Er tritt selber nicht mehr an und ist dennoch omnipräsent. Vor der Präsidentschaftswahl in Brasilien versuchen alle Kandidaten, sich als der “bessere Lula” zu präsentieren.
Es ist nicht einfach, an diesem Abend im Steakhouse Spettus einen Platz zu ergattern. Den grösseren Teil des Lokals hat Armando Monteiro für sich reserviert. Der schwerreiche Unternehmer möchte einen der drei Senatssitze des brasilianischen Bundesstaates Pernambuco erobern und hat eine erlesene Schar von Anhängern und Verbündeten zu einem üppigen Wahlkampf-Mahl in eines der besseren Restaurants in der Bundeshauptstadt Recife eingeladen.
Monteiro tritt für die kleine Partei der Arbeit an, die nicht mit der Arbeiterpartei von Staatschef Luiz Inácio Lula da Silva verwechselt werden darf und auch nicht, wie ihr Name vermuten lassen könnte, linke Ansichten vertritt. Parteien verkörpern in Brasilien ohnehin in der Regel weder eine bestimmte Weltanschauung noch klar umrissene politische Inhalte. Sie erfüllen oft bloss den Zweck, einer Person zu einem politischen Mandat zu verhelfen.
Monteiro hat gute Chancen, den Sprung von der nationalen Abgeordnetenkammer in den prestigeträchtigeren Senat zu schaffen. Und das nicht nur deshalb, weil er viel Geld hat und damit über ein grosses Wahlkampfbudget verfügt. Er kann darüber hinaus auf die Unterstützung der in Pernambuco stark verankerten Arbeiterpartei zählen und damit wie so viele andere von der enormen Popularität des scheidenden Präsidenten Lula profitieren. Im Gegenzug rührt Monteiro bei seinen Auftritten auch kräftig die Werbetrommel für die Kandidatin der Arbeiterpartei, Dilma Rousseff, die in den Umfragen zur Präsidentschaftswahl vom 3. Oktober seit Monaten deutlich führt und mit hoher Wahrscheinlichkeit als erste Frau Brasilien regieren wird.
Lula, der nach zwei aufeinanderfolgenden Amtsperioden nicht mehr kandidieren darf, hat die ehemalige Energieministerin und Kabinettschefin seit zwei Jahren als seine Nachfolgerin aufgebaut. Seine 63-jährige politische Ziehtochter ist bei weitem nicht so charismatisch wie er, hat aber dank seiner tatkräftigen – um nicht zu sagen: überbordenden – Wahlhilfe ihren Bekanntheitsgrad in der Bevölkerung enorm steigern können.
Mit Rouseff, hämmert Lula seinen Landsleuten bei jeder Gelegenheit ein, werde die erfolgreiche Politik der vergangenen acht Jahre fortgeführt und vertieft. Kontinuität versprechen freilich auch die anderen Anwärter auf das höchste Staatsamt, kommen damit aber bei den Wählerinnen und Wählern weit weniger gut an. Die beiden aussichtsreichsten Kandidaten neben Rouseff, der Sozialdemokrat José Serra und die Grüne Marina Silva, liegen in den Umfragen weit zurück.
Der ehemalige Gouverneur von São Paulo, der vor acht Jahren gegen Lula den Kürzeren zog, und die frühere Umweltministerin setzen im Augenblick ihre ganze Hoffnung darauf, dass Rouseff im ersten Wahlgang das absolute Mehr verpasst. Dann müsste Ende Oktober eine Stichwahl stattfinden, und Serra oder Marina Silva würde sich eine zweite Chance eröffnen.
Weniger Arme…
Es kommt nicht von ungefähr, dass im Wahlkampf Freund und Feind die Nähe zu Lula sucht. Brasilien hat unter seinem ersten Arbeiterpräsidenten beträchtliche Fortschritte gemacht, und das Volk ist ihm dafür dankbar. Die weltweit achtgrösste Volkswirtschaft ist in den vergangenen Jahren dank der starken Nachfrage nach Rohstoffen und Agrarerzeugnissen kräftig gewachsen.
Brasilien ist auf dem Weg zu einer Energie-Grossmacht mit Biotreibstoff, Erdöl und Gas. Die Inflation ist gebändigt, die Devisenreserven steigen, die Staatsverschuldung sinkt. Die internationale Finanzkrise hat Südamerikas grösstes Land nicht sonderlich erschüttert, weil seine Wirtschaft heute weniger von den USA abhängig ist als früher.
