Sehr rasch nachdem er durch ein zweifelhaftes Plebiszit die angestrebten schrankenlosen Vollmachten erhalten hatte, befahl Präsident Erdogan Angriffe, durch die er seine Konfrontation mit den Kurden entscheidend verschärft. Die türkische Luftwaffe bombardierte am 25. April nachts um 2 Uhr Lokalzeit das Hauptquartier der kurdischen YPG in der syrischen Provinz Hassakeh. Die Region nahe der türkischen Grenze in den Karachok-Bergen wird von syrischen Kurden beherrscht.
Bomben auch auf irakisches Territorium
Gleichzeitig flog die türkische Luftwaffe auch im irakischen Territorium Angriffe. Die getroffene Stadt Sinjar war einst Hauptstadt der Jesiden, bevor diese im Sommer 2014 vom IS angegriffen und teilweise ermordet, teilweise versklavt und teilweise auf der Flucht weithin verstreut wurden. Sinjar wurde Ende 2015 von den irakischen Kurden mit Unterstützung durch die Luftwaffe der amerikanischen Koalition zurückerobert.
Auch die türkischen Kurden der PKK spielten in Sinjar eine Rolle, sowohl bei der Bergung der Flüchtlinge aus der Stadt im Sommer 2014 wie auch bei der Rückeroberung anderthalb Jahre später. Die PKK-Kämpfer nützten ihre Präsenz in Sinjar aus, um unter den überlebenden Jesiden und deren nicht-jesidischen Nachbarn lokale Milizen zu bilden, die bereit waren, gegen den IS zu kämpfen. Sie sorgten für die Ausbildung und Bewaffnung dieser Leute, die den Namen „Sinjar-Verteidigungseinheiten“ erhielten. Diese Milizen gelten den Türken als ein versteckter Arm der PKK.
Das Gleiche gilt bekanntlich von den syrischen Kurdenmilizen der YPG. Auch diese wurden ursprünglich mit Hilfe und Beratung durch die PKK-Kämpfer und -Aktivisten aufgestellt, und sie gelten daher den Türken als kaschierte PKK-Einheiten. Während die von der PKK geförderten Sinjar-Milizen (auf irakischem Staatsgebiet) nur eine kleinere und erst im Aufbau begriffene Streitmacht sind, haben die Milizen der YPG (auf syrischem Staatsgebiet) als eine aktive und selbstständige, kampferfahrene Truppe zu gelten, die sich ihre eigenen Ziele setzt und ihre eigenen Einsätze bestimmt.
Angriffsziele als „Terrorschwerpunkte“ bezeichnet
Gegen beide ging nun die Luftwaffe der Türkei vor. Sie bezeichnete ihre Ziele als „Terrorschwerpunkte“, welche sie zerschlagen habe. Im Falle der YPG gibt es eine Gegendarstellung der angegriffenen Miliz. Diese bestätigt, ihr Hauptquartier sei getroffen worden. 20 „Märtyrer“ seien zu beklagen und 18 Verwundete. In dem Hauptquartier seien ein Medienzentrum, eine lokale Radiostation, Kommunikationseinrichtungen und militärische Anlagen zerstört worden.
Der YPG-Sprecher nannte das Geschehen einen „verräterischen Angriff“, und er unterliess es nicht zu unterstreichen, dass der türkische Luftangriff einer Unterstützung für den IS gleichkomme, weil ja die YPG zurzeit im Kampf gegen den IS stünden, indem sie an der Offensive teilnähmen, welche die SDF (Syrischen Demokratischen Kräfte) zur Zeit mit Unterstützung der Amerikaner gegen Rakka vorantreiben.
