Am 13. September ging die Frankfurter Buchmesse zu Ende. Gastland war Brasilien gewesen. Weil dieser Status jeweils bedeutet, dass sich die Autoren der betreffenden Nation mindestens eine literarische Saison lang der erhöhten Aufmerksamkeit seitens der Leser, der Medien, der gesamten Buchindustrie gewiss sein dürfen, kamen sie in Scharen nach Frankfurt – und die deutschsprachigen Verlage investierten kräftig in brasilianische Literatur. Man wünscht sich sehr, dass das durch die Messe entfachte Interesse anhalten, ja, dass es nachhaltig werden möge. Zu entdecken gibt es Romane, Kurzgeschichten, Essays einer beachtlichen Schar junger Autorinnen und Autoren. Sie haben sich von ihren berühmten Vorgängern - Euclides da Cunha, João Guimarães Rosa, Jorge Amado, Clarice Lispector und anderen – emanzipiert, suchen sich, formal und inhaltlich, ihre Vorbilder überall auf der Welt und sind deshalb unter dem Begriff „brasilianische Literatur“ kaum zu fassen.
Der Widerspruch in sich
Neugierig machen auf das moderne Brasilien kann einen paradoxerweise ein Schweizer Autor, dessen anregendes Sachbuch „Brasilien. Der Traum vom Aufstieg“ ausgerechnet die Literatur des Landes höchst stiefmütterlich behandelt. Aber das Paradox, der Widerspruch in sich, gehört zu Brasilien wie zu keiner anderen Nation. Er wird zwischen dem Amazonas, Brasilia und São Paulo sorgsam gepflegt und gelebt und will man Brasilien auch nur ein bisschen verstehen, ist es besser, sich mit dem Walten des Widerspruchs und des Widerspruchs in sich abzufinden. In Brasilien ist alles wahr und wahrhaftig – und das Gegenteil stimmt auch.
Diese und andere brasilianische Bonmots nimmt sich Ruedi Leuthold, hierzulande bekannt als Reporter für „Das Magazin“ und seit vielen Jahren in Brasilien teilansässig, zu Herzen, wenn er zu seiner Reise aufbricht, die ihn vom Norden in den Süden führt. Dass es keine relevante moderne Literatur im Lande gebe, wie er meint, entschuldigt Leuthold mit der Erklärung, dass eben Brasilien selber Literatur sei: „eine wahre Erzählung, verfasst von Millionen von Lügnern“, wie er schreibt, wobei man noch wissen muss, dass nach Leuthold und seinem Gewährsmann Mario Vargas Llosa (immerhin ein Nobelpreisträger) Literatur nichts anderes tut, als „mit Lügen eine Wahrheit zu verbreiten“. Nun, da haben wir die Widersprüche in sich gleich serienweise; sich an ihnen abzuarbeiten lohnt sich und erweist sich als vergnüglich!
Liebe muss nicht blind machen
Leuthold verhehlt nicht seine Liebe zum Land, hat auch nichts dagegen, dass es dort wunderschöne Mulattinnen, viel Sonne, Samba und Fussball gibt, aber das hindert ihn keinen Moment daran, die dunklen, die korrupten, die miserablen Seiten Brasiliens aufzuzeigen. Schönfärberei wäre das letzte, was man ihm vorwerfen könnte; seine Reportagen lesen sich als abenteuerliche, immer auch unterhaltsame Geschichten. Nonchalant springt der Autor von Thema zu Thema, mischt Grundsätzliches, Angelesenes, Zahlen, Statistiken, Fakten unter die Beschreibungen und Begegnungen, so dass man, ohne es richtig zu merken, eine schöne Menge von Informationen mitgeliefert bekommt, wenn man sich Leutholds Brasilien-Erzählung hingibt. Aus wieviel Lüge (oder sagen wie Träumen oder Fantasie), wieviel Wahrheit (aber was ist schon Wahrheit?) sie zusammengesetzt ist, diese Erzählung, braucht uns wirklich nicht zu beschäftigen. Halten wir uns lieber an die Bilder – die sind stark – und an die Plots der einzelnen Kapitel; die sind spannend und originell.
Und so lesen wir denn, dass es im märchenhaften Amazonien, einer Region der Sehnsucht, Mädchen gibt, Töchter von Fischern, denen bei der harten Arbeit im Boot das Haar in die Motorachse gerät: sie werden verunstaltet, skalpiert und machen heute auf ihr Schicksal aufmerksam, outen sich an einem Frauenkongress in Brasilia.
Ein andermal fährt das imposante Gerichtsschiff auf dem Weg in entlegene Dörfer Amazoniens an uns vorbei, damit auch an den Rändern des Landes und der Gesellschaft Recht gesprochen werde. Gängige, auch abstruse Fälle werden auf schwankendem Deck verhandelt und der Richter bemüht sich, Streitende zur Räson zu bringen.
Im imperialen Petrópolis landet der Autor, dort, wo sich die Reichsten der Reichen ihre Residenzen bauen, besichtigt Paläste und Museen und kommt dann auf den schon fast wie eine Ikone verehrten Ex-Präsidenten Lula da Silva zu sprechen, der es geschafft hat, den Armen des Landes das Träumen beizubringen und ihre Sinne so sehr zu vernebeln, dass sie sich glücklich wähnen. „Die Armen haben keinen Hunger mehr. Dafür haben sie Schulden. Und sind zufrieden.“
O Jeitinho
Es gibt einen Begriff, den zu verstehen und anzuwenden sich als hilfreich erweist, will man das Land und seine Bewohner verstehen. Er heisst „O Jeitinho“ und Leuthold definiert ihn als „die Kunst, die eigene Haut zu retten, ohne das Gesicht zu verlieren“ und als „ die brasilianische Art, einen Kompromiss zu schliessen zwischen kühnen Träumen von einer besseren Welt und den traurigen Umständen, die sie zur Hölle machen.“ In solche Wechselbäder zu tauchen, solche Spannungen auszuhalten und dabei nicht die Laune zu verlieren – das muss akzeptieren und verstehen, wer dem Land näher kommen will. Leuthold zeigt Möglichkeiten auf und spurt Wege vor, mit und auf denen Brasilien erkundet werden kann. Dass er es trotz all dem eingearbeiteten Material auf sehr persönliche Weise tut, erhöht das Lesevergnügen.
Ruedi Leuthold: Brasilien. Der Traum vom Aufstieg, Verlag Nagel & Kimche