Bis zum Nato-Gipfel in Litauen sind es noch rund zwei Monate, aber die Bruchlinien innerhalb der 31-Staaten-Allianz hinsichtlich der Ukraine werden von Woche zu Woche deutlicher.
Die Regierungen der drei baltischen Länder unterstützen Selenskyjs Forderung, in Vilnius eine datumsbezogene Beitritts-Zusage zu erhalten, voll und ganz, andere Osteuropäer (vor allem Polen, Tschechien, Rumänien und die Slowakei) wollen grünes Licht mit geringen Vorbehalten geben.
Contra: USA, Frankreich, Deutschland, die mit einigen Nuancen auf der Formel aus dem Jahr 2008 beharren, dass die Ukraine zwar das Recht habe, Antrag auf Mitgliedschaft zu stellen, aber dass die Zeit für weitere Schritte nicht reif sei.
Abseits der Debatte halten sich bisher Ungarn und die Türkei (die, im Gleichschritt, die Aufnahme Schwedens blockiert haben). Es braucht nicht viel Fantasie um vorauszusagen, dass die Regierungen mindestens dieser zwei Länder darauf beharren würden, selbst Beitrittsverhandlungen mit Kiew, geschweige denn einen Beitritt der Ukraine, zu verhindern.
«Nur die Nato kann Putin abhalten, wieder loszuschlagen»
Die Argumente beider Seiten, jene der Bremser aus dem Westen und jene der Gaspedal-Drücker aus dem östlichen Bereich, sind auf den ersten Blick einleuchtend. Die «Turbos» vertreten die Meinung, selbst ein im Krieg erfolgloses Russland bleibe ein potentieller ständiger Aggressor, also müsse man Putin mit Klarheit entgegentreten. Konrad Schuller übernahm im Leitartikel der FAS (Sonntagszeitung der Frankfurter Allgemeinen) vom 07.05.2023 die Positionen der Osteuropäer: «Nur das gesamte Abschreckungspotential Nato kann Putin davon abhalten, zu gegebener Zeit wieder loszuschlagen. Nur unter dem Schirm der Allianz kann die Ukraine helfen, die Rückkehr des russischen Imperiums in die Mitte Europas zu stoppen.»
Die Gegenseite argumentiert: Eine Ukraine als Mitglied der Nato kann sich jederzeit auf Artikel 5 des kollektiven Verteidigungsabkommens berufen und damit die ganze Staatengemeinschaft in einen direkten Krieg gegen Russland ziehen. Das aber will nicht nur die Führungsmacht innerhalb der Nato, die USA, vermeiden; dieses Risiko wollen auch die Westeuropäer nicht eingehen. Letzten Endes deshalb, weil sie einen Konflikt mit Atomwaffen als nicht undenkbar erachten.
Ein in die Ecke getriebenes russisches Regime könnte eben doch versucht sein, Atombomben einzusetzen.
Medwedews Wahnsinn nicht leichtfertig abtun
Anlass zu solchen Befürchtungen gibt ihnen immer von Neuem der russische Zwischenzeit-Präsident Dmitri Medwedew (Scheinherrscher von Putins Gnaden im Kreml zwischen 2008 und 2012), der keine Gelegenheit auslässt, die Unterstützer der Ukraine vor dem nuklearen Armageddon zu warnen. Fast alle Militär-Analysten sind sich darin einig, dass Medwedews Wahnsinn nicht leichtfertig abgetan werden sollte – ein in die Ecke getriebenes russisches Regime könnte, entgegen aller Logik, eben doch versucht sein, Atombomben einzusetzen.
Über die sicherheitstechnischen Überlegungen hinaus hat die Debatte um das Thema Nato und Ukraine aber auch eine politische Dimension. Die «Turbos» im östlichen Teil Europas haben Null Hoffnung, dass Russland sich je grundlegend, in Richtung von Demokratie, ändern und dass es irgendwann einmal seine Expansions- oder Revanche-Visionen aufgeben könnte. Im Westen sieht das, wenn auch mit Vorbehalten, anders aus.
Wird man einst mit Russland halbwegs normale Beziehungen pflegen können?
Die meisten Regierungen (am deutlichsten jene Frankreichs) gehen davon aus, dass ein durch eine begrenzte militärische Niederlage im Krieg gegen die Ukraine geschwächtes Russland zu einer realistischen Einschätzung der Weltlage gezwungen würde – und dass man dann mit diesem Russland wenigstens halbwegs normale Beziehungen pflegen könnte. Schallwellen solcher Gedankenspiele erreichen auch schon die Schweiz – vernehmbar wurden sie, u. a., im Wochenend-Interview der TA-Zeitungen mit Bundesrat Ignazio Cassis, der im Zusammenhang mit der Bedeutung oder dem Bedeutungsverlust der OSZE äusserte, man müsse einen Weg suchen, «idealerweise mit Russland, damit die OSZE ihre Aufgabe auch in der Ukraine wieder wahrnehmen kann».
Und was meint zu all dem die ukrainische Führung, an deren Spitze Wolodymyr Selenskyj? Die Mitgliedschaft in der Nato betrachtet sie als ihr Recht, weil ihre Soldaten nicht nur die Ukraine vor Putins Aggression schützen, sondern weil sie, stellvertretend, einen opferreichen Kampf um die Werte des Westens insgesamt führen würden. Nato-Generalsekretär Stoltenberg leistete diesen Argumenten bei seinem Besuch in Kiew im April Sukkurs, ging aber gleich wieder auf Distanz, indem er klar machte, dass er nicht befugt sei, einen entsprechenden Antrag beim Gipfeltreffen im Juli zu unterstützen. Und der US-Sicherheitsberater Jake Sullivan äusserte, der Antrag sollte verschoben werden.
«As long as it takes»
Unklar bleibt ausserdem, wie lange und wie intensiv einzelne Mitgliedsländer der Nato das Militär des Noch-nicht-Mitglieds Ukraine unterstützen werden. Der deutsche Verteidigungsminister Pistorius sagte vor wenigen Tagen, man werde «die Ukraine unterstützen, mit allem, was möglich ist – as long as it takes». Was heisst das? Bis zur erhofften Ermüdung der russischen Truppen in den bis jetzt noch von den russischen Einheiten besetzten Regionen – oder bis zu der, von Selenskyj vorausgesagten, Befreiung des ganzen Donbass und der Krim? Da herrscht Unklarheit. Ähnliche Unklarheit wie zur Frage, ob, wann, unter welchen Voraussetzungen eine halbwegs normale Zukunft in den internationalen Beziehungen mit Russland denkbar ist.