Die SDF sind aus arabischen Freiwilligen und kurdischen YPG-Einheiten zusammengesetzt. Dabei dürften die kurdischen YPG aller Wahrscheinlichkeit nach die führende Rolle spielen, weil sie über die erfahrenen Kämpfer verfügen, welche die jüngeren arabischen Milizen heranzuziehen und auszubilden halfen. Für die Türkei sind sie alle – PKK, Sinjar-Milizen, syrisch-kurdische YPG und SDF – in einen Topf mit der „terroristischen“ PKK zu werfen, mit der die türkischen Streitkräfte im Krieg stehen.
USA mit angeblichen Terroristen verbündet
Doch für die Amerikaner ist dies ganz anders. Für sie ist zwar die PKK seit alter Zeit (als sie in den 80er- und 90er-Jahren noch eine „maoistische“ Ideologie aufwies) eine terroristische Organisation. Aber die YPG und deren Tochter, die SDF, sind enge und gewichtige Verbündete der Amerikaner im Krieg gegen den IS. Sie bilden das Fussvolk, das die gegenwärtige Offensive gegen Rakka, die syrische Hauptstadt des IS, recht eigentlich trägt. Die amerikanische Koalition der westlichen Luftwaffen sowie amerikanische Sondertruppen am Boden unterstützen sie.
Am Tag der türkischen Luftangriffe gegen die YPG und die Sinjar-Milizen meldeten die SDF-Sprecher, ihre Offensive sei in die Stadt Tabqa eingedrungen. Diese liegt am Euphrat-Staudamm und hat als eine Art Vorfestung von Rakka zu gelten. Innerhalb der Stadt und rund um den Staudamm dürften sich zur Zeit Gefechte abspielen, bei denen es darum geht, den IS in Rakka seiner letzten Vorposten zu berauben. Von amerikanischen Sondertruppen bediente Artillerie ist an diesen Kämpfen beteiligt.
Der türkische Luftangriff erfolgte, nachdem der neue amerikanische Pentagon-Chef und der neue Aussenminister Ankara besucht hatten. Sie hatten dort klargestellt, dass auch die Trump-Verwaltung an dem Bündnis mit den syrisch-kurdischen YPG festhalte, weil diese die wirksamste Bodenstreitmacht gegen den IS bilden. Sie haben in Ankara offenbar die letzten Hoffnungen beseitigt, dass möglicherweise die Trump-Administration, anders als die Obamas, zu einem Kurswechsel überredet werden könnte: nämlich die Kurden fallen zu lassen und sich an ihrer Statt auf die türkischen Streitkräfte zu stützen, um zusammen mit diesen den Kampf gegen den IS zu führen. Erdogan zog offensichtlich aus der Ablehnung seines Angebotes die Konsequenz: Er ging gegen die PKK und ihre Töchter vor, ohne darauf Rücksicht zu nehmen, dass die Tochter-Organisationen Freunde der USA sind.
Washington protestiert vorsichtig
Das State Departement hat auf den türkischen Schritt reagiert, indem es sich „zutiefst beunruhigt“ zeigte. Das ist in der Diplomatensprache etwas weniger, als eine Massnahme als „unannehmbar“ zu bezeichnen. Das Pentagon war etwas burschikoser und erklärte: „Wir mögen es nicht, wenn sich unsere Freunde gegenseitig bekämpfen!“ An Ort und Stelle haben die Amerikaner klargemacht, dass sie weiter zu ihren Verbündeten, den syrischen Kurden der YPG stehen. Demonstrativ entsandten sie amerikanische Offiziere, um die entstandenen Schäden gemeinsam mit den YPG-Offizieren zu inspizieren und sich dabei auch photographieren zu lassen, um das Bündnis zu dokumentieren.
Ob der Vorfall noch weitere Folgen für das amerikanisch-türkische Verhältnis haben wird, bleibt abzuwarten. Viel wird natürlich davon abhängen, ob die türkische Luftwaffe es bei diesem einen Angriff bewenden lässt oder ob sie noch weitere fliegt. Erwarten kann man, dass Ankara seine Feindschaft gegen die YPG nicht aufgeben wird. Doch vielleicht wird die Türkei auch versuchen, die Gegensätze mit den USA nicht auf die Spitze zu treiben, indem sie Pausen zwischen ihre Luftschläge legt.
