Der Gipfel der BRICS-Staaten (Brasilien, Russland, Indien, China, Südafrika) in Johannesburg endet mit einem Paukenschlag – die Institution, in westlichen Medien eben noch als «Diktatoren-Clique» (NZZ) oder als «Club der Zahnlosen» (Tages-Anzeiger) beschrieben, erhält Zuwachs durch weitere sechs Länder (Argentinien, Ägypten, Äthiopien, Saudiarabien, die Vereinigten Arabischen Emirate und Iran).
Das ist nichts weniger als das Anzeichen einer Zeitenwende. Sie besagt: Mehr und mehr Staaten des so genannten globalen Südens wollen in wichtigen Bereichen weg von traditionellen aussenpolitischen Bindungen, konkret von einer vom Westen jahrzehntelang vorgezeichneten politischen und wirtschaftlichen Ordnung.
Was sind die BRICS-Ziele?
Doch was suchen, was wollen sie, wie heisst das Ziel? Das ist bisher nur insofern klar, als alle Bisherigen (von den Politikern der Zukünftigen gibt es noch kaum griffige Aussagen) erklären, sie sähen die Zukunft in einer nicht mehr unipolar gesteuerten Welt, sondern einer multipolaren. Soll heissen: in einer Welt, in der alle einander auf Augenhöhe begegnen, relativ kleine auch den grössten. Also beispielsweise China, der Riese in der bisherigen und auch der künftigen, erweiterten BRICS-Gemeinschaft, würde in keinem Bereich mehr Macht besitzen als das geografisch kleinste Neu-Mitglied (Vereinigte Arabische Emirate) oder das wirtschaftlich derzeit schwächste (Iran)?
Das ist illusorisch – auch in einer BRICS-plus Gemeinschaft werden sich über kurz oder lang ungleiche Machtgefüge in Realitäten umsetzen.
Aber wir, die Westler, sollten uns hüten, der wachsenden Gemeinschaft eine düstere Zukunft vorauszusagen. Wir sollten uns vielmehr mit der Frage befassen, weshalb denn dieses BRICS, mit zwei autoritären Regimen als Zentrum (China und Russland) imstande ist, auch für demokratische Länder wie Indien, Südafrika oder Argentinien oder reiche Autoritäre (wie Saudiarabien oder die Emirate) attraktiv zu sein. Was hat der Westen, der hunderte Milliarden Dollar Entwicklungshilfe etwa nach Afrika gelenkt hat, falsch gemacht?
Diffuse und konkrete Punkte
Man stösst, liest man Erklärungen von Politikern aus Ländern des globalen Südens, auf einige diffuse, aber auch auf zahlreiche konkrete Punkte. Diffus ist, meine ich, wenn Brasiliens Präsident, Lula da Silva, sagt: «Wir können keinen Neokapitalismus akzeptieren, der uns im Handel beschränkt und diskriminierende Forderungen stellt unter dem Vorwand einer nachhaltigen Umweltpolitik.» Mit Umweltpolitik spricht er die von der EU vorgebrachten Forderungen hinsichtlich der Abholzung der Amazonas-Wälder an. Nur: Da ist die EU ja fair, sie verbindet einfach eigene finanzielle Zusagen mit der Zusage Brasiliens, dass die Baumbestände in der Amazonas-Region nicht weiter rücksichtslos reduziert werden. Was Lula da Silva ja übrigens schon selbst so anstrebt.
Südafrikas Präsident Ramaphosa seinerseits fordert eine «grundlegende Reform globaler Finanzinstitutionen». Damit zielt er auf drei Körperschaften ab, den Internationalen Währungsfonds, die Weltbank und die WTO, die Welthandelsorganisation.
Das ist nachvollziehbar: Diese drei Institutionen werden von den USA, in etwas geringerem (aber auch noch überwältigendem) Mass von Westeuropa und Kanada dominiert. Die Kreditvergabe durch den Währungsfonds beispielsweise hat in zahlreichen Ländern des globalen Südens nicht nur, wie beabsichtigt, zur Stabilisierung der staatlichen Finanzen geführt, sondern auch zur Verarmung breiter Bevölkerungsschichten.
Zu viel westlicher Einfluss in internationalen Organisationen?
