Andrew Marr ist ein angesehener Journalist (BBC, The Independent) und Romancier in England. Sein Hauptwerk (‘Head of State’, Harper Collins, 2014), in dem er die im kommenden Sommer dieses Jahres tatsächlich stattfindende Abstimmung zum Brexit vorwegnimmt, liest sich wie Kriminalroman mit üppigem Polithintergrund. Angelpunkt bildet der plötzliche Tod des fiktiven Premierminister ein paar Tage vor dem Abstimmungstag und die hektischen Bemühungen seiner engsten Mitarbeiter, dies bis zur Entscheidung zu verheimlichen. Ohne Premierminister, welcher die noch Unentschiedenen zum Verbleib des United Kingdom in Europa bewegen kann, würde das Austrittslager gewinnen, meinen sie. Dieses kriegt Wind davon und setzt seinerseits alle Hebel in Bewegung.
Kritik im Gewand der Farce
Dafür scheint beiden Seiten jedes Mittel recht: Mord, Sex, Verrrat und viel Alkohol. Ebensowenig fehlt ein geheimnisvolles Netzwerk höchster ehemaliger Beamter, Banker, Journalisten und Public Relations Chefs, welche buchstäblich die Welt manipulieren. Zuviel des Guten; nach der x-ten solchen Episode kommt leichtes Gähnen auf, trotz oder weil gerade der abgetrennte Kopf des verschiedenen Premierministers digital zum Leben erweckt wird.
Marr übertreibt wohl bewusst. Die stärksten Passagen im Buch gelten dem politischen Hintergrund, vor welchem seine Monstrositäten zwar extrem, aber jede einzelne davon nicht völlig ausgeschlossen erscheinen. Kurz vor seinem Hinscheiden sinniert der Premierminister über Grossbritanniens und Europas Niedergang. Zu bequem, zu sicher in ihrer Überzeugung, dass alles so positiv weitergehen werde wie in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts – sich ausbreitendes Friedens- und Sozialwerk EU, Sieg im Kalten Krieg – seien die Europäer.
Zu satt, um auf neue, tödliche Herausforderungen aus dem Mittleren Osten, aus Osteuropa und aus China angemessen zu reagieren. Zermalmt zwischen den zwei Kolossen USA und China. Vor solcher Realität stehen nur zwei Fluchtwege offen. Einerseits die illusorische Flucht in einen für immer untergegangenen Nationalismus, welcher Grenzen wieder aufrichten will, die längst von virtueller und digitaler Realität überholt sind. Andereseits die Flucht nach vorne in transnationale Zusammenarbeit und entsprechende Strukturen, welche technologischen und sozialen Realitäten endlich auch politisch gerecht werden.
Dafür, aber auch um Macht und Geld zu behalten, sind offensichtlich alle Mittel recht. Eingeschlossen die grosse, letztlich aber kontraproduktive Lüge gegenüber den Wählern – so wohl die Quintessenz aus Marrs Buch. Kontraproduktiv nicht, weil der technische Aufbau eines Lügengebäudes heutzutage unmöglich wäre, sondern weil dessen Bewohner derselbe alte Homo Sapiens bliebe. Dieser verfolgt letztlich nur seine Eigeninteressen und meint nach dem Verstecken des eigenen Sparbatzens einfach aus dem globalen Hamsterrad in private Glückseligkeit übertreten zu können.
Nicht nur Grossbritannien
So viel zu Inhalt und Hintergrund von Marrs Roman. In einigen Punkten trifft er wunde Punkte der zeitgenössischen Politik, die nicht nur Grossbritannien betreffen. Ein solchermassen verbreitetes Phänomen ist der Wutbürger, der nichts mehr glaubt, was ihm die etablierten Politiker sagen und erklären. Die wenigen Ausnahmen in der Gestalt politischer Persönlichkeiten, welchen noch vertraut wird, können aber jederzeit stürzen und damit politische Erdbeben auslösen.
Wie ist es so weit gekommen? An potentiellen Bösewichten, die man verantwortlich machen kann, herrscht kein Mangel. Neben Politikern gehört dazu auch ein Teil der Vierten Macht im Staate, der Medien. In England, wo die Fleet Street aus intensivem Konkurrenzdenken immer schon stark, oft grotesk überzeichnet hat, trifft Marrs Kritik für einen guten Teil der Medien zu. Ganz sicher gilt dies für das Medienimperium von Rupert Murdoch. Seit seiner Übernahme der altehrwürdigen «Times» vor ein paar Jahrzehnten befindet sich die englische Medienlandschaft in einer Abwärtsspirale hin zum kleinsten gemeinsamen Nenner des «gesunden Volksempfindens». Die wenigen Ausnahmen stecken im Überlebenskampf. Der «Independent» hat eben aufgegeben, der «Guardian» ist bedroht. Wenn Qualitätsmedien verschwinden sollten, wäre Marrs Sarkasmus vielleicht nicht mehr übertrieben.