evian daran, ihren jährlichen Ausstoss von gegen zwei Milliarden PET-Flaschen durch biologisch abbaubaren, sich unschädlich selbst zersetzenden Plastik zu ersetzen, solange sich ein solcher nicht in gleicher kristalliner Transparenz herstellen lässt. Das, meint Evian, müsste den Absatz des so „reinen“ Wassers senken. Was ist empörender an dieser omnipräsenten Reinheitsidee: ihre Verlogenheit oder ihre Dummheit? Nach einer ekelhafteren, schmutzigeren Idee würden wir jedenfalls vergeblich suchen.
Am Ende der Freiheit?
Die Covid-Pandemie kann die Brisanz der grossen Frage „Ist die freiheitliche Weltordnung am Ende?“ nur verstärken. Fast drei Jahre nach Austragung eines intellektuellen Kräftemessens unter diesem Titel hat der Zürcher Verlag Nagel & Kimche mit dem 17. Februar 2020 doch noch einen höchst passenden Zeitpunkt erwischt, um dessen deutsche Buchfassung herauszubringen.
Im illustren Rahmen der Munk-Debatten treffen seit 2008 in Toronto zweimal jährlich zwei oder mehr Spitzenpolitiker und international führende Köpfe in Streitgesprächen zu weltpolitischen Top-Traktanden aufeinander. Am 28. April 2017 kreuzten der Historiker Niall Ferguson und der Journalist Fareed Zakaria, beide vielfache Bestsellerautoren, über der besagten grossen Frage die Klingen. Man denkt, Ferguson als geschulter Pessimist und resignierter Advocatus Diaboli hat hier den leichteren Part, und fürchtet für die Felle des beherzten Optimisten Zakaria. Doch das Mehr der Nein-Stimmen im Saalpublikum, die schon vor der Debatte 66 Prozent erreichen, wächst nach deren Ende auf 71 Prozent.
Das Büchlein von 102 gross und locker gesetzten Seiten, die Lektüre eines Abends, sei hier nicht um der beiden Matadore, sondern um des Streitgegenstandes willen empfohlen, der bei dieser Gelegenheit wieder einmal in unverhofftem Mass an Klarheit gewinnt. Nachkriegsordnung ist noch immer ein anderer Name für das, was mit ihrer Dauer eines Menschalters leider sichtlich am Verblassen ist. Doch mit dem Epochenwechsel, für welchen die Bezeichnung steht, ist ein weltpolitischer Kontrast zwischen Vorher und Nachher angesprochen, der desto dringender immer wieder einmal in Erinnerung zu rufen und festzuhalten ist.