Die Weltbank anderseits, deren Sinn und Zweck ja eigentlich Entwicklungshilfe ist, geriet in die Kritik (etwa durch den Wirtschaftsnobelpreisträger Joseph E. Stiglitz), weil sie, als Teil des vom Westen dominierten monetären Systems, aufgrund ihrer Politik die wirtschaftlichen Entwicklung von Ländern des globalen Südens vielfach schädige.
Die WTO schliesslich, die Welthandelsorganisation, wäre eigentlich eine für Industrie- und Entwicklungsländer gleichermassen unparteiische Institution, aber sie wird derzeit von den USA aufgrund innenpolitischer Manöver blockiert.
Auch Russland und China blockieren Uno-Reform
Bleibt noch die Uno als Organisation, die ja so beschaffen sein sollte, dass sie Interessen von Ländern des globalen Südens wie des Westens gerecht werden könnte. Das ist, klar, nicht so: Die Uno ist dominiert von den fünf Veto-Mächten; Interessen des globalen Südens können zwar in allen Institutionen zur Sprache gebracht werden, aber Entscheidungen werden nur im Sicherheitsrat getroffen. Dass die Uno, inklusive Sicherheitsrat, längst reformiert werden sollte, sagen weltweit wirklich alle. Nur: Ausgerechnet zwei Mitglieder des Sicherheitsrats mit Veto-Recht, Russland und China, nach aussen hin Interessenvertreter des globalen Südens, blockieren jeden Reformversuch (konkreter: jeden Versuch einer Machtverschiebung) mit ähnlicher Vehemenz wie die westlichen Veto-Mächte.
Sucht man bei den Äusserungen der am BRICS-Gipfel anwesenden Spitzenpolitiker nach weiteren konkreten «Anklagepunkten» an die Adresse des Westens, wird man bei Sätzen über die «Macht des US-Dollars» fündig. Und da wird es dann konkret. Putin (per Video nach Johannesburg zugeschaltet, weil er selbst, als mutmasslicher Kriegsverbrecher, nicht hinreisen konnte) sprach einer «Ent-Dollarisierung» der Welt das Wort. Das zielt auf das für alle bisherigen und auch alle künftigen BRICS-Staaten wichtigste Thema.
Gegen die Dominanz des Dollars
60 bis 80 Prozent aller grenzüberschreitenden Transaktionen werden in US-Dollar abgewickelt. Den USA (der Regierung in Washington plus den grossen amerikanischen Banken) ist es gelungen, den Dollar zu politisieren. Was konkret heisst: Jede grenzüberschreitende Zahlung in Dollar (aber auch in Währungen mit enger Bindung an den Dollar, etwa in Schweizer Franken oder Euro) unterliegt der Kontrolle der USA – oder jener Institution, die faktisch von den US-Banken kontrolliert wird, SWIFT.
Wo die USA eigenmächtig Sanktionen erlassen haben, können keine Gelder transferiert werden. Gegen Institutionen und Personen in Russland gibt es derzeit mehr als 5000 einzelne Sanktionen, gegen solche in Iran über 3000. Regierungen irgendwo im globalen Süden fragen sich, ob sie allenfalls aus diesem oder jenem Grund ebenfalls unter das US-Sanktionenregime fallen könnten – und wie sie sich dagegen, im Fall der Fälle, schützen könnten?
Das ist ein wesentlicher Grund für Saudiarabien, die Emirate oder Äthiopien, Mitglied bei BRICS zu werden. Für Ägypten oder Argentien ist wesentlicher, dass sie aus finanztechnischen Gründen mehr Distanz zu Washington anstreben – sie erkennen, dass sie durch die enge Anbindung an den US-Dollar in Abhängigkeit von der Strategie der US-Notenbank geraten sind, d. h., dass beispielsweise Zinserhöhungen in den USA gewaltige Auswirkungen auf ihre eigenen Finanzen haben und dass sie die Entwicklung im eigenen Land nicht mehr eigenständig steuern können.
Demokratie-Defizite kein Problem?
Fazit: Sich in BRICS zu integrieren hat unterschiedliche Ursachen. Aber wer beitreten will, das ist der gemeinsame Nenner, hat offenkundig kein Problem mit dem, zartfühlend ausgedrückt, Demokratie-Defizit der beiden Führungsnationen, Russland und China. Und mit der faktischen Vormacht Chinas, die sich in der Wirtschaft oder der Politik manifestieren kann. Pragmatismus lautet das Gebot der Stunde für die Kandidaten-Länder – und eine gewisse Lust, den (aus «Südsicht» arroganten) Westen vor den Kopf zu stossen.