Die USA werden es ähnlich halten, indem sie einerseits ihre Unzufriedenheit öffentlich äussern und möglicherweise in den Kulissen noch schärfer betonen, andererseits jedoch dafür sorgen, dass es nicht zu einem Bruch mit dem wichtigen Nato-Partner am Bosporus kommt. Beide Seiten werden die Vieldeutigkeit kultivieren, die ja ohnehin ein Markenzeichen der Trump-Ära zu werden verspricht.
Kurdischer Machtkampf um Sinjar
Noch vieldeutiger ist das Bild auf der irakischen Seite der Grenze. In Sinjar sind neben der PKK und der von ihr geförderten lokalen Milizen auch Peschmerga präsent, also die irakisch-kurdischen Kämpfer, welche die Streitkräfte des autonomen irakischen Kurdistan bilden. Sie haben Sinjar, genauer: die Ruinen der jesidischen Hauptstadt, vom IS zurückerobert.
Nach den türkischen Luftangriffen im Gebiet von Sinjar, das zum irakischen Staatsgebiet gehört, hat sich Bagdad über den illegalen und unkoordinierten Übergriff auf sein Staatsterritorium beschwert. Die Beziehungen zwischen Bagdad und Ankara sind ohnehin dadurch belastet, dass türkische Armee-Einheiten nordöstlich von Mosul auf irakischem Staatsgebiet stehen und von dort nicht weichen wollen, obgleich Bagdad dies mehrmals gefordert hat.
Auch die Lokalregierung von irakisch Kurdistan in Erbil hat sich über den Angriff beschwert. Er habe, so hiess es, auch fünf Peschmerga das Leben gekostet. Doch im Gegensatz zu Bagdad sind die Beziehungen zwischen der Türkei und Erbil gut. Die beiden Nachbarn, irakisch Kurdistan und die Türkei, haben viele gemeinsame Interessen wirtschaftlicher und politischer Natur. Deshalb beschwerte sich Erbil zwar über den Übergriff, war jedoch bereit anzunehmen, es habe sich bei der Tötung der Peschmerga-Kämpfer um einen Irrtum gehandelt. Erbil schob der Anwesenheit des Rivalen PKK in Sinjar die Hauptverantwortung für das Geschehen zu. Die PKK-Kämpfer, so sagten die irakischen Peschmerga, sollten Sinjar verlassen.
Die Jesiden sprechen einen kurdischen Dialekt und gehören deshalb zu den Kurden. Ob sie in Zukunft mit der PKK zusammenarbeiten oder mit den Peschmerga, darum dreht sich die Konkurrenz zwischen den beiden. Die Rivalität hatte in der jüngsten Vergangenheit mehrmals zu kleineren Zusammenstössen zwischen PKK-Gefolgsleuten und den Peschmerga geführt. Am 3. März dieses Jahres hatten sich die beiden Milizen in der Sinjar-Provinz sogar eine eigentliche Schlacht geliefert.
Ankara: kein zweites Refugium für die PKK!
Was Ankara angeht, so hat Erdogan erklärt, sein Land werde dafür sorgen, dass in Sinjar nicht ein zweiter Qandil-Berg entstehe. Die Qandil-Berge an der Grenze zwischen der Türkei und dem Irak bilden seit vielen Jahren ein Asyl für die PKK. Seit Jahren wird es immer wieder von der Türkei bombardiert. Die Behörden des autonomen irakischen Kurdistans in Erbil sind eigentlich für die Qandil-Berge zuständig. Doch es besteht seit vielen Jahren, schon lange vor der amerikanischen Invasion des Iraks von 2003, eine stillschweigende Konvention, nach welcher in den Asylgebieten die PKK-Leute sich selbst organisieren und auch die Unterstützung der lokalen Bergbevölkerung erhalten, während Bagdad und Erbil sie ignorieren.