Wer das Theater liebt, wer es in seinen komplexen Zusammenhängen verstehen will, der kommt bei diesem Buch auf seine Rechnung. Werner Wüthrich schildert in seinem jüngsten Werk, „Die Antigone des Bertolt Brecht“, mit nicht zu übertreffender Akribie und allen nur möglichen theatralischen so gut wie untheatralischen Implikationen die Entstehung einer Aufführung, die zum wegweisenden Modell einer neuartigen Theaterkonzeption werden sollte.
Brecht hat sich mehrmals auf die Churer „Antigone“ berufen, wenn es darum ging, Konzept und Essenz dessen zu beschreiben, was er unter epischem Theater verstand und was sich, seiner Meinung nach, entschieden vom alten, illusionären Theater unterscheiden sollte.
Nach Jahren des Exils war er 1947 nach Europa zurückgekehrt, war nach Zürich gekommen, wo seine Freunde vom Schauspielhaus auf ihn warteten. Mehrere von Brechts Stücken waren am Schauspielhaus schon uraufgeführt worden, andere sollten folgen. Der Autor, weltweit bekannt, aber nicht überall anerkannt, stiess als bekennender Kommunist in der Atmosphäre des angehenden kalten Krieges beim konservativen Teil seines Schweizer Publikums auf Misstrauen. Im November 1947 traf er auf der Strasse in der Nähe seines Hotels in Zürich Hans Curjel, den er aus Berliner Zeiten kannte. Curjel, ein umtriebiger Theaterpraktiker und –theoretiker, leitete zu jener Zeit das Churer Stadttheater und ein Theatertournee-Unternehmen. In einem Interview hat er die so folgenreiche Begegnung mit Brecht geschildert: „In der Stadelhofstrasse…stand überraschenderweise Brecht vor mir…ich war vollkommen perplex. Wir verneigten uns wieder, wie wir uns immer voreinander verneigt haben. Dann sagte Brecht zu mir: "Curjel, die Zeiten sind immer noch trübe, und die Winde sind immer noch widrig.“ Brecht spielte dabei auf eine Begegnung mit Curjel kurz nach dem Reichtagsbrand 1933 in Berlin an.
Probelauf in Chur
Der geistesgegenwärtige Curjel nutzte die Gunst der Stunde und brachte Licht in Brechts „triibe Zeiten“. Er bot ihm an, die „Antigone“ des Sophokles am Churer Theater zu inszenieren. Brecht sagte sofort zu, ihm konnte nichts Besseres passieren. In Chur liess ihm Curjel völlig freie Hand; er durfte sich eine Truppe nach eigenem Gusto zusammenstellen, den unentbehrlichen Bühnenbildner und Freund Caspar Neher mitnehmen, seine Frau, Helene Weigel, mit der Hauptrolle besetzen; er konnte vor allem das antike Stück radikal nach seinen Ideen einrichten, verfremden und die Aufführung zum konkreten Beispiel dessen machen, was er unter „epischem Theater“ verstand.
Wie der gewiefte Stratege Brecht vorgeht, wie und mit wem er arbeitet, was seine offensichtlichen und seine insgeheimen Absichten sind, dass nämlich das Churer Abenteuer eine Art Probelauf für weiter reichende Pläne sein sollte, die ja dann tatsächlich in der Gründung des Berliner Ensembles realisiert werden konnten – das alles breitet Wüthrich klar und umsichtig aus. Wir schauen Brecht aus nächster Nähe zu. Aber Wüthrich vermeidet Voyeurismus und Klatsch, verschwindet als Autor hinter dem Stoff, den er sorgfältig aufbereitet. In einem fast zu trockenen Stil sammelt und sortiert er die Fakten und lässt dann, umso lebendiger, die Zeugen sprechen, die er in den konsultierten Archiven gefunden hat.
Die Aufführung floppt
Wie sich die Scheinwelt des Theaters an der realen einer Schweizer Kleinstadt reibt, wie sich die Metamorphose eines antiken Klassikers in ein modernes Antikriegsstück vollzieht, wie das Publikum reagiert, was die Presse meint und welche Folgen das Experiment für die Beteiligten hat, das alles entwickelt Wüthrich in parallel geführten Handlungen in seinem Text. Und wer es ganz genau wissen will, dem stehen Anmerkungen, Quellenverweise zur Verfügung, die das Unternehmen nach allen Seiten absichern.
Die Aufführung in Chur floppt. Vor allem die Gymnasiasten, die extra eingeladen worden sind, reagieren verständnislos und ablehnend. Begreiflich. Waren sie doch von ihren aufs tradierte Antikenbild eingeschworenen Lehrern auf etwas ganz Anderes vorbereitet worden. Des ungeachtet ist Brecht mehrheitlich zufrieden. Er hat in Chur ein Modell entwickeln, dokumentieren und testen können, das ihm für seine künftigen Projekte nützt. Am Schauspielhaus Zürich wird die Aufführung möglichst unauffällig in einer Matinee absolviert und abserviert, eine Tournee kommt nicht zustande. Aber Brecht, der, wie Wüthrich in der Einleitung zu seinem Buch schreibt, in der Schweiz der ersten Nachkriegsjahren eine für ihn geeignete „Beobachtungsstation“ sah, geeignet, die einsetzenden politischen Entwicklungen in den Nachbarländern aus nächster Nähe zu verfolgen, hatte bekommen, was er sich gewünscht hatte: ein Spielfeld, die uneingeschränkte Möglichkeit, seinen Theorien Theaterfleisch und Theaterblut angedeihen lassen zu können.
Werner Wüthrich: Die Antigone des Bertolt Brecht, Chronos Verlag Zürich, 2015, Fr. 58.-