Der wirtschaftliche Aufschwung hat auch das soziale Gefüge des 190 Millionen Einwohner zählenden Landes verändert. Laut offiziellen Statistiken sind seit 2003 mehr als 30 Millionen Brasilianer in den Mittelstand aufgestiegen. Die Armutsrate hat von 35 Prozent auf weniger als 20 Prozent abgenommen. Die so genannten Familien-Stipendien, von denen zwölf Millionen Familien profitieren, und andere staatlich finanzierte Sozialprogramme haben dazu beigetragen.
…aber nach wie vor extreme Einkommensunterschiede
Die Verteilungsprobleme sind damit allerdings nicht gelöst. Auch Lulas Mitte-links-Regierung ist es nicht gelungen, die extreme Kluft zwischen Arm und Reich zu verkleinern. Der ehemalige Gewerkschaftschef hat die Privilegien der dünnen Oberschicht genauso wenig angetastet wie seine konservativen Vorgänger. Überfällige Reformen bei den Steuern, den Renten und im Agrarsektor blieben Stückwerke oder wurden gar nicht erst in Angriff genommen.
Auch in anderen Bereichen ist Lulas Bilanz nicht so makellos, wie seine Popularität vielleicht glauben macht. Er war mit dem Anspruch angetreten, Korruption und Vetternwirtschaft energisch zu bekämpfen. Diese Krebsübel der brasilianischen Politik grassieren jedoch weiterhin, und nicht selten sind Angehörige der heterogenen Regierungskoalition in die Skandale verwickelt.
Vor ein paar Wochen hat das Parlament ein Gesetz erlassen, das Politikern, die in zweiter Instanz wegen Verbrechen wie Korruption, Geldwäsche oder Amtsmissbrauch verurteilt wurden, verbietet, für ein öffentliches Amt zu kandidieren. Ob deshalb künftig tatsächlich weniger Schmiergelder gefordert und bezahlt werden, ist zu bezweifeln.
In den öffentlichen Schulen liegt ebenfalls vieles im Argen. Obwohl Lula immer wieder betont, wie sehr ihm daran liegt, dass alle Kinder eine ihren Fähigkeiten und Neigungen entsprechende Ausbildung bekommen, belegte sein Land 2009 im internationalen Bildungsindex den wenig ehrenvollen 80. Platz.
Laut dem staatlichen brasilianischen Statistikinstitut IBGE sind mehr als 2 Millionen Schüler im Alter zwischen 7 und 14 Jahren noch Analphabeten, schafft nur etwa die Hälfte der Kinder den Grundschulabschluss. Die Lehrer sind schlecht bezahlt, die Schulen ungenügend ausgestattet und baulich in einem miserablen Zustand.
Wenig erreicht hat Lula im Kampf gegen die Kriminalität. Brasilien zählt nach wie vor weltweit zu den Ländern mit den höchsten Mordraten. Drogenbanden kontrollieren in Grossstädten ganze Quartiere, Polizisten erschiessen ungestraft mutmassliche Verbrecher, und die Gefängnisse sind nicht Orte der Resozialisierung, sondern Brutstätten der Gewalt.
Unter den Reformversäumnissen leiden hauptsächlich die Menschen aus den unteren sozialen Schichten, also jene Brasilianer und Brasilianerinnen, denen sich Lula, der selbst aus ärmlichen Verhältnissen stammt, nach eigenem Bekunden besonders verpflichtet fühlt. Sie können sich keinen privaten Wachdienst leisten, um sich vor Überfällen zu schützen. Und sie haben nicht das Geld, um ihre Kinder in eine Privatschule zu schicken oder sich in einer Privatklinik kurieren zu lassen.
Warum halten die meisten von ihnen Lula dennoch für einen der besten Präsidenten aller Zeiten? „Er ist viel sensibler für die Probleme der Armen als alle seine Vorgänger“, antwortet Luciano Justino da Silva, der bei einer Nichtregierungsorganisation in Recife als Fahrer und Bote arbeitet.
„Viele von uns haben heute dank Familien-Stipendien und anderen sozialen Massnahmen der Regierung einen höheren Lebensstandard. Dilma ist zwar nicht Lula. Aber da sie hoch und heilig verspricht, in seine Fussstapfen zu treten, werde ich am 3. Oktober trotz gewisser Vorbehalte meine Stimme ihr geben.“
Hans Moser, Recife (Brasilien)